Aussicht
5. Ostersonntag C: Offb 21,1-5a + Joh 13,3!-33a. 34-35
I
Ein protestantischer Missionar arbeitete schon viele Jahre bei den Papuas in der Südsee. Da ging er auch daran, die Bibel in die Sprache der Einheimischen zu übersetzen. Das war viel schwieriger, als er gedacht hatte. Zum Beispiel fand er einfach nicht den richtigen Ausdruck für „Hoffnung“. Eines Tages musste er sein jüngstes Kind zu Grabe tragen. Ein Papua-Junge, der ihm dabei zusah, fragte ihn: Warum weinst du eigentlich nicht? Der Missionar gab zur Antwort: Wir werden uns wiedersehen. Unser Kind ist bei Gott. Darauf der Papua-Junge: Ich glaube, ich versteh’ dich. Ihr Christen schaut über den Horizont hinaus. Da wusste der Missionar, wie er das Wort „Hoffnung“ übersetzen musste.
II
Über den Horizont hinausschauen – das tun freilich nicht nur die Christinnen und Christen. Das tun Menschen seit dem Tag, da es sie gibt. Zu allen Zeiten gingen ihre Gefühle und Gedanken hinaus über die Welt, wie sie ist. Sie ersehnten sich ein Leben, in dem alles zusammen stimmt. Manchmal versuchten sie, diesem Anderen, dieser Zukunft auf die Sprünge zu helfen, sie mit eigener Kraft herbeizuführen. Das ging jedes Mal schief, am schlimmsten immer dann wenn politische Systeme das leisten sollten. Sie brauchen nur an den vor Jahren zusammengebrochenen Kommunismus zu denken, an das, was er versprochen und an das, was er hinterlassen hat. Er war eine innerweltliche Religion gewesen. Versprochen hatte er das Paradies für alle, hinterlassen Millionen Opfer, Ruinen und ver-seuchte Erde. Freilich: Die derzeit siegreiche Ideologie, der Markt mit seinen Götzen Geld und Gewinn, der bringt auch nichts Besseres hervor; nur dass die Opfer und die Kosten besser versteckt sind. Ich denke, das ist deswegen so, weil beide Hoffnungen, die kommunistische und die kapitalistische, nicht weit genug über den Horizont hinausschauen.
III
Christinnen und Christen tun das genauer und darum schauen sie weiter. Und einer unserer Vorfahren im Glauben, der Seher, von dem das Buch der Offenbarung stammt, der hat dieses Hinaus-schauen, das weit genug ist, in eindringliche Bilder gesetzt. Damals, als er das niederschrieb, ging es den Christen nicht gut. Sie war eine Minderheit, verfolgt und angefeindet. Viele mussten ihren Glauben mit dem Leben bezahlen. Trotzdem: Seit Ostern waren sie überzeugt: Gott ist Herr über Leben und Tod, er allein; und das Leid, die Not, die Trauer haben nicht das letzte Wort. Die Welt ist voller Elend, das Böse übermächtig stark. Aber genau deswegen wird, weil Gott ist, wie er ist, nicht alles für immer beim Alten bleiben. Darum waren sich Christen wie Johannes gewiss: Die Schöpfung wird nicht nur repariert werden und einen neuen Anstrich bekommen, nein: Einen neuen Himmel und eine neue Erde wird Gott schaffen. Das Alte kommt an ein endgültiges Ende. Und die Urmacht, das Chaosmeer, dem Gott die erste Schöpfung und ihre Ordnung gleichsam entrissen hatte, dieses Chaos, zugleich Sinnbild für Gefahr, Untergang und Tod, – es wird nicht mehr sein.
In dieser neuen Schöpfung werden die Menschen auch eine neue Wohnstatt bekommen, keine mehr, die sie sich selber aufbauen müssen, sondern eine, die von Gott kommt. Und diese Stadt der Menschen selber wird zugleich Gottes Wohnung unter den Menschen sein. Kein Tempel, kein heiliger Bezirk, den nur Auserwählte betreten dürfen. Wie die Menschen im neuen Jerusalem neu miteinander leben werden, das macht sie Gott nah und ihm verbunden. Ich bin mir sicher: Als er das schrieb, hat der Seher an die Stelle im heutigen Evangelium denken müssen: Als Jesus kurz vor seinem Tod seinen Jüngern sagte: Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Die, die dem neuen Gebot folgen, werden neue Menschen und bilden die neue Stadt. Und sie selber sind Gottes Wohnung. In ihnen und durch sie ist er da. Und weil er so nah ist, wird es Tränen und Tod nicht mehr geben.
IV
So getraut sich der Seher von der Zukunft zu denken, weil Ostern war. Wenn Gott diesen Jesus nicht fallen ließ, denkt er sich, dann wird ihm auch nicht gleichgültig sein, wie viele Tränen geweint, wie viele Worte geklagt, wie viele Mühen getragen wurden in dieser Welt. Eben das hatte Jesus ja von Gott gesagt. Und genau das hat Gott an diesem Jesus am Ostermorgen bestätigt. Gott selbst hört den Seher sagen: Seht, ich mache alles neu! Ebenso hätte er hören können: Ihr seid nicht eingesperrt im Leben und in der Welt, wie sie sind!
V
Das heißt über den Horizont hinausschauen! Denn diese Verheißung schließt ein, dass die Opfer nicht vergessen sind und dass einmal alles anders, aber nie mehr einfach nichts sein wird. Wer diese Hoffnung des Sehers teilen kann, dem schenkt sie viel: Sie tröstet und sie nimmt eine Last ab. Keiner von denen, die mir nahe waren, und auch ich selbst einmal, – wir werden nicht verloren gehen, selbst wenn unser Leben unfertig geblieben ist. Und: Die paar Jahre, die mir auf Erden geschenkt sind, entscheiden nicht auf Gedeih und Verderb, was meine Ewigkeit ausmachen wird. Es gibt mehr, als mein Leben jetzt, es wird etwas Überraschendes, etwas Neues sein. Und Gott hält es schon für uns bereit.