Abgrund Liebe
Fronleichnam B: Ex 24, 3-8 + Hebr 9, 11-15 + Mk 14, 12-16. 22-26
I
Heute feiern wir Fronleichnam, das Hochfest des Sakraments der Eucharistie. Das Fest mag seine konkreten geschichtlichen Wurzeln in der Frömmigkeit des 13. Jahrhunderts haben, aber sein geistlicher Sinngehalt reicht ungleich tiefer. Nicht einmal sein Jahrhunderte langer Missbrauch im Streit zwischen den Konfessionen als anti-protestantische Groß-Demonstration konnte diese Innenseite zerstören. Nur so lässt sich verstehen, dass heute in nicht wenigen Städten der Pastor der evangelischen Nachbargemeinde an der Fronleichnamsprozession der katholischen Schwesterpfarrei teilnimmt.
II
Fronleichnam ist zunächst einmal so etwas wie das Gelenkstück zwischen der Kette der Festtage, mit denen wir unseren Glauben feiern, und dem restlichen Kirchenjahr: Von Advent und Weihnachten über die Fastenzeit und Ostern samt Pfingsten rekapitulieren wir gleichsam die Heilsgeschichte. Der erste Sonntag nach Pfingsten, das Hochfest der Heiligen Dreifaltigkeit, schürzt gleichsam alles zusammenfassend im Gottesgeheimnis den Knoten. Und dann – heute – kommt Fronleichnam, um uns ausdrücklich vor Augen zu bringen, dass und wie das zuvor Gefeierte als Ganzes bleibend präsent ist in jeder Feier der Eucharistie das ganze Jahr hindurch. Das ist die liturgische Seite von Fronleichnam.
III
Die geistliche Innenseite reicht aber noch viel tiefer – und sie lässt sich in sehr modernen Gedanken zum Ausdruck bringen. Schon lange hat sich die Theologie angewöhnt, Offenbarung nicht als etwas zu verstehen, wodurch uns irgendetwas von außen oder oben diktiert oder dekretiert wird, sondern dass Offenbarung „Selbstmitteilung Gottes“ ist – ein Ereignis, in dem Gott SICH ins Innerste unser selbst spricht. Solches Sprechen und Sich-Zusagen geschieht – wie jedes Sprechen – im Medium des Wortes, zunächst im Medium des Wortes, wie es sich aus Jahrtausenden menschlichen Gottsuchens und Gottfindens im Wort der Heiligen Schrift verdichtet und niedergeschlagen hat. Für Christinnen und Christen geht dieser Prozess der Mitteilung aber noch weiter, weil sie glauben, was das Johannesevangelium in seinem Prolog verkündet: dass das Wort, das Gott selber ist, Fleisch wird in Jesus von Nazareth. Und diese Fleischwerdung ihrerseits ist nichts anderes als die ultimative Zuspitzung und Verdichtung der Botschaft dieses Gottes. Mir scheint außer Frage zu stehen, dass Marshall McLuhan, im Übrigen ein bekanntermaßen praktizierender Katholik, sein legendäres Diktum „The medium is the message“1 (Das Medium ist die Botschaft) im Blick auf das Christusereignis formuliert hat. Die Botschaft ist das Fleisch – das ist der Glutkern des Christusglaubens.
Aber das ist noch nicht alles. Ein weiterer Schritt in diesem Ereignis der Selbstmitteilung Gottes besteht darin, dass dieses raumzeitlich situierte fleischgewordene Wort zu seiner in ihm selbst angelegten und von ihm selbst angestrebten weltweiten Verlautbarung sozusagen einen erneuten Medienwechsel braucht: nämlich den Wechsel vom einmaligen Fleisch zum an alle Welt gerichteten Wort der Verkündigung, also zur Predigt. Kompetent kommen die Predigenden ihrem Auftrag nach, wenn sie aus dem Horizont ihrer persönlichen Erfahrung mit dem Gehalt christlicher Verkündigung im Blick auf die Zeichen je ihrer Zeit das unwiderrufliche Heilswort Gottes und seiner Aufgipfelung in Gottes Menschwerdung zur Sprache bringen: Christliche Predigt ist also letztlich etwas, das in der Inkarnation gründet – weshalb das Verkündigungsgeschehen gelegentlich mit dem in Anlehnung zu „Inkarnation“ gebildeten Namen „Inverbation“ charakterisiert wird: Wortwerdung.
IV
Dass es sich bei der christlichen Predigt keinesfalls um so etwas wie die Weitergabe eines verschlossenen Briefes durch Boten handelt, die selbst vom Inhalt dieses Briefes nichts wissen, wird sofort klar, wenn man an den neutestamentlichen Namen für Predigt denkt: Er lautet „Kerygma“. „Kerygma“ hat mit dem zu tun, was der Philosoph Søren Kierkegaard „Gleichzeitigkeit“ nannte: Das Wort alter Überlieferung vergegenwärtigt durch seine je neue Verlautbarung als Wirklichkeit hier und jetzt, was es seiner Bedeutung nach meint. Kerygma besteht im Weitersagen und Auslegen des Evangeliums so, dass die Hörerschaft heute eben das erfährt, was laut Mk 1,22 diejenigen empfanden, die Jesus selbst zuhörten:
„...(sie) waren sehr betroffen von seiner Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat...“
und was laut Auskunft von Apg 2,37 auch durch die apostolische Missionspredigt geschah:
„Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz...“
V
Doch das ist noch immer nicht alles: Es gibt christlich nach der Inverbation noch einen weiteren Medienwechsel – und der vollzieht sich in seiner Höchstform im Raum von Kerygma und Liturgie. Am prägnantesten wird das natürlich am Fall der Eucharistie fassbar: Das Wort der Verkündigung wird erneut Fleisch im zeichenhaften Medium der Sakramente:
„Was an unserem Erlöser sichtbar war, ist in die Sakramente übergegangen“2 ,
sagt Papst Leo der Große dafür.
Entscheidend dabei ist, dass all diese Medienwechsel nicht nur einander folgen, sondern zudem miteinander verkettet sind dergestalt, dass das je folgende Medium das vorausgehende nicht ablöst, sondern aufhebt im dreifachen Sinn: Es tritt an seine Stelle, bewahrt es aber in seiner Substanz auf und vergegenwärtigt es auf höherer Ebene. Kein anderer als Thomas von Aquin hat das mit der für ihn typischen Geschliffenheit und Genialität in der vierten Strophe des von ihm für die Fronleichnamsliturgie gedichteten Hymnus "Pange lingua gloriosi", also unserem deutschen Lied "Preise, Zunge, das Geheimnis", mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht:
„Verbum caro panem verum verbo carnem efficit.“3
Jede Übersetzung fällt ärmer aus als das Original, vor allem, was das das Poetische betrifft: Wörtlich könnte man Thomas so wiedergeben: "Das Wort, das Fleisch geworden ist, macht wahres Brot durch das Wort zu Fleisch." So kommt Gottes Selbstmitteilung im Medium einer neuen Sinnlichkeit und Materialität zu allen Menschen aller Zeiten, die nach geistlicher Nahrung suchen.
VI
Eines fehlt nun noch – jenes Element der Eucharistie, das sich als roter Faden durch alle drei Lesungen des heutigen Festes zieht: das Blut. Im Buch Exodus besiegelt das Blut der Opfertiere den Bund, den Gott mit seinem Volk schließt. Dass Mose den Altar und das Volk Israel mit dem Blut der Tiere besprengt, versinnbildet den abgründigen, bis ins Tiefste reichenden Ernst des Geschehens, denn Blut gilt zum einen als der Sitz des Lebens, über das Gott allein verfügt. Und Blut ist zum anderen zugleich das symbolische Medium unserer elementarsten Gefühle: Nicht zufällig vom „lieben“ oder „hassen“ bis aufs Blut reden wir bisweilen. Der Hebräerbrief in der zweiten Lesung greift das alttestamentliche Bundesritual auf und deutet mit ihm das Kreuzesgeschehen: Im Leiden und Sterben Christi wird offenkundig, dass und wie Gott seinen Bund mit uns bis zum Letzten, menschlich gesehen: bis zum Irrsinn, ernstnimmt und ihm treu bleibt. Und das Evangelium stellt das Abschiedsmahl Jesu von seinen Jüngern am Gründonnerstagabend in genau dieses Licht dieses Lebensbundes, der wegen der unbeirrbaren Treue Gottes von den Glaubenden jedes Mal erneuert und gefeiert werden darf, wenn sie das Wort hören, das Brot brechen und den Kelch teilen.
VII
Im ersten Moment mag uns Heutige dieses Element des Blutes im Zusammenhang der Eucharistiefeier fremd anmuten. Doch schon ein kurzer Blick in die Kunst kann uns eines anderen belehren: Ich meine diesmal die Bühnenkunst, konkret: Das Drama Penthesilea aus der Feder Heinrich von Kleists. Vor ein paar Monaten habe ich eine Inszenierung des Stücks in Berlin gesehen: Ein einziges Bühnenbild, schräg auf den Betrachter zustürzend, drei Schauspieler, zwei Medien nur: Wort und Blut, literweise. Erschüttert geht man nach Hause. Die Handlung in diesem vielleicht brutalsten Liebesdrama der deutschen Theatergeschichte kurz gesagt: Im Kampf um Troja geraten der griechische Heerführer Achill und die Königin der Amazonen, Penthesilea aneinander. Beide trachten einander nach dem Leben. Beide schworen sich, als Sieger vom Platz zu gehen. Aber sie verstricken sich darüber in ein Liebeswerben, das beide derart in den Wahnsinn führt, dass Penthesilea im letzten Kampf dem Achill, der sich um ihretwillen schwach stellt, die Rüstung vom Leib, den Brustkorb mit den Zähnen aufreißt und blutbesudelt sein Herz verspeist. Weil sie den Geliebten nicht nur mit Leib und Seele besitzen, sondern ganz in sich aufnehmen will. So kommt das Abgründige, das Unbegreifliche und Erschütternde der Liebe zum Vorschein, das uns nicht nur fasziniert, sondern Angst macht, wenn es uns auch nur von ferne begegnet.
Und natürlich kein Zufall, dass Kleist in den Imaginationen seiner Verse mit seinem Achill auf die Gestalt des Christus des Abendmahls anspielt, bis ins Wörtliche hinein. Ausgerechnet der Muslim Navid Kermani kommentiert das mit den Worten:
„[…] der Gott der Bibel, nicht weniger als Penthesilea und Achill ist er rasend vor Liebe. Und auch die Menschen der Bibel lieben nicht wie im Vorabendprogramm, sondern ohne Maß; sie verschreiben sich ihrem Herrn buchstäblich mit Haut und Haaren, sind unterwürfig, aber auch rebellisch, werben um den Herrn, wenn er sich ihnen entzieht, und beschimpfen ihn, wenn er sie misshandelt, klagen die Zuneigung des Geliebten in immer neuen Worten ein. Das macht die Bibel groß, groß auch für Ungläubige: Sie erzählt nicht von Übersinnlichem, sondern von der irdischen Erfahrung […] über das Vertraute, das Angenehme, das Gefällige hinaus. Insofern ist die Bibel göttlich, als sie menschlich ist im Extrem.“4
In einem Brief schrieb Kleist über sein Drama, er habe in der Penthesilea den ganzen Schmutz und Glanz seiner Seele ins Wort gebracht.
VIII
Wenn wir heute dieses geradezu archaisch verwurzeltes Essen des Fleisches und Blutes Christi mit Fronleichnam öffentlich sichtbar feiern, sagen wir der Welt, dass ihr Unbegreiflichstes und ihr Wunderbarstes aus einer Liebe Gottes hervorgeht und in ihr eingeborgen ist, für die der einzig angemessene Name „Abgrund“ lautet – und mit einem Gott zu tun hat, der nach menschlichem Maßstab verrückt ist im buchstäblichen Sinn. Das ist der Boden, auf dem der christliche Glaube steht. Vielleicht muss man sich bisweilen von einer Penthesilea-Aufführung schockieren lassen, um besser zu erahnen, was wir in der Eucharistie feiern.
1Vgl. McLuhan, Marshall: The Medium is the Message. New York u.a. 1967 (dt. Die Botschaft ist das Medium. Hrsg. u. übers. von Martin Baltes. Dresden 2001).
2Sermo LXXXIV: De Ascensione Domini II, 2 (Patrologiae Latinae Tomus LIV, Sp. 398): „Qood itaque Redemptoris nostri conspicuum fuit, in sacramenta transivit.“
3Aus dem „Pange lingua“ von Thomas von Aquin um 1263/64 (Gotteslob [2013] 494).
4Kermani, Navid: Die Liebe bei Kleist. In: Berliner Ensemble. Penthesilea von Heinrich von Kleist. Spielzeit 2017/18. 10-15. Hier 15.