Doppelte Kirchengeschichte
2. Ostersonntag C: Apg pass. + Offb 2-3 pass.
I
Die Schriftlesungen an den Sonn- und Feiertagen haben immer ihre ganze eigene Logik. Am einfachsten erkennbar ist das daran, dass in der Regel die erste, meist aus dem Alten Testament stammende Lesung auf das Evangelium abgestimmt ist – oder jedenfalls den Anschein erwecken möchte. Es gibt aber noch ganz andere Logiken, etwa dergestalt, dass sämtliche alttestamentlichen Lesungen an den fünf Fastensonntagen quasi horizontal genommen ein einziges Thema intonieren, nämlich den Exodus, das Ur- und Leitthema der jüdischen Tradition, die auch die Mitte der christlichen Osternacht bildet. Denn der Auszug aus dem Sklavenhaus Ägyptens wird da gelesen als das Drehbuch jenes Dramas, das jeder Mensch durchlebt, der es wagt, hin und hergerissen zwischen Angst und Gottvertrauen, sich die eigene Freiheit zu erringen, das Freikommen aus allem, was ihn seelisch, geistig, manchmal auch schlicht materiell zu versklaven droht.
II
Und jetzt, von heute an bis zum siebten Ostersonntag, dem letzten vor Pfingsten, begegnet uns wieder eine solche horizontale Logik der Schriftlesung – und zwar gleich doppelt: Alle ersten Lesungen sind genommen aus der Apostelgeschichte. Und die zweiten Lesungen stammen parallel dazu aus dem letzten Buch des Neuen Testaments, der Offenbarung des Johannes. Und beide Bahnlesungen haben ein und dasselbe Thema: die Kirche.
Die Apostelgeschichte, wie sie wohl der Evangelist Lukas niedergeschrieben hat, erzählt vom Leben der jungen Kirche. Wie sich Frauen und Männer nach Ostern im Glauben an den Auferstandenen zusammenfinden; wie sie mutig nicht nur jüdischen Glaubensgeschwistern das Evangelium verkünden, sondern auch den Nicht-Juden, also den Heiden; wie sie Hab und Gut teilen, der berühmte urchristliche Kommunismus; wie sie erste Konflikte schlichten im berühmten Apostelkonzil, die sich vor allem an dem schrägen Seiteneinsteiger Paulus entzünden, der die jüdischen Traditionen sprengt und so die kleine jüdische Reformsekte der Jesus-Leute auf den Weg zur Weltkirche katapultiert. Unübersehbar freilich wird dabei ganz vieles idealisiert – „Seht, wie sie einander lieben“ etc., Apg 4,32 –, gerade so, wie das bis heute jede andere Vergemeinschaftung von Menschen in ihrer Selbstdarstellung auch tut.
III
Aber neben dieser harmonistischen Apostelgeschichte haben wir eben auch die Offenbarung des Johannes, die Apokalypse. Das ist ein Buch, geschrieben in der Zeit höchster Bedrängnis durch kaiserliche Christenverfolgung, ein Buch voller Notschrei und manchmal auch Gewalt- und Rachephantasien, die die schiere Todesangst aus den Gläubigen aus der Seele presst. Und auch Zeugnis, wie diese Situation Gemeinden schier zerreißen kann.
In den ersten beiden Kapiteln der Apokalypse stehen sieben Sendschreiben an damals wirklich existierende Gemeinden in Kleinasien. Den Anfang haben wir vorhin gehört. Die sieben goldenen Leuchter symbolisieren die sieben Gemeinden. Und der österliche Herr spricht durch den Seher Johannes zu den Gemeindeleitern und stellt ihnen unzweideutig vor Augen, wo sich die Gemeinden bewähren, wo sie schwach sind, wo sie sich verfehlen. Und bis heute überliefert sind uns diese Sendschreiben, weil sie die Kirche als bleibenden Gewissensspiegel für sich selbst empfunden hat.
IV
Versuchen wir deshalb jetzt einmal all die Urteile, die Mahnungen, die Fragen und auch das Lob aus diesen biblischen Sendschreiben so zu lesen, als wären sie an uns hier gerichtet. Aus dieser biblischen Gewissenserforschung heraus, aus dieser Perspektive könnte eine Gemeinde versuchen, im Geist der Apokalypse und des erhöhten Herrn ein Sendschreiben an sich selbst zu verfassen, in dem das, was Anlass und zu Kritik und Sorge gibt ausgesprochen wird, aber genauso das, was sie froh macht. In dem Sendschreiben könnte etwa Folgendes stehen:
So spricht der, von dem Du herkommst, der Deine Mitte und Dein Ziel ist: Ich weiß, dass Du in Vielem verlässlich bist, furchtlos und treu. Zu Dir gehören nicht wenige, die ohne große Worte durch ihr Gebet, ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und auch schlicht durch ihre Freigebigkeit in den vielen Anliegen der Gemeinde wie der Kirche im großen Zeugnis ablegen für mich. Sie brechen für die Freiheit des Denkens und Redens eine Lanze und freuen sich, an diesem Ort eine geistliche Heimat gefunden zu haben. Öfter als man von außen vielleicht sieht, gibst Du meinem Geist Raum, dass er wirken kann.
Aber ich muss Dir auch sagen, dass in manchen Belangen bei Dir an die Stelle der Begeisterung die Routine getreten ist, an die Stelle von Entschiedenheit ein laues „Ja, aber". Denk' nur an manche Stunde, da Glaubensgeschwister, die sich der Gemeinde tief verbunden fühlen, wie selbstverständlich private oder familiäre Begebnisse dem Gottesdienst wie selbstverständlich vorziehen. Natürlich: Immer gibt es tausend und einen Grund, so zu handeln. Und manchmal wird das auch richtig und nötig sein. Aber das Fragen, das Suchen, ja einfach auch das Lernen (Du bist nicht zu alt dafür!) – das alles ist Dir manchmal viel weniger wichtig als gemütliche Stunden. Und wäre es nicht ein Glaubenszeugnis ganz eigener Dignität, wenn Du Deinen Familienangehörigen, die nichts oder nichts mehr mit Glauben am Hut haben, höflich sagtest, Du würdest gern – sagen wir: die Osternacht – mitfeiern, um danach umso präsenter und fröhlicher die familiäre Feier zu begehen?
Ja, was die Begeisterung betrifft und die Routine – denk besonders auch an Deine Gottesdienste! Sie sind immer die unbestechliche Visitenkarte einer Gemeinde! Du bist nicht kalt, gewiss nicht. Aber bist Du heiß? Weder das eine noch das andere zu sein – das Laue – ist vielleicht das Gefährlichste. Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich an meine Schafe in einem anderem Stall, in dem der Moscheen denke: Mitten am Tage, sei es noch so glutheiß, kommen die Menschen zum Freitagsgottesdienst, Ellbogen an Ellbogen, stehen sie bis in die Vorhallen der Moscheen und meist noch auf die Straßen hinaus, legen aus Ehrfurcht ihre Schuhe ab, hören nach dem Ruf des Muezzin eine dreiviertel stundenlange Predigt, folgen in Gesten des Niederwerfens und der Demut dem Gebet des Imam, hören eine zweite Predigt, beten nochmals, um dann wieder ihrem Alltag nachzugehen. Und zu jeder Tageszeit sitzen Menschen in den Moscheen vor Lesepulten und rezitieren halblaut den Kor’an, der ja auch mein Wort ist, manchmal genauso beglückend klar, manchmal genauso verstörend rätselhaft wie das Dir vertraute Wort der Bibel, an das Du Dich halt schon lange gewöhnt hast auch dort, wo es Dich eigentlich aufwühlen müsste.
Und bei Dir? Manchmal sehe ich einige aus Deiner Mitte, die leger, mit übereinander geschlagenen Beinen darauf warten, was denn der Zelebrant heute bieten wird – und ob seine Predigt ihren intellektuellen Ansprüchen genügen kann. Aber darum geht es doch gar nicht (auch wenn jeder Prediger bis ins Mark verpflichtet ist, sein Bestes für die Verkündigung meines Wortes zu geben). Es geht doch um Deine Freude an mir und Deine Antwort auf meine Zuneigung zu Dir, die sich im Fest der Heiligen Feier und manchmal seinem Überschwang ausdrücken möchten.
Und da ist noch etwas: Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Du öffnest und lässt mich ein. Aber zusammen mit mir stehen welche draußen, die gern übersehen werden. Frag Dich ehrlich: Wie rede ich über die Geflüchteten und die Obdachlosen? Wie reden wir im kleinen Kreis über sie? Du weißt, dass da manchmal Worte fallen, für die Du Dich bitter schämen müsstest. Denk doch daran, wie oft in letzter Zeit im Mittelmeer Flüchtlinge ertrunken sind. Das Mittelmeer – ein Massengrab für Menschen, die vor Gewalt, Hunger und Krieg fliehen, um wenigstens einen Hauch menschenwürdigen Lebens zu erhaschen. Und die meisten sogenannten christlichen Länder auf der Nordseite des Meeres stellen sich taub. Bleib nicht stumm! Schrei es den Verantwortlichen in deiner Nähe in die Ohren, dass es kein Christsein ohne konkrete Menschlichkeit geben kann. Schrei es auch den Kirchenoberen in die Ohren, wenn Sie sich in humanitär klingende Sprechblasen einlullen und ihre leerstehenden Klöster und Gebäude im Nebel des Geschwätzes zum Verschwinden zu bringen suchen.
Und noch ein Letztes: Wenn Du Leuten begegnest, die etwa falsch machen Deiner und sogar meiner Meinung nach, dann mach sie nicht herunter und zerreiße Dir nicht den Mund über sie. Sondern sei so zu ihnen, wie Du selber oft genug nötig hast, dass ich zu Dir bin: Viel mehr gütig als gerecht! Du weißt ja, dass hinter deinem Anständigsein oft auch nichts anders steckt als Mangel an Gelegenheit zum Sündigen. Du musst Dich nicht schämen dafür, dass Du versuchbar bist. Aber: Hüte Dich vor der Selbstzufriedenheit. Die ist schrecklich, weil sie Dich in Lügen einspinnt. Du bildest Dir ein, weiß Gott wie lebendig zu sein – und in Wirklichkeit pflegst Du eine tote Fassade. Du sagst: Seht her, wie reich ich bin: das und das und das gibt es bei uns! Und in Wirklichkeit bist Du bettelarm, weil Du am Wesentlichen vorbeiläufst. Gesteh Dir ein, dass Du arm bist, wie Du Dir immer wieder vieles schuldig bleibst – mir und den Menschen! Aber dieses Eingeständnis macht Dich reich, weil ehrlich und darum feinfühlig für meine Treue, die ich Dir unverbrüchlich halte.
V
Darum: hab' keine Angst – auch nicht vor der eigenen Zukunft. Und nicht davor, die schwere Schuld die kirchliche Missbrauchstäter auf sich geladen haben, ans Licht zu zerren, die Täter – und seien es Bischöfe und Kardinäle – zu bestrafen und den Opfern zu Hilfe zu kommen. Träum' Dich nicht zurück in angeblich bessere Zeiten wie die Reaktionäre. Schau nach vorn! Lass Dich in Frage stellen – auch in Vielem, was von außen kommt und Dir so fremd erscheint, bin ich am Werk und rede Dich an. Gerade auch in dem, wie es mit Dir weitergehen wird. Du wirst wieder einmal durch einen Karfreitag hindurch müssen, um zu einem Ostermorgen, einem neuen Anfang zu finden. Stell Dich in allem, was Du tust, immer neu unter mein Wort! Es wird dich richten im tiefen Sinn des Wortes: Richtung wird es Dir geben und Dich aufrichten, wenn Dich Schweres niederbeugt. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!