Bleiben wollen, gehen müssen
Totengedenken WS 2015/16
für die Verstorbenen der WWU Münster
I
Natürlich wissen wir es, dass Kafka recht hatte: Das entscheidend Charakteristische dieser Welt ist ihre Vergänglichkeit, schrieb er. Trotzdem wollen wir bleiben. Aber es hilft nichts: Wir müssen ge-hen.
„Es sey gleich morgen oder heut
Sterben müssen alle Leut.
Ich hab gesehen, dass der Todt ein Fischer [ist], der nicht al-lein kleine Schneiderfischel ziehet, sondern auch große Wahlfisch; ich hab gesehen, dass der Todt ein Mader [ist], der mit seiner Sensen nicht allein abschneidet die niedrige Klee, sondern auch das hochwachsende Graß […] Ich hab gesehen, dass es muß gestorben seyn, und unser Alles nichts seye“
– Abraham a Santa Clara predigte das.
II
Ich weiß noch wie gestern: Als Kind durfte ich jedes Jahr mit der Großmutter auf Tour gehen: Wallfahrt nach Altötting, bayerische Pilgerstätte seit der Zeit Karls des Großen. Drei Stunden Fahrt mit dem klapprigen Postbus. Die uralte Gnadenkapelle mit der „Schwarzen Madonna“, das Grab vom Hl. Bruder Konrad, die Jahreskrippe in St. Magdalena, das berühmte Panorama (eine halb skulpturale, halb gemalte geniale Inszenierung des Karfreitags). Aber am tiefsten eingeprägt hat sich mir ein Anderes: Eine Uhr in der gotischen Pfarrkirche links hinten auf der Empore. Auf ihr steht knapp metergroß der Meister Tod. Und mit jedem Tick und jedem Tack des Sekundenschlags, den man deutlich hört, schwingt er eine Sense, Tag und Nacht, immer zu. Tick – und – Tack: Wieder – einer – weg. Unheimlich. Dort habe ich zu ahnen begonnen, was Endlichkeit meint.
III
Das Gewahren des endlich Seins freilich – wird es einem zur Gänze bewusst – ist nicht trivial. Es macht Angst. Quer durch alle Kulturen und Epochen ist von dieser Angst die Rede, zumeist eingekleidet in mythische Erzählungen über eine Schlange oder ein Meerungeheuer. Was sich dahinter verbirgt, hat Jean Paul in seinem erschütternden Text Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei geradezu beklemmend ins Wort gebracht: Da träumte ihm, erzählt er, wie er mitternächtlich über einen Gottesacker geht, die Toten aufstehen und wie Schatten umhergehen. Und dann kommt Christus dazu, aber nicht, um die Toten zu erlösen, sondern um ihnen zu sagen, dass es keinen Gott gebe, dass sie und er mit ihnen nichts als einsame Waisen seien, weil da kein Morgen komme, keine heilende Hand und kein unendlicher Vater sei, wie er mit strömenden Tränen sagt. Entsetzen packt die Toten und den Träumer. Er sieht das Weltgebäude mit seiner Unermesslichkeit an sich vorbeisinken – und mitten darin erblickt er die Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Weltenall gelagert hatte. Dann, erzählt er, wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel (der Welt) zu einer Gottesacker-Kirche (also einer Friedhofskapelle) zusammen – und alles wurde eng, düster, bang und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern, als er erwachte.
Das ist es: Eng, düster, bang – die Schlange ist eine Ikone der Angst. Angst kommt ja von Enge – dass mich etwas zusammen-drückt wie die ringelnde Weltschlange das All, dass es mir eng wird und den Atem nimmt. Und nichts ängstigt uns mehr als der Tod, die eigene Endlichkeit. Jede Versuchung, die den Menschen im Leben anfällt – die Habsucht, der Stolz, das Begehren nach Macht, Geld oder Geschlecht – ist nichts anderes als ein Widerwort gegen das Sterben, ein Protest gegen die Endlichkeit. Und wer die nicht annehmen mag, muss sich zu Gott erklären. Genau mit dieser Sinnspitze redet auch die Bibel vom Bösen im Symbol der Schlange von der ersten Seite an bis in die Evangelien hinein. Und nach ihr tut das eine ganze Wolke von Stimmen bis heute genauso.
In einem kommen die Zeugnisse all dieser Denker, Dichter und Gottsucher überein: dass zu einem gelungenen und bewusst geführten Leben konstitutiv ein nicht angstbesetztes, sondern affirmatives Verhältnis, ein „ja“ zur Endlichkeit gehört, traditionell gesprochen: die Kompetenz einer Ars moriendi, einer Kunst des Sterbens.
IV
Von dieser Kunst überhaupt nur zu sprechen, gilt weiten Kreisen heute freilich als geschmacklos, als Verstoß gegen den alltagsäs-thetischen Comment mit seiner Verhübschungsdogmatik, dass nur das sein darf, was jung und schön und hipp und fit ist. Es gehört jedoch zum Kern aller großen religiösen Traditionen, demgegenüber auch auf der Würde des Angeschlagenen, von Spuren des Verfalls Gezeichneten, ja selbst sinnlos verloren Scheinenden zu beharren. Die Erinnerung an zu Ende gekommene, manchmal abgebrochene Lebensgeschichten werden untrennbar an eine Gotteshoffnung gebunden, die darauf setzt, dass alles menschlich Gelebte und Gelittene und sogar das Verfehlte noch zu einem guten Ganzen sich fügen in einer Wirklichkeit, die die biblischen Überlieferungen "neuen Himmel und neue Erde" nennen.
Wer solche Hoffnung nicht teilen mag, wird von den Toten, die ihm nahe waren, wünschen, sie möchten eine Weile wenigstens dadurch noch dazugehören, dass man sich gern an sie erinnert oder dass man ob des von ihnen Geschaffenen mit Respekt ihren Namen nennt. Den Fragen nach Glück und Not eines gelebten Lebens, und wie beides denn zusammengehen möchte, lässt das eher wenig Raum.
Keine Frage: Ein solches Ineinander von Glück und Not – eines so ins andere eingeborgen, dass daraus ein Hauch von Versöhnung sich über das Rätsel von Leben und Sterben breitet –, das lässt sich nicht herbeireden und nicht andemonstrieren. Wo immer eine oder einer darauf zu sprechen kam und kommt, geschieht das behutsam im Bewusstsein der Zerbrechlichkeit eines solchen Gedankens: Ein Hölderlin, ein Camus, St.-Exupery, Tom Wolfe und wer immer sonst, wissen das und entsprechend behutsam gehen sie deshalb dabei mit der Sprache um. Die Ars moriendi übt im Gedenken an die Toten auch keine Jen-seitshoffnung, einen Platonismus fürs Volk, wie Nietzsche frozzelte, so als ob wir im Sterben nur die Pferde wechselten, um unter erleichterten Bedingungen mehr oder weniger weiter zu machen. Wohl aber traut sie dem gelebten Leben eine Innenseite zu, die an Gottes Ewigkeit rührt. Und dieser Gedanke hat seine tiefste Wurzel – in der christlichen Weihnachtsgeschichte.
V
Auf diesen – im ersten Moment – wohl seltsamen Zusammen-hang kommt man am unmittelbarsten über jene biblischen Verse, die wie kaum andere die Denker und Dichter seit je fasziniert haben: der Johannesprolog, wo der Evangelist mit so philosophischen wie dichterischen Worten sagt, wie Gott in Jesus zur Welt kommt. Dabei nennt er Jesus „logos“. Wir übersetzen das in der Regel mit „Wort“. Ein Wort spricht aus, was einer zuinnerst denkt, was er ist. Jesus ist Gottes Wort schlechthin. In ihm wird vernehmbar, wer und wie Gott ist. Was da vernehmbar wird, nennt Johannes „Leben“ und „Licht“. Das meint: In Jesu Tun und Sein wird offenkundig, wie Menschsein geht. Und wie er lebt, das klärt auf, was es mit uns auf sich hat. Schon an diesem Punkt aber fügt Johannes an:
„[...] das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,5)
Das heißt: Menschen wollen nicht wissen, wer und was sie sind. Alles, was wir in der Sprache des christlichen Glaubens „Sünde“ nennen, alles Unmenschliche, Gemeine, Böse, hat einzig darin seine Wurzeln: Wir verweigern dem die Anerkennung, was wir sind: Wir gebärden uns allmächtig – und sind in Wahrheit ein Staubkorn am Rand eines Universums. Wir halten uns für unvergänglich – und bleiben in Wahrheit nur ein paar Atemzüge lang.
Gott aber hat sich für uns zum Staubkorn, zum vergänglichen Menschen gemacht, um uns nahe zu bringen, dass das alles zu uns gehört. Mensch ist der Mensch erst, wenn er weiß, wie randständig, wie überflüssig, wie vergänglich er ist. Erst dadurch wird das Leben bedeutsam. Nur das, was es gibt, obwohl es es absolut nicht geben müsste, kann kostbar sein. Nur das, was jetzt ist, vorher aber nicht war und nachher nie mehr wieder sein wird, zählt etwas im Jetzt. Das Leben eines, einer jeden von uns ist singulär. Das ist das Glück der Endlichkeit.
Das hat aber noch eine Rückseite: Gott offenbart in Jesus nicht bloß unser Ureigenes. Zugleich offenbart er uns auch das Tiefste seiner selbst in dem, was Jesus noch vor all seinem Tun selber ist: nämlich Mensch. Denn: dass Gott sich im Menschsein eines Menschen offenbart, das ist seiner Offenbarung nicht äußerlich. Es ist vielmehr der Inhalt dieser Botschaft schlechthin, die Mitte seiner Selbstmitteilung.
„Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezel-tet“ (Joh 1,14),
sagt Johannes dafür. Das ist der Gipfelpunkt seines ganzen Evangeliums. Das Wort ist Fleisch geworden – der immer schon auf uns hin geöffnete Gott wird Fleisch, das heißt übersetzt in die Sprache von heute: Er selbst übernimmt unsere Daseinsart, unsere Endlichkeit, unsere Ohnmacht, unsere Zerbrechlichkeit. Er macht sich verletzlich. Er tut dies nicht für sich selbst, sondern um des gänzlich anderen, um des Menschen willen. So sehr sucht er uns, dass er dafür nichts scheut, nicht einmal den Verzicht auf die eigene Wesensart. Gott geht selbst ein in unsere Lebensweise, wird einer von uns. Er will sich finden lassen von uns in dem, was uns am nächsten ist, am vertrautesten: unserer eigenen Wesensart als Menschen. In ihr kann er uns auch so begegnen, dass wir keine Angst mehr vor ihm haben, nicht einmal jene, die ihrer Sünde wegen das Gericht erwartete. Deshalb wird er Fleisch, ohnmächtig, ein kleines Kind. Ernst Bloch hatte schon Recht, wenn er meinte, dass im Kern des Christentums ein veritables Stück Atheismus stecke, der Abschied von einem Gott der reinen Jenseitigkeit, einem Gott der Macht und Pracht.
Dennoch hat Johannes das, was er mit den Augen seines Glaubens an der Gestalt Jesu von Gott sieht, „Herrlichkeit“ genannt. Was er da schauen durfte, überwältigt ihn:
„Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, [ruft er aus; K.M.], die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)
Gott verausgabt sich für uns bis hin zum schieren Zerbrechen sämtlicher unserer Gottesbilder. Nicht triumphalistisches Machtgebaren und Glimmer also machen Gottes Herrlichkeit aus, sondern das, was im Arme-Leute-Kind von Betlehem aufleuchtet: Gnade und Wahrheit. Das sind die ganze Bibel hindurch zwei besondere Worte. Denn Gnade heißt so viel wie Liebenswürdigkeit, Zuneigung, Bezauberung – griechisch „charis“, daher kommt unser Wort „Charme“. Und Wahrheit meint das, worauf ich mich ganz und gar verlassen kann, bedeutet also so viel wie Treue. Dass Gott uns für so liebenswert hält, dass er uns unbeschreibliche Zuneigung schenkt, die uns, die Beschenkten, eigentlich nur noch bezaubern kann – und dass er durch alles hin-durch sogar noch um den Preis seiner selbst zu uns treu steht und uns niemals fallen lässt, – das steht unverbrüchlich als Zusage über einem Leben, egal ob es früh oder satt an Jahren zu Ende geht.
Menschen, die ihre geistliche Heimat in christlichen Traditionen gefunden haben, glauben das nicht nur von sich, sondern von allen, egal welcher Religion, welchen Ranges, welcher Rasse. Wem dieses Bekenntnis fern oder fremd ist, darf zumindest wissen, dass die Christinnen und Christen, in deren Namen ich hier spreche, auf die Seinen und einmal für ihn oder sie selbst hoffen – und ihnen zu sagen wagen: Du und die Deinen – ihr werdet nicht verloren sein.