Einstellungssache
Erster Sonntag nach Trinitatis: Lk 16,19-31 (Oberservantenkirche/Kanzeltausch)
I
Immer wieder halten uns die Bildschirme und Zeitungen grässliche Bilder entgegen: Vor laufender Kamera verhungern in Somalia Menschen. Wenn Helfer sie überhaupt erreichen, sind die ausgemergelten Gestalten zu schwach, um noch etwas zu sich zu nehmen. Sie sterben unter den Händen der Rettungsmannschaften. Die, die sich noch aufrechthalten, essen ihre Kleider und die Häute verhungerter Tiere. Andere – man muss es so sagen – krepieren an der Ebola-Epidemie, weil Pharma-Firmen die Entwicklung hilfreicher Medikamente nicht weiter verfolgen, sofern sie sich davon keinen Profit versprechen. Auf den Flüchtlingsbooten auf dem Mittelmeer bringen sich abgemagerte Gerippe im Kampf um ein Stück Brot gegenseitig um. Und ganz zu schweigen von dem, was im Vorderen Orient abläuft: dass da einfach ein irgendwie überstaatlicher Staat – das Kalifat – entstehen kann, das hochmoderne Kommunikationskanäle mit nachgerade steinzeitlichen, brutalen Ordnungssystemen inklusive der Online-Enthauptung missliebiger Zeitgenossen kombiniert. Aber schon ein paar hundert Kilometer weiter brodelt überschäumendes Leben in Städten wie Warschau, Berlin, München oder anderswo, Leben, dem es nicht nur an nichts fehlt, sondern das sich auf eine Weise zelebriert, die schlichtweg obszön ist – so wenn im angeblich besten Lokal der Welt namens „Noma“ in Kopenhagen für maximal 56 Gäste sage und schreibe 50 Köche das obligatorische 22-Gänge-Menü für knapp 400 € zubereiten.
II
Es ist, als ob ein schrecklicher Dämon die Gleichniserzählung des heutigen Evangeliums in Weltmaßstab auf einer Bühne inszeniert hätte: Ein Reicher macht sich das Leben zum Fest, indem er sich allen Luxus gönnt, der ihm zu Gebote steht. Vor der Tür seines Hauses liegt ein Armer, Lazarus mit Namen, aussätzig und ausgehungert: In vornehmen Häusern wie dem des Reichen pflegte man sich beim Essen die Hände mit dünnen Brotfladen abzuwischen, die man dann unter den Tisch warf. Lazarus wäre glücklich gewesen, wenn er sich davon hätte nähren können. Ein biblischer Müllmensch. Aber stattdessen belästigen ihn herumstreunende Hunde, deren er, der Kranke, sich nicht erwehren kann, wenn sie mit der rauen Zunge über seine Geschwüre fahren.
III
Für den Reichen ist Lazarus Luft. Beide sterben. Lazarus – so das Gleichnis – wird in Abrahams Schoß getragen, das meint: Er erhält den Ehrenplatz beim himmlischen Festmahl, das nach Überzeugung der Pharisäer dem Gerechten gebührt. Der Reiche findet sich in der Unterwelt wieder. Jetzt auf einmal sieht er den Lazarus. Aber wie er ihn sieht, das macht ihm Schmerzen und Qual: Nun erkennt er, dass er mit seiner Art, von seinem Reichtum im Leben Gebrauch zu machen, etwas verspielt hat. Und das kurze Gespräch zwischen dem Reichen und Abraham macht klar: Er hat es endgültig verspielt. Der unüberwindliche Abgrund zwischen Unterwelt und dem himmlischen Festmahl, von dem Abraham spricht, er versinnbildet, dass wir auf Erden nicht auf Probe oder vorläufig leben. An dem, was wir hier und jetzt tun, entscheidet sich, was von unserem Leben einmal vor Gott gültig oder ungültig sein wird.
IV
Der Reiche begreift das sehr gut. Darum richtet er eine zweite Bitte an Abraham: Er solle den Lazarus doch wenigsten zu seinen noch lebenden Brüdern schicken, dass er sie warne und sie es besser machten als er. Doch Abraham antwortete ihm, dass es nicht nötig sei, einen Verstorbenen zurückzuschicken, um Menschen davor zu bewahren, ihr Leben zu verspielen. Mose und die Propheten reichen dafür längst – und die haben sie ja. Wer Gottes Wort, das durch sie erging, traut und folgt, verfehlt den Weg nicht, der sein Leben gültig macht vor Gott. Ganz abgesehen davon, so das Gleichnis, dass auch ein Auferstandener die nicht zur Umkehr bewegen könnte, denen das Wort Gottes gleichgültig ist. Das ist scharf beobachtet, denn das meint: Wie Menschen mit Menschen umgehen – Reiche mit Armen z. B. –, ist eine prinzipielle Einstellungssache. Teilt einer die Einstellung des Reichen im Gleichnis, hilft auch kein Wunder mehr. Mose und die Propheten – also die Gebote und Lebensdeutung dieser kritischen Gottesmänner – werden ihn überzeugt sein lassen, dass Mitgefühl und Warmherzigkeit sein Handeln bestimmen müssen, soll vor Gott einmal bestehen, was er tut und lässt. Und selber einfach zu leben, wird ihm helfen, diese Einstellung zu gewinnen.
V
Bei all dem geht es in keiner Weise um so etwas wie eine Romantisierung der Armut. Wenn Menschen hungern, in Krankheit allein gelassen, in Gefängnissen vergessen sind, aus Mangel an schützender Kleidung erfrieren oder in der Sonnenglut verbrennen, in der Fremde einfach hilflos allein gelassen werden, ist das ein im buchstäblichen Sinn gotterbärmlicher Skandal, an dessen Behebung oder Nichtbehebung sich bekanntlich unser endzeitliches Wohl und Wehe entscheidet – so steht es in Matthäus 25, der letzten Jesus-Rede vor dem Beginn der Passion, sodass man diese Gerichtsparabel als das Vermächtnis Jesu verstehen muss. Armut in diesem Menschen entwürdigenden Sinn darf in den Augen Gottes und darum auch für Christinnen und Christen nicht sein. Das ist das eine.
Doch auf der anderen Seite gilt auch: Es geht im Evangelium nicht darum, reich zu werden. Das ist kein Programm der Wohlfahrtsgewinnung, auch wenn uns das seit einiger Zeit viele evangelikale Gruppierungen, zumal in Lateinamerika und Afrika, mit ihrer Ideologie der Prosperity Gospel weismachen wollen. Der Indizien dafür, dass materielles Wohlergehen und wirtschaftlicher Erfolg ab einem gewissen Level wie von selbst umkippen ins Maßlose und Ungerechte und den Menschen abstumpfen für alle Compassion, ja schlicht für das Menschliche und damit auch für das Spirituelle und die Beziehung zu Gott – der Indizien dafür ist längst Legion. Und sie gelten nicht nur für den einzelnen, die einzelne Gläubige, sondern genauso für Kollektive und darum auch für die Kirchen.
Papst Benedikt hatte ja durchaus etwas Brisantes im Blick, als er während seines letzten Deutschlandbesuchs in Freiburg von der notwendigen „Entweltlichung“ der Kirche sprach – nur haben sich die erzkonservativen katholischen Seilschaften sofort dieses Gedankens bemächtigt, um ihre reaktionären Ideen zu stärken: Theologie raus aus den Universitäten zurück in die kontrollierten Priesterseminare, Kirchensteuer weg, damit keine Mittel mehr da sind, um Laien als Mitarbeiter zu bezahlen (die Konservativen denken komischerweise zuallererst immer ans Geld), Räte-Strukturen abschaffen, damit der Klerus wieder allein das Sagen hat usw. usw. Glaubhafter wäre gewesen, Benedikt hätte auch selbst seine Forderung zuallererst auf den Vatikanischen Apparat und die ihn umgebenden Hofschranzen bezogen, deren Spielball er Schluss geworden war. Sein Nachfolger Franziskus freilich hat genau das vom ersten Auftritt auf der Loggia von San Pietro an symbolisch und praktisch in Angriff genommen. Er ist überzeugt, dass es nicht nur eine Kirche der Armen braucht, sondern eine arme Kirche, deren Hirten den Geruch der Schafe annehmen, wie er formulierte, weil die Kirche nur so transparent bleiben kann auf jenes Jenseits hin, das ihr eigener Ursprung ist. Und typisch: Der erzreaktionäre deutsche Schriftsteller Martin Mosebach hat Papst Franziskus für eben dieses Programm in der Pfingst-Nummer des Spiegel heftig gescholten. In dem Moment, als er, Mosebach, am 17. März 2013 den Namen des neuen Papstes gehört habe – dass er sich als erster Petrusnachfolger nach dem Poverello von Assisi „Franziskus“ nenne –, da habe er gewusst, welche Probleme auf die Kirche zukommen würden.
Neu freilich ist der Kampf um diese Frage einer armen und dadurch glaubwürdigen Kirche nicht. In besonders aufschlussreicher Form führte den Kampf auch einer, dessen 750. Geburtstag wir gerade begehen: Dante Alighieri. Er forderte gegen eine auf Privilegien versessene Machtkirche und ihr Gekungel mit dem politischen Establishment – seiner Zeit um Jahrhunderte voraus – eine stärkere Trennung von Staat und Kirche und war überzeugt, dass Jesus und – interessanterweise – die aristotelische Philosophie eine andere, eine arme Kirche verlangten, wenn diese denn ihrem Auftrag nachkommen wolle. Die Päpste, die zu seiner Zeit genau das Gegenteil praktizierten, ließ er im Inferno seiner Divina Commedia kopfüber in einem Feuerschlund schmoren. Aber noch viel sprechender: Der Teufel hat bei Dante seinen Auftritt nicht inmitten lodernder Feuerflammen, sondern der Dichter steckt den Teufel bis zum Brustkorb in Eis. Er friert ihn ein. Das Inferno in Wahrheit eine Eishölle. Weil sie der menschlichen Herzenskälte entspringt. Genau das sagte uns heute auf Punkt und Komma die Lazarus-Geschichte.
VI
Christsein erfordert so gesehen im Praktischen eine Gratwanderung zwischen der entmenschlichenden Armut, die nicht sein darf, und dem ebenso entmenschlichenden Reichtum, den es wie den Teufel um der Menschen und um Gottes willen zu meiden gilt. Diese Balance zu halten, ist im Übrigen nicht einmal etwas Kompliziertes. Man muss dafür nur unkompliziert sein – wie ein Kind: Vater, sind wir reich?, fragte ein Junge einmal. – Nein, antwortet der Vater. Der Junge darauf: Wir haben genug zu essen. Wir haben eine Wohnung mit einem Zimmer für jeden. Wir haben ein Auto. Alles, was wir brauchen, haben wir. – Reiche Leute haben mehr, als sie brauchen, sagt der Vater. Der Junge überlegt und sagt: Haben Sie dann nicht zu viel? Genauer und einfacher kann man es nicht sagen. Mit dem Sagen freilich ist‘s, sagt das Gleichnis, nicht getan. Erst mit dem Tun.