Paulinische Entschiedenheit

28. So A: Phil 4, 12-14. 19-20

I
Vorhin, in der zweiten Lesung haben wir die Schlussverse aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi gehört. Das war die erste Gemeinde, die der Apostel, dieser rastlose Unruhegeist, während seiner zweiten Missionsreise in Europa gründete. Geschrieben sind die Zeilen nach allem, was sich zwischen ihnen erahnen lässt, aus einem Gefängnisaufenthalt, den ihm seine Missionstätigkeit eingetragen hatte. Außenstehenden, zumal auch Juden in der Diaspora, konnte das nur als Aufwiegelei und Unruhestiftung erscheinen. Deshalb sperrte man Paulus weg. Das hat ihn aber nicht gehindert, ausgerechnet in dieser prekären Situation eines der wunderbarsten Lieder des Neuen Testaments zu dichten: den berühmten Philipper-Hymnus, Verse in denen Paulus vermutlich auf der Basis eines schon vorliegenden, noch älteren Liedes das christliche Gottesgeheimnis auf den Nenner der Kenosis bringt, wie man in der Theologie sagt: dass Gottes größte Größe genau darin besteht, sich in Christus klein zu machen, all seiner Größe und Macht und Pracht zu begeben, auf dass sich die, an die er sich wendet – wir Menschenkinder – nicht mehr fürchten, weil da ein Gott ist, der uns gleichsam auf Augenhöhe begegnen mag und so seine rückhaltlose Sympathie für seine Geschöpfe bezeugt. Gleich dazu mehr.

II
Dieser unbedingten Entschiedenheit Gottes für uns kann für den Apostel freilich nichts anderes entsprechen als eine eben solche Entschiedenheit des Menschen für diesen Gott. Und die predigt er nicht nur im Philipperbrief, sondern überall, wo er sich zu Wort meldet.

Genau diese Entschiedenheit hat dazu geführt, dass eben dieser Paulus in den letzten Jahren zum heimlichen Leitstern, ja buchstäblich zum Star zeitgenössischer Philosophen geworden ist, von denen das niemand vermutet hätte: Denn fast alle sind mehr oder weniger politisch dem linken Spektrum zuzuschlagen und verstehen sich als Materialisten und/oder Atheisten: Alain Badiou in Frankreich, Giorgio Agamben in Italien, Slavoi Zizek in Slowenien, Eric Santner in Amerika, in Deutschland mit einer dezidiert nicht-atheistischen Sicht Uwe Jochum. Wenn man sich durch die teils sperrigen Schriften dieser Denker durcharbeitet, dann zeichnet sich ziemlich bald über alle Differenzen hinweg ein Gemeinsames in diesem Interesse an Paulus ab: Und das ist, wenn nicht alles täuscht, so etwas wie der Überdruss an den endlosen Dekonstruktionen von Sinnansprüchen, an dem Zerbrechen von Grenzen, der Vorherrschaft lebensdienlichen Zweckdenkens, dem unaufhörlichen Relativieren, das sich die sogenannte Postmoderne auf die Fahnen geschrieben hatte und das am Ende alles – im Denken, Handeln, Glauben – als gleichgültig behauptet und dem darum alles, was Menschen wirklich herausfordert oder ihnen Halt geben kann, in einer bleiernen Monotonie untergeht.

Im Apostel Paulus finden die Genannten so etwas wie eine radikale, ja geradezu rabiate Gegeninstanz: Einen, der alles auf eins setzt: Christus. Einen, der alles, was es an Gütern für ihn gäbe in der Welt, unter ein „als ob nicht“ stellt – für Gott. Einen, der darauf wettet, dass das, was jetzt der Fall, am Ende nicht alles gewesen sein wird – dass es ein Eschaton, ein Letztes und Endgültiges gibt, so dicht und drängend, dass es sich schon jetzt gleichsam an der Innenseite der wichtigen Dinge des Lebens, im Leben und Sterben, in Freude und Trauer, Leid und Leidenschaft geltend macht und darum nichts am Dasein indifferent ist gegen dieses Endgültige: der jüngste Tag gleichsam ein Standgericht im Jetzt, wie Kafka einmal sagte. Einen, der bis ins Mark überzeugt ist, dass alle Grenzen und Differenzen zwischen Menschen – Rang, Rasse, Geschlecht, Religion – zweitrangig sind angesichts dessen, dass Gott selber Mensch wurde, um alles Menschliche zu sich selbst zu befreien und zu erneuern: ein kühner Universalismus des Humanum, hervorgehend aus dem, was der Apostel „Sein in Christus“ nennt, sperrig bis zum Skandalon eines Zeitgeistes, der nur darin ein Unbedingtes kennt, dass er alles Unbedingte ablehnt.

III
Was etliche der genannten Denker aber noch mehr als dies alles in Bann schlägt, ist ein anderer Gedanke des Paulus, einer, der gleichsam noch eine Drehung tiefer liegt und all das eben Genannte überhaupt erst freisetzt. Am deutlichsten ausgesprochen findet sich der Gedanke im Philipperbrief Kapitel 2, in Versen, die wie ein Hymnus klingen, auf die ich eingangs schon angespielt habe, die aber wohl in Wahrheit so etwas wie Paulus’ emphatischste Programmangabe seines ganzen Denkens und Handelns sind:
Er war wie Gott,
hielt aber nicht daran fest Gott gleich zu sein,
er entäußerte sich,
wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich (Phil 2,6–7).
Er entäußerte sich – griechisch: ekenosen: die Denkfigur der Kenosis, wie die Theologen sagen.

Dahinter steht ein atemberaubender Gedanke: Gott hat sich in die Mensch¬¬¬werdung seines Gottseins begeben, hat sich klein gemacht. Doch warum? Antwort: Könnte, wenn das wahr ist, – könnte dann nicht sein, dass er genau darin seine größte Größe erweist? Wenn und weil Gott Gott ist, hat er es gar nicht nötig, sich in Gesten und Taten der Macht zu manifestieren, sondern – menschlich gesprochen – tut er das darin und dergestalt, dass er sogar noch auf das Mächtigsein verzichtet, um das zu sein, was er in Wahrheit ist: Quelle und Urgrund von allem, was lebt.

Wenn die Macht des denkbar Mächtigsten – also Gottes, traditionell gesprochen – in der Preisgabe dieser Macht zugunsten von anderem besteht – dass dieses andere sei –, und wenn sich darin das wahre Mächtigsein dessen zeigt, worüber hinaus Mächtigeres nicht gedacht werden kann, dann kann es in der Welt nichts Mächtiges mehr geben – keine Moral, kein Dogma, keine Autorität –, das sich diesem Kriterium des Seins-für-Anderes zu entziehen vermöchte. Und auch wenn es so etwas wie Gottes Allmacht gibt, dann kann sogar diese nur die Form des unbedingten Seinlassens von anderem haben. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo füllt die Hohlform dieser Macht, die sich im buchstäblichen Seinlassen von anderem vergegenwärtigt, wortwörtlich mit dem Begriff der „caritas“, der Liebe, übrigens in bemerkenswerter Nähe zu Augustinus, der einmal in seinem Johannesbriefkommentar sinngemäß geschrieben hat: Jemandem bekennen „Ich liebe dich“, heiße, ihm oder ihr zu sagen: „Ich will, dass Du bist.“

Man muss daraus nicht sofort wie einige der heutigen Paulus-Denker den Schluss ziehen, das Christentum sei im Kern eine Anti-Religion, eine, die sich gleichsam selbst überflüssig macht. Und dennoch blitzt in solchen Folgerungen etwas vom revolutionären Ursprung des Christlichen auf. Dieser Glutkern des Glaubens besteht darin, dass Gott seit dem Karfreitag eben nie mehr der große Andere genannt werden kann, – besteht darin, dass alle Alterität unterlaufen und relativiert ist, weil er die letzte Andersheit überhaupt, die zwischen sich und dem Tod, dem Nichts, – weil er auch die noch in sich hinein genommen, in sich verwunden hat. Denn sonst würde die Welt nicht mehr, würde gar nichts mehr sein.

IV
Was mich überzeugt sein lässt, dass man mit solchen Gedanken dem Apostel nichts ihm Fremdes unterschiebt, hat seinen Grund übrigens in der Weise, wie er sein eigenes apostolisches Amt beschreibt. Im 2. Korintherbrief begegnet eine Stelle, die klingt wie der pastoral-kirchenamtliche Reflex der Kenosistheologie: In Kapitel 5, Vers 20 sagt Paulus von sich:
Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!
Was für ein Wort! Ich habe es deshalb auf mein Primizbildchen drucken lassen. Christus bittet den Menschen, und da er selbst das Inbild und Gleichnis Gottes aus Fleisch und Blut ist, tut das in ihm Gott selbst. Gott bittet den Menschen um die Rückkehr in die Gemeinschaft mit ihm und der bittende Christus ist seine sichtbare Ikone, das wahre Bild von Gott. An diesem bittenden Christus nimmt der Apostel Maß für seine eigene Predigt und sein seelsorgliches Handeln. Er, der glühende Fanatiker von einst, der die junge Christengemeinde aus orthodoxem Eifer nach eigenem Wort bis aufs Blut verfolgte, er wird zum Bittsteller im Dienst des Unbedingten.

Mir will scheinen, das sei ohnehin die einzige Weise, wie endliche Wesen, die wir sind, mit Unbedingtem verantwortet umzugehen vermögen. Denn das Bitten bewahrt uns davor, usurpatorisch die Adressaten dessen, was wir als Botschaft weitersagen möchten, zu übermächtigen. Die Kehrseite des Bittens ist ja die Freiheit. Und was stünde mehr im Zen¬trum der Predigt des leidenschaftlichen Christusboten Paulus als eben sie! Liebe und Freiheit, zusammengewachsen aus einem Leben, das auf den Gott Jesu Christi setzt, der sich bis zur Selbstpreisgabe drangibt für das, was er gewollt hat. Bezeichnend: Im Griechischen steht für das deutsche Wort „Versöhnung“ „katallage“, wörtlich übersetzt „Tausch von oben her“: eine asymmetrische Ökonomie, die ungeschuldet von Gott ausgeht, auf seine Kosten. Gibt es in einer Welt der Götzen und des Machtgeprotzes etwas, das widerspenstiger wäre gegen die Logik des „do ut des“ und der Sachzwänge als dieses – so wörtlich 2 Kor 5,18 – „Wort der Versöhnung“, dieses – so könnte man umschreiben – „Wort vom zuvorkommenden Tausch“?

Im Galaterbrief hat Paulus mit glänzender Rhetorik die Künste der Rhetoriker kritisiert, weil er im Konflikt um die christliche Freiheit erlebt, wie rasch sie der Täuschung der Hörerschaft dienen. Ähnliches geschieht überall dort in seinen Briefen, wo es um die Weisheit, ums Philosophieren geht: Mit dem scharfen Schwert des Wortes vom Kreuz schlägt er der Menschenvernunft eine Wunde. Aber es ist eine heilsame Wunde, denn sie nimmt dem menschlichen Denken alles selbstgenügsame In-sich-verkrümmt-Sein und weitet so die Vernunft, auf dass aus ihr eine Weisheit werde, die auch das Dunkle und Irrationale noch in sich aufnimmt, das uns begegnen mag. Gegen den Primat der besorgenden und beherrschenden Vernunft daran zu erinnern, dass es auch eine vernehmende Vernunft gibt, die im Sich-Verdemütigen weise, also durch Erleiden belehrt wird – pathei mathos, wie es bei dem Tragiker Aischylos schon heißt. Das meint der Apostel, wenn er die Glaubenden gegen Ende des Römerbriefes zur „logikae latreia“ (Röm 15,1) aufruft, zum „vernünftigen Gottesdienst“. Darauf zu beharren, dass es diesen gibt und wie er sich vollzieht, das mag nicht der geringste Dienst sein, den der Apostel seinen Philosophenkollegen bis heute erweist.