Philosophische Weihnacht - Predigtreihe St. Ludgeri - Advent 2018
Teil 4

Gott gebären: Meister Eckhart, Angelus Silesius, Hölderlin, Rilke und Massimo Cacciari denken über Maria nach

I
Drei Sonntage lang ließen wir uns jetzt von Klassikern der modernen Philosophie ins Weihnachtsgeheimnis hinein begleiten. Heute kommt ein Name hinzu, der noch nicht so sehr vielen vertraut sein dürfte. Massimo Cacciari. Cacciari ist einer der gegenwärtig prominentesten Philosophen in Italien. Bekannt geworden ist er durch seine politischen Engagements. Zweimal wurde er unter anderem für Jahre zum Bürgermeister von Venedig gewählt. Heute gehört er zu den Wenigen, die zusammen mit Papst Franziskus der derzeitigen neofaschistischen Regierung Italiens und ihrem menschenverachtenden Umgang mit Flüchtlingen Widerstand leisten.

Cacciari, groß geworden in katholischen Traditionen wie für Italien selbstverständlich, dann in Distanz gegangen zum Klerikalismus der dortigen Kirche und zum Agnostiker geworden, ist gleichwohl ein Denker, der wie wenig Andere mit der christlichen Tradition und Theologie vertraut ist und sie in sein philosophisches Denken hineinnimmt. Und so kommt es, dass er neben seinen großen Werken, die das dokumentieren, vor ziemlich genau einem Jahr auch eine kleine philosophische Mariologie veröffentlichte, Generare Dio betitelt, am besten zu übersetzen als Gott gebären.
II
Mit diesem Titel ist natürlich bereits die Tradition angedeutet, in die Cacciari seine Gedanken einbettet: Es ist jener mystisch-philosophische Denkstrom, der schon in der Spätantike bei Origenes anhebt und in Meister Eckhart seinen spekulativen Höhepunkt erreicht. In einer seiner Predigten, die von ihren Anfangsworten her Ave gratia plena (Sei gegrüßt, Gnadenvolle) eigentlich eine weihnachtliche Marienpredigt ist, setzt Meister Eckhart aber beim ersten Wort des Johannes-Prologs an, um die Geburt Christi als ewige, in jedem Hier und Jetzt geschehende Gottesgeburt in der Seele des Menschen auszulegen:

„In principio. Damit ist uns zu verstehen gegeben, daß wir ein einiger Sohn sind, den der Vater in Ewigkeit geboren hat aus dem verborgenen Dunkel ewiger Verborgenheit, und doch innebleibend im ersten Beginn der ersten Lauterkeit, die da ist die Fülle der Lauterkeit. Hier habe ich in Ewigkeit geruht und geschlafen in der verborgenen Erkenntnis des ewigen Vaters, innebleibend, nicht ausgesprochen. Aus dieser Lauterkeit hat er mich in Ewigkeit geboren als seinen eingeborenen Sohn in das Ebenbild seiner ewigen Vaterschaft, auf daß ich [auch] Vater sei und den gebäre, von dem ich geboren bin. Gleichsam so, als stünde einer vor einem hohen Berge und riefe ‘Bist du da?’, so würde der Widerschall und -hall zurückrufen: ‘Bist du da?’... So tut Gott: Er gebiert seinen eingeborenen Sohn in das Höchste der Seele. Und zugleich, da er seinen eingeborenen Sohn in mich gebiert, gebäre ich ihn zurück in den Vater.“1

Durch den Barock-Dichter Johannes Scheffler, genannt Angelus Silesius, haben diese subtilen Gedanken jenen dichterischen Ausdruck gefunden, der sie so geschmeidig macht, dass geistliche Merksätze daraus werden konnten:
    „Ich muss Maria sein und Gott aus mir gebären“,
heißt das bei Angelus Silesius, oder:
    „Was hilft mir, Gabriel, dein „Salve“ (dein Gruß) an Maria,
    wenn du nicht die gleiche Botschaft für mich hast.“
Oder:
    „Wenn du dich dazu bereitmachst, zeugt Gott seinen Sohn in jedem Augenblick in dir als seinem eigenen Thron.“
Und natürlich gehört dazu das allseits bekannte
    „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärest ewiglich verloren.“
Alle diese Dicta möchten nichts anders sagen, als dass es sich bei der Geburt Christi aus Maria nicht um einen Einzelfall handelt, sondern um ein Modell der Zeugung Gottes in der Seele – dass Maria also eine ewige Idee repräsentiert, die uns unmittelbar angeht.

Cacciari findet dies besonders berührend zum Ausdruck gebracht in Marienbildern aus dem 15. Jahrhundert, etwa den Werken von Andrea Mantegna oder Giovanni Bellini, die Maria voller Zärtlichkeit und zugleich schon mit einem melancholisch-ahnungsvoll in die Zukunft gehenden Blick auf das Kind in ihren Armen schauen lässt, das Gesicht so nah an dem seinen, so als ob sie es im nächsten Augenblick küssen wollte. „Glykophilousa“, die „Zärtliche“ oder „Süß Küssende“ wird dieser Bildtypus genannt, der häufig auch in der Welt der Ikonen begegnet. Himmlische und irdische Welt küssen sich. Dahinter steht im Letzten jener Gedanken aus dem alttestamentlichen Buch der Sprichwörter, wo die Weisheit als Gottes erstes Geschöpf, als sein geliebtes Töchterlein begegnet, das vor ihm spielt. Mystiker und Theologen haben Maria als Manifestation, ja im Grunde als Inkarnation dieses Erstlings der Schöpfung verstanden, die Weisheit, aus der dann als Mutter der fleischgewordene Gott-Logos in die Welt treten wird.

„In Maria“, schreibt Cacciari, „küsst die himmlische Welt die irdische… Die himmlische Welt, die sich im Bild Mariens ausdrückt als mütterliche Weisheit, küsst den Sohn, der Gott ist… Das innergöttliche Leben vollendet sich, in dem es alles Kreatürliche und Irdische in sich einbegreift und in seinem Licht verklärt."2

So wird das weihnachtliche Inbild der Glykophilousa zur Erscheinung unserer letzten Heimat, des himmlischen Jerusalem auf Erden.

Bewegt zu diesen erstaunlichen Gedanken hat Cacciari, dass sich im Leib Mariens der erste Akt der Kenosis des Herrn, dieses Sich Entäußern Gottes vollzieht, in dem sein wahres Großsein aufleuchtet. Berühmte Philosophen des Christlichen wie ein Hegel oder Schelling hätten, so Cacciari, das übersehen und eben darum nicht wahrgenommen, dass „die Frau“ – gemeint ist Maria – zugleich Zeichen der Fülle der Zeit ist, weil eben jetzt Gott seinen Sohn gesandt hat, wie es im Galaterbrief heißt, und es „die Frau“ ist, die nach dem Zeugnis der Offenbarung des Johannes ihren Sohn rettet und so seine Botschaft bewahrt.

III
Einmal nun auf diese mystische Spur der Mariologie gestoßen, lässt Cacciari sich auf ihr von jüngeren Dichtern in noch ganz andere, weitere Gefilde führen. Das weihnachtliche Großgedicht For the Time Being von Wystan Hugh Auden aus dem Jahr 1944 spielt dabei eine Rolle, aber noch ausdrücklicher Rainer Maria Rilke. Einige Verse aus dessen berühmten Stundenbuch sprechen ihm von Maria und deuten verhalten jenes Ineinander von göttlichem und kreatürlichem Leben an, von dem bislang aus Quellen der Mystik und Ästhetik die Rede war. Bei Rilke lesen wir etwa:
    „Daraus, dass Einer dich einmal gewollt hat,
    weiß ich, dass wir dich wollen dürfen.
    Wenn wir auch alle Tiefen verwürfen:
    wenn ein Gebirge Gold hat
    und keiner mehr es ergraben mag,
    trägt es einmal der Fluss zutag,
    der in die Stille der Steine greift,
    der vollen.

    Auch wenn wir nicht wollen:
    Gott reift.“3

Gott reift – ein Gedanke, der gewiss quersteht zum durchschnittlichen Katechismuswissen und dennoch längst zu den heimlichen Treibsätzen gegenwärtiger Theologie gehört, die überzeugt ist, dass Gott sich durch sein Fleischwerden in Jesus auf ein regelrechtes Weltabenteuer eingelassen hat. Das spielt Cacciari an den Marien-Szenen der Evangelien und einigen ihrer Interpretationen von Späteren durch. Auf diese Weise materialisiert sozusagen eine der Anrufungen aus der Lauretanischen Litanei, die Maria als Sedes sapientiae, als Sitz der Weisheit tituliert und seit je so etwas wie den Ankerpunkt einer marianischen Philosophie oder philosophischen Mariologie repräsentiert.

IV
Ein anderer deutscher Dichter führt den Philosophen aber selbst noch über diese Gedanken eines werdenden Gottes hinaus in noch kühnere Gefilde. Cacciari zitiert nur wenige Wort von ihm – und doch sind diese so etwas der äußerste Horizont seiner weihnachtlich-marianischen Meditation. Es handelt sich um Friedrich Hölderlins späten Hymnenentwurf, den die Herausgeber später mit An die Madonna überschrieben. Aus den 164 Versen hier nur ganz kurze Auszüge.
    Viel hab’ ich dein
    Und deines Sohnes wegen
    Gelitten, o Madonna,
    Seit ich gehöret von ihm
    In süßer Jugend;
    Denn nicht der Seher allein,
    Es stehen unter einem Schiksaal
    Die Dienenden auch. (…)

    Geboren dir im Schoose
    Der göttliche Knabe und um ihn
    Der Freundin Sohn, Johannes genannt
    Vom stummen Vater, der kühne
    Dem war gegeben
    Der Zunge Gewalt,    
    Zu deuten

    Und die Furcht der Völker und
    Die Donner und
    Die stürzenden Wasser des Herrn.

    Darum beschüze
    Du Himmlische sie
    Die jungen Pflanzen und wenn
    Der Nord kömmt oder giftiger Thau weht oder
    Zu lange dauert die Dürre
    Und wenn sie üppigblühend
    Versinken unter der Sense
    Der allzuscharfen, gieb erneuertes Wachstum.
    Und daß nur niemals nicht
    Vielfältig, in schwachem Gezweige
    Die Kraft mir vielversuchend
    Zerstreue das frische Geschlecht, stark aber sei
    Zu wählen aus Vielem das beste.(…)

    Vor allem, daß man schone
    Der Wildniß göttlichgebaut
    Im reinen Geseze, woher
    Es haben die Kinder
    Des Gotts, lustwandelnd unter
    Den Felsen und Haiden purpurn blühn
    Und dunkle Quellen
    Dir, o Madonna und
    Dem Sohne, aber den anderen auch
    Damit nicht, als von Knechten,
    Mit Gewalt das ihre nehmen
    Die Götter.4

Ein Poem voller Rätsel, noch dazu unfertig und darum umso schwerer zu verstehen. Aber hört man sehr genau hin, so entdeckt man, dass Hölderlin da, ganz ähnlich wie in seinen berühmten Christus-Hymnen seiner Leitidee zuarbeitet, antike Weisheit und Religion mit dem Christlichen zu verweben sich wechselseitig deuten zulassen. So ziehen sich durch den ganzen Hymnus in der Benennung von Natürlichem – junge Pflanzen, üppig blühend, Wildnis göttlichgebaut, Haiden, dunkle Quellen – Anspielungen auf Gaia, die göttliche Urmutter Erde, die sich im griechischen Mythos gegen Uranos wie gegen den die eigenen Kinder verzehrenden Kronos stellt, um das junge, neue Leben zu schützen. Eben dieses Ineinanderfließen von Gaia und Maria unter dem Vorzeichen neuen und immer wieder erneuerten Lebens findet seit je seinen Widerhall in der christlichen, speziell katholischen Marienfrömmigkeit. Und wenn man nur ein wenig auf einige Konkretfälle solcher Zusammenschau blickt, wird wie von selbst klar, welchen spirituellen Raum eine philosophische Mariologie eröffnet – und dass sich für uns Christinnen und Christen in Weihnachten ein Tiefenstrom geistlicher Weltsicht verdichtet, der im Grunde durch alle Kulturen und Religionen fließt.

V
Denken Sie nur einmal an die großen Marien-Wallfahrtsorte, in Altötting, in Kevelaer, in Lourdes und Fatima. Oder nehmen Sie die Verehrung der Jungfrau von Guadalupe in Mexico-City, dem größten Marienwallfahrtsort der Welt. Dort in Guadalupe leuchtet jenes Umgreifende der Gestalt Mariens, um das es Hölderlin und mit ihm dann auch Caccari geht, in besonderer Weise auf. In Guadalupe wird Maria liebevoll „Morena“, also Mohrin genannt, weil ihr Bildnis sie dunkelhäutig zeigt. Maria, so die Überlieferung, ist damals einem jungen Indio in Gestalt eines dunkelhäutigen Mädchens erschienen, just an einem Ort, wo vorher die aztekische Göttin Tonantzin verehrt wurde. „Tonantzin“ heißt übersetzt „verehrte Mutter“ und war die wichtigste Göttin im vorspanischen Mexiko als Göttin des Lebens. Für Christinnen und Christen Lateinamerikas ist das mit dieser Gestalt verbundene uralten Suchen nach dem Leben und die Ehrfurcht vor ihm gleichsam in die Gestalt Mariens eingeflossen und hat in ihr sozusagen einen geistigen Ort gefunden.

Ganz ähnlich verhält es sich in Kuba, wo Maria bis heute die Züge der „Patcha Mama“ trägt, der Mutter Erde, und auch in ihrer Gestalt dargestellt wird mit dem weit ausgestellten, bis zum Boden reichenden Gewand, das den Weltenberg, d.h. die ganze Schöpfung symbolisiert. Oder im Ägypten der Antike die Göttin Isis, mit ihrem Sohn, dem Horus-Knaben auf dem Arm, auf der Mondsichel stehend und manchmal eine Schlange niedertretend – auch sie einst die Göttin des Lebens und der Todesüberwindung. Für Christinnen und Christen ist das alles kein heidnischer Unfug, sondern so etwas wie ein ahnungsvolles Vorausbild und Vorspiel dessen, was wir uns christlich in Maria als geschenkt und eröffnet glauben.

VI
Bisweilen kann man hören oder lesen, die auffällig intensive Praxis der Marienverehrung gerade in der katholischen Tradition sei die Rache des affektiven Anteils gläubiger Seelen an dem total vermännlichten christlichen Gottesbild – der Vater, der Sohn, der Heilige Geist – und erst recht an der exklusiven Virilität der kirchlichen Strukturen. Da mag etwas daran sein, jedoch reicht es über das Oberflächliche kaum hinaus. Die wahre Tiefenschicht des marianischen Prinzips, wenn ich es einmal so nennen darf, hat mit dem unverfüglichen Geschenk des Lebens zu tun, das niemand sich selbst gibt, sondern im Letzten nur aus der Unergründlichkeit Gottes kommen kann. Und Maria ist das christliche Inbild dieses Berührungspunktes von Himmel und Erde, umspielt von all den genannten Gestalten, in denen sich diese geistliche Ahnung bereits vor- und auch außer-christlich immer schon zur Geltung gebracht hat. In der Gestalt Mariens, sagt Cacciari, hat das Christentum nicht nur über die Beziehung zwischen Gott und der menschlichen Geschichte nachgedacht, sondern über das geheimnisvolle Wesen Gottes selbst und ist eben darin – wenn dieses Nachdenken tief genug geschieht – mit allen Dichtenden und Denkenden anderer Religionen und Philosophien, die auch Gott suchen, über alle Unterschiede hinweg verbunden.

VII
Weihnachten ist darum das Fest der Unzerstörbarkeit des Lebens, weil es etwas Göttliches ist. Kein Wunder darum, dass das liturgische Fest der Gottesgeburt auf den vorchristlich schon gefeierten römischen Festtag des Sol invictus gerückt ist, den Tag der unbesieglichen Sonne, die im Herbst und Winter immer schwächer wird, um dann vom Wintersonnwendtag an zu ihrer strahlendsten Helle und Glut aufzusteigen.  

Gleichwohl aber bedarf das neue Leben des zärtlichen und behutsamen Schutzes ob seiner Verletzlichkeit. Ältere Weihnachtskarten haben manchmal das Christkind in einer Krippe gezeigt, die die Form einer Kreuzblume hatte. Das deutet – bei aller emotionalen Tönung von Weihnachten, die durchaus ihr Recht hat – auf den tiefen Ernst des Festes hin. Nicht umsonst hat Cacciari gleich auf der ersten Seite seines Büchleins – wie erwähnt – daran erinnert, dass sich der erste Akt der Kenosis im gremium humilis, im demütigen Schoß „der Frau“ vollzieht (und nicht im Schoß des Vaters, wie Nikolaus Herman im Weihnachtslied Lobt Gott, ihr Christen alle gleich behauptet).

So schließt der Kreis unserer Weihnachtsbetrachtungen, bei denen wir uns von Philosophen haben leiten lassen. Und vielleicht ist dieses Weggeleit durch die Philosophia, die Liebe zur Weisheit, das beste Gegenmittel, um Weihnachten dem Würgegriff von Kommerz und Kitsch zu entwinden. Gesegnete Weihnachten!


1Meister Eckhart: Predigten. Deutsche Werke I, 381, 3 -383, 8.
2Vgl. Cacciari, Massimo: Generare Dio. Bologna 2017.95.
3Rilke, Rainer Maria: das Stundenbuch, Bd. 1.1. 262.
4Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe, Bd. 2.1. 211-216.