Christliche Karriere
29. Sonntag B: Jes 53, 10-11 + Mk 10, 35-45
I
Mir liegt wirklich fern, falsche Parallelen zu ziehen. Aber aussprechen möchte ich es doch einmal: Ich kann mich nicht erinnern, dass je in einem Pontifikat der letzten – sagen wir 50 Jahre – derart gnadenlose Kritik an einem Papst geübt worden wäre wie derzeit. Klar, Papst Paul VI. musste sich genau vor 50 Jahren und dann noch lange viel Giftiges anhören wegen der Enzyklika "Humanae vitae" über das Verbot der sogenannten künstlichen Empfängnisverhütung – Pillen-Paule wurde er abfällig genannt. Ein paar Generationen früher ging es freilich noch ganz anders zu. Als Papst Pius IX. starb, der Papst mit dem Unfehlbarkeitsdogma, der sich mit aller Macht gegen den Verlust des Kirchenstaates und die Einigung Italiens stemmte, da kam es in Rom zu schrecklichen Szenen. Als sein Leichnam drei Jahre nach seinem Tod am 13. Juli 1881 vom Vatikan nach San Lorenzo überführt wurde, wo er begraben liegt, da wollten wutentbrannte Römer den Sarg vom Wagen reißen und in den Tiber werfen. Und ausgerechnet die deutschen Doktoranden aus dem kleinen Collegio Teutonico al Campo Santo hatten die Aufgabe, diese Leute mit Peitschen von ihrem Vorhaben abzuhalten.
II
Die Wut damals auf Pius IX. kam von den so genannten Laikalen, die die Nase voll hatten von der klerikalen Präpotenz in der Politik. Die Kritik an Paul VI. kam von den so genannten Liberalen, die in der Pillenenzyklika ein Bremsmanöver gegen die Dynamik des II. Vatikanischen Konzils witterten. Die Kritik heute an Papst Franziskus kommt ganz anderswoher – aus den dezidiert konservativen Kreisen aus Kardinälen, Bischöfen, Priestern und Laien. Es ist manchmal schier unglaublich, was man aus dem Mund dieser Kreise Tag für Tag an Beschimpfungen des Papstes zu hören bekommt – von Leuten, die sich zuvor nicht genug daran tun konnten, auf den Gehorsam gegenüber dem kirchlichen Amt zu pochen. Seit dem nachsynodalen Schreiben Amoris laetita wird Franziskus wegen seines Zugehens auf Geschiedene, die wieder geheiratet haben, geradewegs der Häresie geziehen. Ähnliche Wut zog Franziskus mit seiner grandiosen Enzyklika Laudato si auf sich, in der er im Geist des Heiligen Franz von Assisi vor der Zerstörung der Schöpfung durch wirtschaftliche Rücksichtslosigkeit mahnt. Weltweit anerkannte Klima-Fachleute haben ihm dafür höchsten Respekt gezollt, während der abgehalfterte heimliche Möchtegern-Vize-Papst Kardinal Müller noch vor wenigen Wochen in Australien sinngemäß sagte, kein Katholik sei verpflichtet, der grün-linken Agenda des Papstes Folge zu leisten. Und den jüngsten Shitstorm, wie man heute sagt, hat sich Franziskus zugezogen, weil er sich für das kategorische Verbot der Todesstrafe stark macht und das entsprechend auch im Katechismus festhalten ließ.
III
Nochmals: Mir liegt wahrlich fern, falsche, gar peinliche Parallelen zu ziehen. Aber was da auf den gegenwärtigen Papst aus der rechten Ecke derzeit niederprasselt, kann fast nicht anders, als an den einen oder anderen Zug aus der heutigen ersten Lesung und aus dem Evangelium zu erinnern: dass ein Gottesbote nicht nur missverstanden wird, sondern dass man ihn einfach nicht verstehen will, weil das, was er sagt und wofür er steht, einfach nicht zusammengeht mit dem, was man so denkt und was sich eingespielt hat und darum als unverrückbar gilt. Das hatte der Prophet oder die Prophetengruppe erfahren, die in der Zeit des babylonischen Exils wirkten und deren Botschaft unter dem Namen des Deuterojesaja, des Zweiten Jesaja überliefert ist. Zu dieser Überlieferung gehören auch die vier sogenannten Gottesknechtlieder, die wir umfänglich in der Liturgie der Fastenzeit und der Kartage lesen. Sie handeln davon, dass da einer um Gottes willen Schimpf und Schande auf sich lädt, – Schimpf und Schande, die von Seiten der angeblich Frommen und der Religionsprofis kommen –, um seinem Volk einen Ausweg aus den Verfahrenheiten zu öffnen, in das es sich selbst manövriert hatte.
Und nochmals sage ich es: Es geht um keine falschen Parallelen. Aber auch die katholische Kirche hat sich in den – ja! – letzten Jahrhunderten mehrfach verrannt und in Sackgassen eingemauert, aus denen sie nicht mehr herauszufinden scheint: in der Moraltheologie, speziell im Umgang mit gescheiterten Ehen, mit Homosexuellen, in der Vertuschung der Missbrauchskandale wie erst vor wenigen Monaten wieder in den USA, in der Frage des Priesternachwuchses, der Rolle der Laien, des kirchlichen Amtes für Frauen, der Zölibatsfrage und dem großkirchlichen Finanzgebaren, um nur das Wichtigste aufzulisten. Und Papst Franziskus versucht, an mehreren dieser Stellschrauben zu drehen, um die die Kirche längst bedrohenden Blockaden etwas zu lösen. Und das geht gar nicht anders, als gegen eherne Gewohnheiten zu verstoßen und manchmal ein Machtwort zu sprechen, das nach außen autoritär wirken mag, aber der letzte Hebel ist, der noch bleibt, um übermächtige Hindernisse zu sprengen – mit der Folge, eben dafür beschimpft, des Traditionsbruchs, gar der Irrlehre geziehen zu werden.
IV
Und ein viertes Mal wiederhole ich es: Keine falschen Parallelen! Und trotzdem fällt auf, dass uns im heutigen Evangelium ein ganz ähnliches Muster begegnet. Zwei Apostel, die Zebedäussöhne halten es für an der Zeit, Vorsorge für später zu treffen. Sie gehen zu Jesus und bitten um einen privilegierten Platz in dem Reich, von dem er in seinen Predigten redet. Sie hatten „Reich“, gar „Reich der Himmel“ gehört, und in ihrem Herzen „Macht“ gedacht. Zur Rechten und Linken des Herrschers sitzen, also ein Stück weit mitherrschen. Jesus sucht ihnen klar zu machen, worum sie da bitten, indem er von dem Kelch spricht, den er zu trinken habe, und von der Taufe, mit der er getauft werden müsse für sein kommendes Reich. Aber das verstehen sie erst recht nicht, weil das eine Leidensankündigung war, die partout nicht in ihre Herrschaftslogik passte.
Aber die anderen zehn Jünger sind auch nicht besser. Sie ärgern sich über die Karrierepläne der anderen – natürlich, weil ihnen ganz ähnliche Gedanken nicht fremd waren, nur, dass sie sie noch nicht ausgesprochen hatten. Deswegen sieht sich Jesus genötigt, Klartext zu sprechen. Und dann kommt jene Sentenz, für die die Formel von der Umwertung aller Werte nicht zu großspurig ist: dass die Herrscher ihre Völker zu unterdrücken pflegen und die Mächtigen ihre Macht missbrauchen und es bei ihnen, seinen Jüngern, genau nicht so sein darf. Sondern dass sich bei ihm und ihnen das große Sein im Dienen zeigen muss.
Was das alles im Letzten heißt, hat sich dann ja gezeigt: zuerst in der Fußwaschung im Abendmahlssaal, dann im Verhör vor dem Hohepriester und vor Pilatus, schließlich auf Kalvaria. Wer wirklich dient, wird sich unweigerlich nicht nur die Hände schmutzig machen. Es kann auch sein, dass jemand, der bis zum Letzten dient, darüber sich selbst preisgeben muss. Bei Jesus war das so. Nach ihm haben viele Märtyrinnen und Märtyrer Ähnliches erfahren. Manchmal muss es nicht gleich um das Leben gehen und trotzdem kann solches Dienen einen Menschen bis an die Grenzen seiner Kräfte führen.
VI
Gar nicht so selten geschieht, dass solches Dienen nicht in einem aktiven Tun, einem Handeln besteht, sondern in einem Aushalten, einem geduldigen Ertragen. So kann passieren, dass sich jemand für ein wichtiges Anliegen engagiert und dieser Einsatz von den anderen einfach keine Wertschätzung erfährt oder schlicht ignoriert wird. Und dann nicht aufgeben, sich nicht heimlich rächen, sondern die Blindheit und das Fühllose der anderen in sich ohne Groll verwinden und so aus der Welt wegschaffen – das ist auch ein Dienen, wie Jesus es gemeint hat. Oder – um einen aktuellen Fall zunehmen – sich für Flüchtlinge einzusetzen, gegen Vorurteile anzukämpfen und sich dafür als naiver Gutmensch beschimpfen zu lassen, ohne mit der rhetorischen Keule zurückzuschlagen oder heimlich im Innern zu triumphieren über die eigene moralische Überlegenheit – auch ein jesuanisches Dienen. Solche Dinge kosten Kraft, viel Kraft. Sie kann im Grunde nur von oben kommen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Papst Franziskus seine unglaubliche Kraft und auch die unübersehbare Angstlosigkeit, die er ausstrahlt, aus dieser Quelle schöpft. Der Kinofilm von Wim Wenders aus dem letzten Sommer – Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes – hat das frei von allem Klischee ins Bild gebracht.
Deswegen verwundert es auch nicht, dass Franziskus das Büchlein von der Imitatio Christi aus der Feder des Thomas von Kempen sehr schätzt. Viele Kapitel dieser berühmten Schrift handeln genau von diesem Dienen, das nichts um sich hermacht, aber eben deswegen so viel im Leben und der Welt bewirken kann. Schon im Kapitel 3 heißt es dort:
Alle Vollkommenheit dieses Lebens hat ihr Unvollkommenes und all unser noch so lichthelles Forschen hat sein Dunkel. Demütiges erkennen deiner selbst führt dich sicherer zu Gott als tiefes Graben nach Wissenschaft. Zwar muss man weder das gelehrte Wissen noch das einfache Erkennen einer Sache lästern. Denn es ist ein gutes Ding um das Wissen und das Erkennen und es gehört in Gottes große Haushaltung hinein. … Aber am Tage des Gerichts wird man uns nicht fragen, was wir gelesen, sondern getan haben … Wie viele stürzt doch ihr eitles Wissen, das sie in aller Welt umhertreibt, in das Verderben…, weil sie lieber groß als demütig sein wollen… Es ist doch nur der wahrhaft groß, der Liebe hat. Es ist nur der wahrhaft groß, der in seinen Augen klein ist.
Das ist Karriere auf christlich. Ihre Kurve führt nach unten. Attraktiv ist das auf den ersten Blick nicht. Aber es ist die einzige Karriere, die von Wesen menschlich ist.