Abrahams Wagnis
2. Fastensonntag B: Gen 22, 1-2. 9a. 10-13. 15-18
I
Im Dezember 2017 hat Papst Franziskus durch ein Fernsehinterview wieder einmal Skandal gemacht. Da sagte er nämlich, er finde manche Übersetzungen der sechsten Vaterunser-Bitte – auch die in deutscher Sprache – nicht gelungen: Dieses „Und führe uns nicht in Versuchung“ erwecke doch den Eindruck, Gott könne den Menschen in Versuchung führen, um dann zu sehen, wie er falle. Deshalb halte er die Neuübersetzung der französischen Bischöfe für besser, der gemäß seit letzten Advent gebetet wird: "Und lass uns nicht in Versuchung fallen."
Postwendend nannten neunmalkluge Ohrensessel-Theologen Hand in Hand mit konservativen Bischöfen diesen Vorschlag Unsinn oder gar Verfälschung des Evangeliums. So können nur Leute daherreden, die schon lange oder gar nicht mehr Kontakt mit der Art und Weise haben, wie Menschen heute, oft weit entfernt von kirchlichen Kontexten, sich Gedanken über Gott machen. Sie hatten nicht kapiert, dass der Papst einen wunden Punkt getroffen hatte. Denn unendlich Viele verstehen diese Vaterunser-Sentenz just so, wie von Franziskus befürchtet. Als Indiz eines undurchsichtigen Despoten und Rachegotts.
II
Aber was ist es genau um dieses Versucht-Werden des Menschen? Ein Stück Aufschluss kann uns wohl eine der aufregendsten Geschichten aus dem Alten Testament geben; Diejenige, die wir heute in der ersten Lesung hörten – die „Bindung Isaaks“, wie sie die Juden nennen. Die christliche Tradition spricht vom Isaak-Opfer.
Gott stellte Abraham auf die Probe, sagt der erste Vers uns – also: Abraham selbst weiß es nicht. Gerade so wie zu Beginn des Hiob-Buches, wo einer der Gottessöhne, der obersten Engel, den Höchsten bittet, den frommen Hiob auf die Probe stellen zu dürfen, wie weit es denn her sei mit seiner Frömmigkeit – und der ganze himmlische Hofstaat schaut gebannt zu bei diesem Gottesexperiment. Und wir auch – die Hörenden.
Was da jetzt mit Abraham ansteht, hat Sören Kierkegaard zu Eingang des ersten Kapitels seines Buches Furcht und Zittern wunderbar umschrieben:
Wenn Abraham gezweifelt hätte, hätte er etwas anderes getan, etwas Großes und Herrliches… Er wäre ausgezogen zum Berge Morija, er hätte das Brennholz gespalten, die Scheite entzündet, das Messer gezogen – er hätte zu Gott gerufen: „Verschmähe dies Opfer nicht; es ist nicht das Beste, das mein eigen ist, das weiß ich wohl; denn was ist ein alter Mann gegen den Sohn der Verheißung, aber es ist das Beste, was ich dir geben kann. Laß es Isaak niemals erfahren, dass er sich trösten möge mit seiner Jugend.“ Er hätte das Messer in seine eigene Brust gestoßen. Er wäre in der Welt bewundert worden, und sein Name würde nicht vergessen sein; aber Eines ist es, bewundert zu werden, ein Anderes, ein weisender Stern werden, der den Geängstigten rettet.
Was dem Abraham solchen Rang jenseits des menschlich Bewunderbaren verleiht, wird uns erzählt in einer Geschichte aus Worten, die man nur noch zartfühlend nennen kann: Endlich war dem Abraham und seiner Sarai der Sohn geschenkt worden, der verheißene, der einzige. Gefestet hatten sie es, wie sich solches zu feiern gebührt. Da bricht in dieses lebenssatte Frohsein eine neue Infragestellung, die bis an die Wurzel geht: Abraham! – Mit Namen redet ihn Gott an, auszeichnender Ausdruck der Vertrautheit. Und der Angeredete antwortet mit dem tatbereiten "Hier bin ich!" Und dann der Gottesbefehl – Väterversuchung, nannte Luther ihn. Schonend hinzögernd, sich steigernd von Wort zu Wort: Nimm, nimm doch – deinen Sohn – deinen einzigen – den du liebst – jetzt erst der Name: den Isaak. Und bringe ihn auf dem Morija-Berg für ein Opfer hinauf!
Schon einmal hat sich Abraham von Liebgewordenem trennen müssen, damals im Ur Chaldäas, als er sich auf Gottes Geheiß von Haus, Hof, Heimat und den Seinen weg machte. Da gab er seine Vergangenheit preis. Jetzt soll er sich wieder von Liebgewordenem trennen, vom Liebsten. Seine Zukunft preisgeben.
Wir sehen, wie sich Abraham reisefertig macht, umständlich alles beschrieben, wie er herumhantiert, den Esel sattelt, die Knechte holt, Holz spaltet – so wie ein Mensch, der in stummer Verzweiflung sich zu schaffen macht, damit ihn die tonnenschwere Last seiner Gedanken nicht gänzlich niederbiegt. Als das Ziel von Ferne in Blick kommt, lässt Abraham die Knechte zurück. Er will allein sein, so wie Mose einmal allein auf dem Horeb stehen und dann noch später der Hohepriester nur allein ins Allerheiligste treten wird. Isaak, der Sohn, übernimmt jetzt die Arbeit, die sonst die der Sklaven ist, das Holz tragen. Und nach einer Weile schweigenden Gehens fragt das Kind, wie eben ein Kind fragt, das aufmerksam wahrnimmt: Wo denn das Lamm für das Opfer sei: Vater! Ja, mein Sohn! Und das Lamm? – Wir wissen, was Abraham weiß, und hören ihn sagen: Gott wird sich das Lamm ersehen, Gott selbst wird sorgen für das Opfer.
Und dann wieder dieses verzögernd erzählte Handeln auf dem Berg droben, dass man meint, das Ticken einer Pendeluhr zu hören: Ankommen – Altar bauen – Holz schichten. Dann bindet Abraham sein Kind, Hände und Füße zusammen. Das zusammengekrümmte, wehrlose Opferbündel hat dem ganzen Ereignis bei den Juden bis heute den Namen gegeben: aqedah Jizak, Isaaks Bindung. Da sich nichts tut, hebt Abraham an zu tun, was ihm befohlen: Messer – Sohn – Schlachten: schachat steht da hebräisch, unser „Schächten“ kommt davon. Und in diesem Augenblick der doppelte Namensruf von oben, doppelt aus dem Engelsmund vor lauter Engelsangst gleichsam, ja nicht zu spät zu kommen. Abraham! Abraham! Der erste Augenblick der Tat, der getan, die ausgestreckte Hand mit dem genommenen Messer, steht für ihr Ganzes, dem der Gottesbote Einhalt gebietet. Fürs Ganze gilt vor Gott, was der Mensch als Teil getan. Ich weiß ja, dass du Gott fürchtest, und alle Welt weiß es jetzt mit. Vom Liebsten losgesagt, hast du bekannt, was Dir das Liebste des Liebsten ist: Gott dem Treuen zu trauen.
Was dem Abraham da geschieht und geschenkt wird, verwandelt ihm die ganze Welt, so dass er dem Ort des Geschehens einen neuen Namen gibt: JHWH-Jire – Der Herr sieht. Das gleiche Wort wie zuvor bei dem Gott, der selbst das Opfer ersieht. Und heutzutage, fügt die Geschichte an, sagt man: auf SEINEM Berg wird gesehen. Beide Male hören wir nicht, was gesehen wird, beim zweiten Mal nicht einmal, wer da sieht. Sehen, sich sehen lassen, gesehen werden, sind eins. Nur so kann Abrahams Gotteserfahrung, kann Gotteserfahrung überhaupt in Worte finden: Angeschaut von Gott, schauen wir ihn, ohne ihn sehen zu können, so wie man ins Licht der Sonne tretend sieht und in ihm lebt, ohne dass wir ins Licht selber schauen könnten.
III
Das ist die Geschichte, wie Abraham, mit Kierkegaards Wort gesagt, zum weisenden Stern geworden ist, der den Geängstigten rettet. Der Gang auf den Morija-Berg hinauf hat ihn gelehrt: Gott wird im Opfer geschaut – und umso gewisser wird er geschaut, je größer das Opfer ist. Darum ist es auch die letzte Gotteserscheinung des Abraham, von der die Bibel erzählt. Das Rettende und Weisende an diesem Gottes-Schauer, das alle Angst beruhigen kann: Was so furchtbar beginnt wie die Väterversuchung, weitet sich in eine Gewissheit, dass Gottes Treue bis ins Letzte trägt, wo der Mensch am eigenen Letzten nicht festhält, diesem Gott nichts verweigert. Und wenn Gott der Treue, der Immerwährende ist, wird dann dieses erlösende Ende des Dramas, das wir jetzt einmalig an Abraham durchzittert haben, nicht immer gelten – immer, wenn eine Versuchung herantritt? Auch die Versuchungen des Rabbi Jeschua von Nazaret und jede danach. Und auch unsere eigenen?
Und wird nicht, wenn dieser Gott der ist, als der er sich dem Abraham sehen lässt, er nicht nur einmal das Opfer ersehen und für es sorgen, sondern immer? Und heißt das nicht im Tiefsten, dass alle menschlichen Opfer seit Abrahams Morija-Erlebnis eigentlich zu Ende sind, weil Gott selbst in die Hand genommen hat, was das Opfer meint: Dass Himmel und Erde versöhnt seien? Kein Zufall, dass dieses Wort von Gottes „Ersehen“ des Opfers im Alten Testament überall nachklingt, wovon Liturgie erzählt wird, vom Heiligen Dienst, in dem Gott auf die Seinen schauend sich sehen lässt. Am Eindrücklichsten leuchtet das dadurch auf, dass die drei zentralen Worte aus dem Schluss unserer Abrahamsgeschichte – Widder, Brandopfer, Sehen –, dass diese drei Kernworte gemeinsam wiederkehren haargenau in der Mitte der ersten fünf Bücher der Bibel, im Kapitel 16 des Buches Levitikus, wo im Detail die Liturgie des großen Versöhnungstages beschrieben wird. Das haben die Bibelverfasser getan, um zum Ausdruck zu bringen, was im Zentrum alles Erzählten steht und worauf alles hinaus will: dass der Mensch die Hand der Versöhnung ergreife, die Gott ihm entgegenstreckt. Kein Wunder darum, dass die Rabbinen bis heute sagen: Alle Opfer und Feste wirken von Isaaks Bindung her - denn dort auf Morija hat Gott mit Abraham die Versöhnung von Himmel und Erde grundgelegt und im heiligen Dienst des Bundes wurde sie stetige Gegenwart.
IV
Und erst recht kein Wunder, dass unsere Geschichte im Neuen Testament immer genau dort anklingt, wo es um die innerste Mitte von Jesu Sendung und Geheimnis, um sein Ganzes geht: Er hat seinen eigenen Sohn nicht geschont, sagt Paulus im Römerbrief von Gott – den Isaak schon, klingt dabei mit. Das heißt: Selber das Opfer ersehen. Und im 2. Korintherbrief noch deutlicher: Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen. Jesus war und wollte nichts anderes sein als Versöhnung in Person, Gottes kühnster Gedanke, der Morija-Gedanke in Fleisch und Blut. So hat er gepredigt, gelebt als Inbild und Sinnbild eines Gottes, der der Zuvorkommende ist und dem nichts zu viel ist für die tiefste Absicht seines Herzens. Deshalb ist dieses Selber-Sorge-Tragen Gottes für das Opfer, für die Versöhnung, an demjenigen menschlich sichtbar geworden, der das weltzugewandte Antlitz dieses Gottes verkörperte.
Wer seinem Gotteszeugnis traut, den schaut darum Gott an, wenn sie oder er auf den Gekreuzigten blickt – wie Gott auf Morija anschaut. Und dort – am Kreuz – wird gesehen, wie auf SEINEM Berg gesehen wird. Das Herrlichste Gottes, sein Segen seit Abraham, verbirgt sich im Gekreuzigten, damit es uns nicht überwältige und niederschlage, sondern zu Herzen gehe und anrühre, so zartfühlend wie die Geschichte von der Isaaksbindung. Die Gottesliebe, die daraus keimt, die weiß, dass nichts, was einem Menschen je von Herzen kam und kommt, verloren gewesen sein wird. Mit Abraham hat Gott sich dafür verbürgt. In Jesus ist es besiegelt. Wer dem traut, dessen Welt taucht in einen neuen Morgen, von dem ab der Angstmacher Tod und die namenlose Trauer entmachtet sind. Wenn wir das Wort hören und das Brot brechen, also Versöhnung feiern, werden wir Angeschaute, die Sehende sind. Jetzt. Morgen. Für immer. Dafür preisen wir unsern Gott.
V
Etwa zwei Jahrtausende nach unserer Genesis-Geschichte hat deren Zentrum Meister Eckhart auf den Punkt gebracht, indem er schrieb: Nur in einem äußersten Arm-geworden-sein des Menschen, das darin besteht, dass er nicht mehr will und weiß und hat, tut er sich für das Wirken Gottes auf. Er muss von allem – aller Dinge, seiner selbst und auch Gottes – so leer sein, dass Gott selbst die Stätte ist, in der er wirken will. Und jetzt Meister Eckhart wörtlich:
„Denn, findet Gott den Menschen so arm, so wirkt Gott sein eigenes Werk und der Mensch erleidet Gott so in sich, und Gott ist eine eigene Stätte seiner Werke angesichts der Tatsache, daß Gott einer ist, der in sich selbst wirkt. Allhier in dieser Armut, erlangt der Mensch das ewige Sein [wieder], das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er ewig bleiben wird.“
Im radikalen Arm-werden, also Sich-lassen des Menschen wird Gott mit diesem eins und birgt ihn in seiner Treue. Das hat Abraham auf Morija erfahren. Und aufgeschrieben ist das dazu, dass auch wir dieses Wagnis wagen.