Vermenschlichendes Gottesbild
Tagung der ARGE, Philosophie in der Theologie, 22.-24.02.2018
I
Die Ordnung der Schriftlesungen in der katholischen Theologie folgt ihrer ganz eigenen, manchmal nur bedingt durchschaubaren, Ordnung. Aber gar nicht selten passiert, dass eine für den Tag festgelegte Perikope genau dem Anlass entspricht, zu dem ein Gottesdienst gefeiert wird. Auch heute ist das der Fall. Wir machen uns philosophisch-theologische Gedanken über Transformationen der aus der Tradition vertrauten Gottesbilder samt ihrer Hintergrund-Metaphysiken. Und just heute konfrontiert uns das Evangelium mit einem Gottesbild, das so quer steht zu den eingespielten menschlichen Gottesgedanken, dass es gegen deren Übermacht immer wieder neu in Erinnerung gerufen werden muss. Weil es im Grunde skandalös ist.
II
Diese Skandal-Perikope gehört zur Bergpredigt, diesem großen Gottes-Poem, das zugleich so etwas wie ein Selbstportrait Jesu präsentiert. Solche Dichtungen, Verdichtungen des Kerygmas, kann man – ähnlich wie Gleichnisse – eigentlich gar nicht auslegen. Sie sprechen für sich. Man kann sie darum nur narrativ reinszenieren und im Spiegel von Erzählungen rekonfigurieren.
III
Für unsere Passage mit dem Gebot der Feindesliebe und des hinter ihm stehenden Gottesbildes hilft mir dabei eine Geschichte aus den endvierziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Ein deutscher Soldat, der den Russlandfeldzug überlebte, hat nach dem Krieg von einem Erlebnis erzählt, das ihn zutiefst erschütterte. Der Mann kam mit einem Kameraden zu einem Ort, wo ein Bataillon deutscher Soldaten in einen Hinterhalt geraten und gefangengenommen worden war. Es waren nur noch Leichenhaufen übrig. Als sie näher hinkamen, entdeckten Sie, dass die Soldaten immer zu Mehreren zusammengebunden, mit Säure übergossen und dann mit Handgranaten in die Luft gesprengt worden waren. Die beiden wären am liebsten davon gerannt vor diesem entsetzlichen Anblick. In diesem Moment entdeckte der andere, dass auch sein Bruder unter den Opfern war. Der Anblick des zu Tode Gequälten und Zerfetzten entmenschte ihn. Jedes Mal wenn er in den Wochen danach einen feindlichen Soldaten erwischte, zwang er ihn mit der Pistole, sich sein eigenes Grab zu schaufeln und erschoss ihn in dieses Grab hinein.
IV
Der Mann, der so reagierte, war kein Killer und Berserker gewesen. Im Gegenteil. Vor dem Krieg hatte er Theologie und Philosophie studiert. Er hatte nach festen Grundsätzen gelebt, sich an Recht und Ordnung gehalten, an Gott geglaubt. Und trotzdem: Der brutale Mord an seinem Bruder riss in ihm alle Dämme gegen den Hass und die Gewalt nieder. Er übte Rache und Vergeltung, wie Menschen Rache und Vergeltung üben, wenn sie im Innersten getroffen sind: Vergeltung ohne Maß. Sie haben das Gefühl, der Tod des einen, des ihnen nahen, könne nur noch durch die Vernichtung von vielen auf der Feindesseite aufgewogen werden, am besten von allen. Und so haben Menschen nicht nur in grauer Vorzeit oder in Extremsituationen, wie einem Krieg, gedacht und gehandelt. Es geschieht heute nicht selten genauso, ich brauche nur an ISIS oder Boko Haram einerseits und die Rache ihrer Gegner andererseits zu erinnern.
IV
Angesichts dieser seit Urzeiten verbreiteten Vergeltungslogik war es ein ungeheurer Fortschritt, als die Stämme Israels anfingen, die gegenseitige Vergeltung unter Menschen zu begrenzen, und dieses Gebot für so grundlegend für das Miteinanderleben empfanden, dass es nur von Gott stammen konnte und darum im Buch der Gebote Gottes festgehalten wurde. Wir liegen völlig daneben, wenn wir heute dieses berühmte biblische „Auge für Auge und Zahn für Zahn“ sprichwörtlich in den Mund nehmen, um zu sagen: Tust du mir etwas an, tue ich dir das Gleiche an.
Für Israel war dieses Gebot nicht Aufforderung zur Rache, sondern Einschränkung der Rache. Hatte einer dem anderen ein Auge ausgeschlagen und ihn damit um ein Stück Lebenstüchtigkeit bei der Jagd, der Arbeit oder der Verteidigung seines Stammes gebracht, so durfte die geschädigte Sippe die andere deswegen nicht ganz vernichten, ja nicht einmal den Täter umbringen, sondern nur so viel Schaden zufügen, wie sie selbst erlitten hatte. Das Gebot des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ unterbricht die teuflische Spirale, dass Gewalt mit umso größerer Gewalt, Unrecht mit umso mehr Unrecht beantwortet wird.
V
Nur wer das im Blick hat, kann verstehen, was Jesus mit diesem alten Gebot macht. Er zitiert es und fügt an: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Jesus setzt das alte Gebot nicht außer Kraft und setzt ihm nicht ein neues entgegen. Sondern er denkt das Alte weiter, vertieft es und legt seinen eigentlichen Sinn, sein Ziel offen. Vergeltung einschränken heißt ja in sich schon soviel wie: Sie ist eigentlich nicht der richtige Weg. Richtiger ist, gar keine Vergeltung zu üben. Denn wirklich zerbrochen wird der Kreis der Gewalt nur durch Nicht-Gewalt. Die andere Backe hinzuhalten, ist nicht Dummheit und nicht Schwäche, sondern die Stärke des Gewaltlosen.
VI
Doch sind Menschen wirklich fähig, so zu handeln? Es wird nicht immer möglich sein. Es gibt Situationen, da kann jemand sein Leben nur noch mit Gegengewalt schützen. Aber das andere gibt es genauso, vielfach bezeugt: Dass einer, eine dadurch, dass sie nicht zurückschlagen, den Gewalttäter aus dem Tritt bringen, ihn buchstäblich schockieren, so dass der bestürzt sein Unrecht erkennt und einhält. Diese Macht der Unterbrechung ist eine Wirklichkeit. Und ohne sie kann es kein wirkliches Miteinander unter Menschen geben. Darum nimmt sie Jesus auf in die Ordnung des Gottesreiches, das er verkündet.
VII
Freilich hat diese Macht der Ohnmacht noch eine Voraussetzung. Sie kann nur dort wirken, wo alle Ansprüche von Menschen gegen Menschen in einem letzten Sinn als relativ erkannt sind. Urteil und Vergeltung reichen nämlich gar nicht bis dorthin, wo sich Schuld und Gerechtigkeit eines Menschen entscheiden. Das geschieht einzig und allein vor Gott. Das meint Jesus mit dem kühnen Satz, dass Gott seine Sonne aufgehen lasse über Böse und Gute und es regnen lasse über Gerechte und Ungerechte. Das ist die jesuanische skandalöse Gottesbild-Transformation.
Auch wenn du böse warst, ist und bleibt Gott für dich da. Und wenn du einmal vor Gott treten willst, wirst du dein Böses so schmerzhaft erkennen, dass es dich zutiefst gereut, und der, dem du Böses getan hast, wird allein schon dafür versöhnt sein, dass er merkt, wie dir wehtut, dass du ihm wehtatst. Nur wer daran glaubt, dass Gott durch sein bloßes Dasein für den Menschen sogar noch Schuld in etwas Versöhnendes zu wandeln vermag, der kann sich getrauen, auf die eigene Durchsetzung seines Rechts zu verzichten. Ihr eigentliches Ziel erreichte sie ohnehin nicht. Umso mehr haben wir Grund, die Not, die wir manchmal einander bereiten, in Gottes Hand zu legen.
Vielleicht hatte Whitehead, der bekanntlich seinen Sohn Eric Alfred im I. Weltkrieg verloren hatte, etwas Ähnliches im Sinn, als er in die theologische Skizze des Schlusskapitels von Process and Reality unter anderem schrieb:
„Es gibt […] im galiläischen Ursprung des Christentums noch eine andere Anregung, die zu keinem der drei Hauptstränge des Denkens so richtig paßt. Sie legt das Schwergewicht weder auf den herrschenden Kaiser, noch auf den erbarmungslosen Moralisten oder den unbewegten Beweger. Sie hält fest an den zarten Elementen der Welt, die langsam und in aller Stille durch Liebe wirken; und sie findet ihren Zweck in der gegenwärtigen Unmittelbarkeit eines Reichs, das nicht von dieser Welt ist. Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie blickt nicht in die Zukunft; denn sie findet ihre eigene Befriedigung in der unmittelbaren Gegenwart.“
Gedanken wie gesprochen im Echoraum der heutigen Perikope mit dem seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lassenden Gott, der die einen mit seiner Güte bestürzt, die anderen bestärkt, es ihm gleich zu tun. Ich denke, wir haben noch viel Arbeit vor uns, diesem vermenschlichenden Gottesbild, das auch noch den großen gegenwärtigen Religionskonflikten gewachsen wäre, breite Resonanz zu verschaffen.