Ernst

21. So C: Lk 13,22-30


I
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs damals kamen ein paar seltsame Dinge zutage, die niemand hinter der Teilung Deutschlands vermutet hatte. Zum Sonderbarsten gehörte, dass sich einige schon lang gesuchte Naziverbrecher in der DDR verbargen und verbergen konnten. Unter ihnen war auch einer, dem man 54 Morde vor allem an Frauen und Kindern zur Last legte, die er als KZ-Aufseher begangen hatte. Über Jahrzehnte war er braver Ehemann und Großvater gewesen, war nie aufgefallen, hatte seine Pflichten getan. Nun entdeckte man ihn, und er wurde eingesperrt.

II
Ein Journalist interessierte sich für den Fall und besuchte den Mann kurz nach der Inhaftierung. Der Mann war völlig gefasst, verriet keinerlei Erregung, und sagte glatt heraus: Er habe sich nichts vorzuwerfen. Er habe sich damals genau an das gehalten, was man ihm befohlen habe. Und also könne er doch nicht im Unrecht gewesen sein.

Ein paar Monate später besuchte ihn der Journalist erneut. Mittlerweile war Verhandlung gewesen. Eine mehrjährige Haftstrafe war ausgesprochen worden. Der Journalist fand den Mann völlig verwandelt wieder. Kaum hatten sie miteinander zu sprechen begonnen, brach der Inhaftierte in Tränen aus. Dem Besucher erklärte er: Ich fange auf einmal an zu merken: Das war schlimm, was ich damals gemacht habe.

III
Erst Haft und Gericht, das Herausgerissenwerden aus dem täglichen Gang der Dinge, hatten den Mann etwas von dem zu ahnen gelehrt, was er auf sich geladen hatte. Ich möchte dazusagen: Als ich davon las, war mir nicht fremd, dass es so etwas geben kann. Mehrfach haben mir Leute damals in meiner Zeit als Gefängnispfarrer ganz Ähnliches erzählt: Dass sie durch das, was sie zunächst total bekämpften und was sie so günstig wie möglich hinter sich zu bringen trachteten – die Untersuchungshaft, den Prozess und dann die Strafe –, dass sie das auf dramatische Weise aufmerksam gemacht hat, dass etwas völlig falsch gelaufen war und dass es auf keinen Fall später so weitergehen könne.

IV
Ich würde von diesen Dingen an sich gar nichts erzählen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass sie auch etwas mit unserem Glauben zu tun haben, speziell mit dem Evangelium von heute, und zwar etwas ganz Wichtiges.

Es gibt heute nicht wenige Christen, auch Prediger, die gehen solchen Stellen in der Bibel wie der, die wir gerade gehört haben, aus dem Weg. Evangelium, so sagen sie, heißt doch Frohbotschaft und nicht Drohbotschaft. Völlig richtig! Und ohne Zweifel hat man das zu bestimmten Zeiten in der Geschichte der Kirchen auf fatale Weisen vergessen.

Und trotzdem haben wir das, was Jesus im heutigen Evangelium sagt, genauso ernstzunehmen, wie das, was wir gern hören, die Geschichten und Gleichnisse von der Liebe und von der Vergebung Gottes z. B., vom barmherzigen Vater und vom verlorenen Schaf. Wir müssen das aus genau dem gleichen Grund, aus dem für den Mann, von dem ich eingangs erzählte, Haft und Gericht wichtig wurden.

Auf die Frage, wie viele denn gerettet würden und ob es etwa nur wenige seien, antwortet Jesus nicht beschwichtigend. Genauso wenig droht er. Aber er macht eindringlich klar, dass es keine Nebensächlichkeit, kein Kinderspiel ist, mit dem eigenen Leben vor Gott bestehen zu können. Darum der dringliche Rat, dass wir uns mit allen Kräften bemühen, durch die enge Tür, also ins Reich Gottes zu gelangen. Zu sagen: Wir haben doch mit dir gegessen und getrunken, also für heute formuliert: Wir waren doch dabei, waren in der Messe, haben gelegentlich gebetet, nur ein paar Notlügen gebraucht und sind sonst bis auf diesen oder jenen Ausrutscher anständige Menschen gewesen, – das reicht nicht. Vieles davon können andere, die vom Reich Gottes nichts wissen wollen, von sich genauso und manchmal mit mehr Recht behaupten.

Es wird keine Übertreibung sein, wenn ich meine: Erst dadurch, dass uns die Möglichkeit vor Augen tritt, dass wir vor Gott mit dem, was wir tun und lassen, nicht bestehen, beginnt in uns das nötige Gespür dafür zu erwachen, was zählt und was eben nicht geht. Wir sind ja von Natur Meister darin, uns etwas vorzumachen. Selbst vor Gott noch. Gerade so, wie es Heinrich Heine einmal zynisch formulierte: Gott wird mir schon vergeben, das ist ja sein Geschäft!

V
Genau davor warnt uns das heutige Evangelium. Es tut das – ich sage es noch einmal – nicht, um uns zu drohen und Angst zu machen. Es tut das, um uns aufzurütteln aus jener Selbstverständlichkeit, mit der wir allzu schnell das erledigt zu haben meinen, was zwischen uns und Gott von Belang ist. Jesu Gerichtsworte sind darum ein Dienst, der für uns so wichtig ist, wie die Botschaft von der voraussetzungslosen Barmherzigkeit Gottes.

Mit einer gewissen Verwegenheit möchte ich behaupten: Jesus hat alles andere lieber getan, als so zu sprechen wie in diesem Evangelium. Aber er wusste, dass er so sprechen musste, wenn das, was er über Gottes Barmherzigkeit zu sagen hatte, nicht sinnlos werden sollte. Erst wer wenigstens ahnt, wie wenig er vor Gott Grund hat, selbstzufrieden zu sein, – erst der oder die kann auch spüren, was es bedeutet, zu ebendiesem Gott trotzdem „Vater“ sagen zu dürfen, weil der einen nicht einmal in der ärgsten Schuld fallen lässt, wo immer sich in einer Seele nur ein Funken Reue rührt. Darum sind auch noch die ernsten und die ernstesten Worte Jesu frohe Botschaft.