Gottes Behutsamkeit

16. Sonntag A: Mt 13,24-35 (43)

I
Die Gebrüder Grimm haben uns das Märchen von der Kröte überliefert: Eine Mutter fütterte ihr kleines Kind auf dem Schoß mit Milchbrei und Brot. Dann sagte sie zu ihm: Geh spielen! Und gab ihm das Näpfchen mit, Reste darin vom Essen. Das Kind lief in den Garten, den eine alte Mauer umgab. Dort in den Ritzen wohnte eine Unke. Das Kind rief: Unke, Unke, komm geschwind, komm herbei, du liebes Ding, sollst dein Bröcklein haben, an der Milch dich laben! – Die Unke kam, fraß von den Resten und brachte dem Kind zum Dank dafür bunte Perlen und eine kleine goldene Kugel zum Spielen. Das Kind fütterte das Tier liebevoll, so wie es das selbst auf dem Schoß der Mutter erfuhr.

Eines Tages hatte es die Mutter eiliger mit dem Morgenessen als sonst. Das Kind auf dem Schoß aß ihr zu langsam, darum schlug sie ihm mit dem Löffelchen auf den Kopf und sagte dabei – lauter als gewohnt: Iß große Brocken, du! Danach ging das Kind wieder in den Garten. Wieder kam die Unke und fraß aus dem Napf. Das Kind wiederholte, was es gerade selbst erlebt hatte, schlug das Tier leise mit dem Löffelchen auf den Kopf und sagte – lauter als sonst: Iß größerer Brocken, du! Das hörte drinnen die Mutter, sie schaute hinaus, sah die Kröte beim Kind, eilte zum Herd, holte ein glühendes Holzscheit und schlug die ihr hässlich dünkende Kröte tot.

Und von Stund an ging eine Veränderung mit dem Kind vor. Es war, solange die Kröte mit ihm gegessen hatte, groß und stark geworden, jetzt aber verlor es seine roten Backen und magerte ab. Nicht lange, so fing in der Nacht der Totenvogel zu schreien an. Das Rotkelchen sammelte Zweiglein und Blätter zu einem Totenkranz. Und bald danach lag das Kind auf der Bahre.

II
Seltsam, was dieses Märchen ahnend umkreist. Behauptet es doch, Ungeduld ziehe auf verborgene Weise Tod nach sich. Zuerst gebiert sie Gewalt, die Ungeduld: die Mutter schlägt mit dem Löffel das Kind auf den Kopf, das Kind tut desgleichen mit der Kröte. Und was mit dem Nicht-warten-mögen begann, schlägt um in die Verachtung – und das heißt zutiefst immer: die Vernichtung des Unansehnlichen, dessen, was nichts hermacht und nicht glänzt, eher ein bisschen hässlich scheint – der Kröte. Dort aber, wo man das Unscheinbare nicht mehr achtet und ihm nicht mehr traut, verliert das Leben als Ganzes seinen Grund, sagt das Märchen mit seinem traurigen Ende. Wer solchen alten Geschichten auch nur einen Funken Wahrheit zutraut, dem wird zumal uns Stressgeplagten und Effizienzbesessenen dieses Märchen vom Unglück der Ungeduld nachgehen.

III
Muss es uns dann aber nicht zutiefst treffen, Jesus selbst von diesem unheimlichen Zusammenhang zwischen Ungeduld und Tod und auch vom Unglück der Missachtung des Unansehnlichen im heutigen Evangelium reden zu hören? Mit Haut und Haaren hatte sich Jesus einer einzigen Aufgabe verschrieben: den baldigen Anbruch des Reiches Gottes zu verkünden, also die Menschen einzuladen zu einem gratis geschenkten Neuanfang des ganzen Daseins, der darin besteht, dass sie sich mit Gott wieder versöhnen lassen, dass sie zurückkehren zu ihm, ihm neu zu trauen beginnen als dem verlässlichen Grund ihres Daseins. Und mit den Gottesreich-Gleichnissen, die uns Matthäus in der Seepredigt Jesu überliefert hat, führt uns der Herr gleichsam in die Innenwelt dieses unerhört Neuen ein, das er zu verkünden hat.

Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Mann, der guten Samen auf seinen Acker säte. Der Bauer hat alles daran getan, was in seiner Sorge stand, er hatte gute Samenkörner ausgewählt und den Acker bestellt. Zu seiner Überraschung aber wuchert in rauen Mengen das Unkraut zwischen den aufgehenden Saatkörnern, dass man anfangs kaum das eine vom anderen unterscheiden kann. Seine Knechte plädieren dafür, sofort einzugreifen, bevor das nutzlose Zeug noch länger den Boden auslaugt und dem Korn den Platz raubt. Doch der Bauer: Wohl nimmt er wahr, dass da einer gegen ihn gearbeitet hat. Aber das Ansinnen seiner Knechte: Sollen wir gehen und das Unkraut ausreißen? – weist er zurück. Habt Geduld bis ans Ende! Mit eurer Säuberungsaktion würdet ihr viel zu viel guten Weizen mitvernichten. Sind doch die Wurzeln von Weizen und Unkraut ineinander verwoben und verschlungen, so sehr, dass man sie nicht mehr auseinanderhalten kann. So ist es mit dem Himmelreich, sagt Jesus. So ist Gott zu dir: Er verlangt von dir nicht, dass du vollkommen bist von Anfang an, er fordert nicht einfach alles oder nichts, wenn du zu ihm gehören willst. Natürlich sieht er das Böse, er wird es auch verbrennen einmal am Ende im reinigenden Feuer seiner bestürzenden Liebe. Aber: nichts soll ausgerissen werden mit Stumpf und Stiel in der Zeit des Wachstums, weil so viel Gutes dabei mit verlorenginge. Reich Gottes, das ist, dass Gott mit uns Geduld hat, dass er in zärtlicher Behutsamkeit auf uns schaut, ja kein guter Halm an uns möge geknickt werden. Kann man diesem Gott nicht getrost trauen? Nicht ihn verharmlosen, nein: er ist der Richter über gut und bös am Tag des Endes. Aber kann ich nicht trotzdem mit allen dunklen Schatten – so, wie ich eben bin – zu ihm kommen; zu ihm, der um die Schwäche meines guten Willens weiß, der meine unverbesserlichen Süchte und Zwänge kennt – kann ich nicht trotzdem zu ihm kommen voller Hoffnung, weil er so ist, wie er ist – so geduldig mit mir? Wo einer das wagt, fängt das Gottesreich an, seinen Einbruch vorzubereiten.

Selbstredend ist Gottes Geduld mit uns, die Jesus zu Herzen gehend predigt, auch unverrückbarer Maßstab für alles, was die Kirche tut, die sich diesem Gott verdankt glaubt. Anscheinend hat sie diesen Maßstab oft vergessen – nicht nur in den schrecklichen Exzessen der Hexenprozesse und Ketzerverbrennungen. Und auch heute noch vergisst sie ihn immer wieder, wenn sie – auf welcher Ebene auch immer – mit Denk- und Redeverboten und Exkommunikationen kurzen Prozess mit einem macht zugunsten sogenannter klarer Verhältnisse. Wie viel Lebenskraft geht der Kirche verloren, wie viel Tod macht sich breit in ihr, weil sie so oft mit der Harke bei der Hand ist, um Weizen vom Unkraut zu trennen. Geschiedene, die wieder in Ehe leben, verheiratete Priester, Junge, die nicht mehr klarkommen mit Dogmen und Morallehren, deren Sprache sie nicht mehr erreicht in ihrer Welt! Nicht, dass die alle von vornherein recht hätten und recht täten – aber wem stünde das Urteil zu, alle, die sich schwertun oder aus persönlichen Gründen in Konflikt geraten mit Geboten und Gesetzen, seien Unkraut, und die andern, die Braven, die Ja-sager der Weizen? Wenn sich die gütigen Züge der Geduld Gottes über das Reich Gottes breiten, um wie viel mehr müssten sie dann erst das Gesicht der Kirche prägen, die nicht das Reich Gottes ist, sondern diesem zu dienen hat – und nur dies?

Übrigens: Was für die Kirche im Ganzen gilt, darf sich auch jeder Einzelne von uns für sich gesagt sein lassen: Wie viel Gutes, wie viel Gewachsenes zerstören wir immer wieder auch an uns selbst, weil es uns nicht schnell genug geht mit dem Vorwärtskommen, im Menschlichen vor allem – und auch darin, wie wir stehen vor Gott. Im Gewaltakt möchten wir Menschen vollkommen werden als Ehepartner, als Eltern, als Freunde, als Priester – und verwüsten die Saatfelder unserer Seelen dabei. Auch mit uns selbst dürfen wir Geduld haben, wenn schon Gott mit uns so geduldig ist.

Woher diese zerstörerische Ungeduld im Letzten kommt, das deuten uns das zweite und dritte Gleichnis des heutigen Evangeliums an: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn, das ein Mann auf seinen Acker säte. Es ist das kleinste von allen Samenkörnern; sobald es aber hochgewachsen ist, ist es größer als all die anderen Gewächse und wird zu einem Baum… Und: mit dem Himmelreich ist es wie mit dem Sauerteig, den eine Frau unter drei Sea Mehl mischte, bis das Ganze durchsäuert war. Jesus greift geradezu zum Mittel der phantastischen Übertreibung – ein Mann sät ein einziges Samenkorn aus und dieses winzige gerade noch mit menschlichem Auge wahrnehmbare Senfkorn, das gewöhnlich große Stauden hervortreibt, wächst sich zum Baum aus; und eine Handvoll Sauerteig lässt er drei Sea, also knapp einen halben Zentner Mehl durchsäuern, was Brot für gut 100 Leute ergäbe –, zu diesen Übertreibungen greift Jesus, um bis zum äußersten zuzuspitzen, worauf er einzig unseren Blick ziehen möchte: den immer wieder frappierenden Kontrast zwischen der Unansehnlichkeit des Anfangs und dem, was am Ende dann aus diesem Anfang geworden sein wird.

So ist es mit dem Himmelreich: Die paar Fischer und einfachen Leute aus Galiläa werden mit mir zusammen den neuen, endgültigen Einsatz Gottes für die Befreiung seiner Geschöpfe aus der selbstverschuldeten Knebelung durch die Folgen der Sünde sein Ziel erreichen lassen – das sagen die Gleichnisse an die Adresse der Frommen damals, die nicht zulassen wollten, dass Gott ganz anders handelt, als sie sich auszudenken belieben. Und uns rufen diese Gleichnisse zu: überseht doch nicht die kleinen, unscheinbaren Vorzeichen des Gottesreiches, die sich beständig an euch und rings um euch ereignen: Dass sich ein Dutzend Frauen und Männer einer Gemeinde über Jahre regelmäßig treffen, um Gottes Wort zu lesen und zu verstehen; dass andere keine Angst haben, sich mit Tabuthemen den Mund zu verbrennen und wegen ihres Glaubens auch im Politischen kritisch Stellung zu nehmen, wenn es sein muss; dass sich 18- und 20jährige an Wochenenden stundenlang zusammensetzen, um im gemeinsamen Studium Einsicht in ihren Glauben zu gewinnen; dass andere ihre ganze Phantasie und nicht selten ihr Hab und Gut aufbieten, dass es Alten und Kranken nicht an menschlicher Zuwendung fehlt und dass zu kurz Gekommenen wenigstens das Lebensnotwendige zur Verfügung steht; das sind Senfkorn und Sauerteig. Wir brauchen doch jetzt auch noch gar nicht zu wissen, was bei all dem am Ende herauskommen wird. Jetzt und hier die Aufbrüche nicht übersehen, sie hegen und nähren, das ist wichtig und behütet davor, das Unkraut zum Thema Nr. 1 zu machen. All diese Aufbrüche übersehen dagegen, das schürt Resignation und reizt zur Ungeduld, die mit ihrem Alles-oder-Nichts-Fanatismus das Lebendige totschlägt, Gott aber achtet und bejaht alles Lebendige an uns, und sei es noch so unansehnlich. Denn er weiß, dass gerade manchmal das Kleine, Unnütze, dem ungeduldigen Blick sogar gefährlichen Scheinende kostbare Perlen einträgt, wenn man es hütet und schätzt – wie die Kröte im Märchen. Gott hat auch unsere Kröten lieb. Das ist Himmelreich.

IV
Verstehen Sie, warum der Grund unseres Glaubens Evangelium heißt? – Frohe Botschaft? Werden Sie Ja-Sagen zu dieser Botschaft? Dann tun Sie es; indem Sie in einer stillen Minute gleich hernach oder später – Ihr Leben, wie es so verläuft, ein wenig überschauen und ihre ganze Aufmerksamkeit einmal den kleinen Einbrüchen des Himmelreiches widmen, die man so gern übersieht. Wenn Sie auch nur ein einziges Senfkorn fänden und ihm zutrauen, ein Baum zu werden – die Gleichnisse hätten erwirkt, wozu der Herr sie uns geschenkt hat.