Wie Jesus seine Zeuginnen und Zeugen gewollt hat
15. So B: Mk 6,7-13
I
Es war einmal eine alte Kirche. Ihr Gemäuer hatte zahlreiche Winkel, breite Fugen und auch ein paar Risse. Dort fanden unzählige Spatzen Platz und bauten ihr Nest hinein. Eines Tages begannen die Leute, die Kirche herzurichten. Als sie in ihrem neuen Glanz dastand, kamen die Spatzen wieder, um ihre alten Wohnungen zu suchen. Aber: Sie fanden sie alle vermauert. Zu was taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, wir verlassen den alten Steinhaufen.
II
Leiht, wer so redet, leiht der seine Stimme jenen, denen es keiner recht machen kann – weil sie „Schlamperei“ schreien, wo nichts getan wird? Weil sie aber genauso murren, wenn geplant, organisiert und erneuert wird? Oder sollte es unserer Fabel um Tieferes gehen. Gar etwas, was mit der Wesensart der christlichen Botschaft zusammenhängt – also damit, wie Kirche sein muss, wenn sie ihrem Herrn entsprechen will?
III
Wer das Evangelium auch nur halbwegs ernst nimmt, den werden die paar Verse, die wir vorhin gehört haben, vermutlich in ein ganz ähnliches Dilemma bringen. Sind Jesu Verhaltensregeln für die, die in seinem Namen sprechen dürfen, – sind die einfach zeitbedingt und damit für uns ohne weitere Bedeutung? Sind es bloß Spuren einer Radikalität des Anfangs, die heute weder möglich noch wünschenswert wäre? Oder hat das, was er da den Seinen ans Herz legt, zu tun mit dem Inhalt der Botschaft, die sie auszurichten haben? Sehen wir zu!
IV
Von Anfang seines Evangeliums an hat Markus bisher – fünf Kapitel lang – einzig davon erzählt, dass Jesus den Anbruch des Reiches Gottes verkündet. Dass also Gott einen Neuanfang anbietet, der die Dinge für uns von der Wurzel her, also von der Beziehung zu Gott her, wieder ins Lot bringt. Diese Botschaft hat Jesus gleichzeitig anschaulich gemacht durch sein Handeln – vor allem dadurch, dass er Menschen geheilt, also der Entfremdung entrissen hat, dem, was Leben zerstört. Selbst das Unverständnis seiner Verwandten hat ihn davon nicht abbringen können. Und auch nicht die knallharte Ablehnung, ja Feindseligkeit, die ihm in seiner Heimatstadt entgegenschlug. Im Gegenteil: Daran merkt er erst, wie ungeheuer tief der Riss zwischen Gott und den Menschen wirklich ist – wenn sie sogar den ablehnen, der nichts anderes will, als ihnen Gottes bedingungslose Liebe und sein Erbarmen auszurichten. Diese Erfahrung bestürzt ihn geradezu. Und aus dieser Bestürzung heraus intensiviert er seine Verkündigung bis zum Äußersten, indem er nämlich seine Jünger aussendet. Er übergibt ihnen die Sendung, in die er sich gestellt wusste, im vollen Umfang. Markus fasst diese Sendung der Jünger zusammen in dem Auftrag, die unreinen Geister auszutreiben. Damit deutet er uns an, worauf das ganze Engagement Jesu im Namen Gottes letztendlich zielt: auf die Befreiung von allem, was Menschen quält und fesselt, was sie ihrer selbst beraubt und Zwängen unterwirft. Und die Jünger tun dies auch. Sie rufen die Menschen zur Umkehr. Sie laden ein, sich herauszudrehen aus dem Gefälle der ausgetrampelten Pfade der Ichsucht, die alle in einer Sackgasse enden. Diese Umkehr braucht es zuerst, damit die Menschen überhaupt merken, dass sie unfrei sind und dass der Geschmack an der Freiheit wieder in ihnen erwacht. Denn dann erst werden sie sie suchen und von Jesus schenken lassen. So dürfen und können die Jünger als Jesu Gesandte Freiheit bringen – und auch heilen. Sie salben viele Kranke mit Öl, damit die, denen es dreckig geht, leibhaft in Zeichen spüren können, dass sie selbst in ihrer Ohnmacht und in ihrem Elend vor Gott ihre Würde behalten. Freisein und Menschsein also dürfen die Jünger im Namen Jesu verkünden und bringen – das also, was jeder Mensch am meisten und immer schon ersehnt.
So groß ist Jesu Auftrag an die Seinen, also die Kirche. Jedoch: Die Größe dieses Auftrags steht in einem seltsamen Kontrast zu den Bedingungen, unter die Jesus selber die von ihm Gesandten stellt. Bedingungen, die uns Heutigen weiß Gott skurril anmuten. Und nicht viel anders haben sie wohl auf die Zeitgenossen Jesu gewirkt – wenn man bedenkt, dass damals jede Reise der Anstrengungen und Gefahren wegen intensiv vorbereitet wurde. Kein Geld sollen die Jünger mitnehmen, ja nicht einmal Brot; keine Vorratstasche und kein zweites Hemd. Nur einen Wanderstab und Sandalen – also das Allernötigste. Sie ziehen los ohne Ausrüstung – und ohne Strategie. Einfach so. Sie haben für ihre Aufgabe nur sich selber und ihre persönliche Erfahrungen mit Jesus und seinem Wort, dem sie sich anvertrauen. Warum aber wird den Jüngern solche Bedürfnislosigkeit abverlangt? Ich meine: Jesus hat das aus seiner abgründig tiefen Kenntnis der Herzen getan. Er weiß in seiner aus der innigen Nähe zum Vater kommenden Klarsicht der Dinge, was Menschsein bedeutet und auch, was für Gefahren ihm drohen. Auch und gerade bei denen, die sich ihm anschließen, lauern solche Gefahren. Und eine vielleicht am meisten: dass sie nämlich – ohne es gleich zu merken – zwischen die Botschaft und die Adressatinnen bzw. Adressaten sich selber stellen. Das muss nicht einmal immer Geltungssucht oder so etwas sein. Es kann sogar in bester Absicht geschehen, gleichsam um dem Projekt Gottes auf die Sprünge zu helfen – mit allen möglichen Techniken und Taktiken. Aber all das verdeckt schon aus sich ein Stück Botschaft selber. Denn: Jesus will mit seinem Evangelium nicht überwältigen, ja nicht einmal überreden. Er will die freie, freudige Zustimmung. Denn die allein passt zu jener Zärtlichkeit Gottes, von der seine ganze Botschaft erzählt. Deshalb geht er immer ganz ungeschützt und also verletzlich auf die Menschen zu. Einzig erfüllt von der Freude über den Vater im Himmel, der ihn so liebt. Das ist seine ganze Ausrüstung. Und denen, die er aussendet, gibt er diese Ausrüstung. Sie brauchen nichts anderes mehr, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Es ist die Kompetenz der Herzen, ja wohl auch die Kompetenz der Leidenschaft, was allein die Botschaft des Evangeliums glaubwürdig weitergeben lässt – und nicht die glatte Professionalität des klerikalen Apparatschik. Denn die ist immer herzlos, darauf konzentriert, dass alles funktioniert und ja nicht der Überblick verlorengeht. Solches Profitum der Verkünder ließe keinen Platz mehr für die 1000 Ausnahmen und abertausend Sonderfälle des Lebens – genauso wie die glattgeputzten Mauern den Spatzen keinen Unterschlupf mehr bieten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich plädiere nicht dafür, in der Verkündigung einfach alles dem Augenblick anheimzustellen und den Dingen halt ihren Lauf zu lassen. Wehe dem, der meint, er dürfe sich die Anstrengung präziser Arbeit in geistlichen Dingen und in der Seelsorge sparen. Denn nur das harte Abarbeiten am Evangelium lässt uns das ganze Ausmaß dessen vernehmen, was uns darin angeboten ist und was dies mit unserem gelebten Leben zu tun hat. All das muss persönlichstes Eigenes des Verkünders geworden sein, ein Stück von ihm. Es muss durch seine Mitte gegangen sein, damit es betroffen machen kann. Und wenn das geschehen ist, braucht er nichts mehr Äußeres, um die Botschaft gleichsam durchzusetzen. Wie von selber geschieht dann unter den Händen sündiger Menschen Gottes Wunder. Sie dürfen tun, was Jesus getan hat: zur Umkehr rufen, befreien, heil machen.
V
Vielleicht fragen Sie sich jetzt, ob es so etwas wirklich geben kann. Ich antworte Ihnen: Ja. Das gibt es. Auch heute. Ein Ort, wo das schon längere Zeit so sichtbar und öffentlich wie selten vorher geschieht, ist die Kirche Lateinamerikas – und zwar dort, wo sie sich schutzlos und wehrlos auf den Weg macht, den Schutzlosen und Wehrlosen die gute Nachricht zu verkünden. Dass Leute wie Gustavo Guttierez, Leonardo Boff, Jon Sobrino, Erwin Kräutler und wie sie alle heißen –, dass die bei den Christinnen und Christen ihrer Länder so viel Gehör fanden und finden, hat nämlich ganz wesentlich damit zu tun, dass sie sich streng an die Regeln halten, die Jesus im heutigen Evangelium aufgestellt hat. Sie verzichten auf wolkige, allgemeine Appelle, die am Schreibtisch entstanden sind. Sondern rufen die Botschaft vom Reich Gottes so konkret, wie wir sie von Jesus gehört haben, in ihre Wirklichkeit hinein. Sie sprechen dort, wo sie stehen, prophetisch aus, was in ihren Herzen geschieht, wenn sie das Evangelium mit ihrem gelebten Leben zusammenhalten. Um eminent geistliche Dinge handelt es sich dabei. Mystik hat man das früher genannt. Und dennoch werden sie verstanden. Sehr genau verstanden gerade von den Unterdrückten und den Analphabeten. Weil sie mit ihren Herzen verspüren, dass die Wahrheit Gottes aus diesen Verkündern spricht, eine Wahrheit, die weder irgendwelcher Apparate bedarf noch kontrollierender Verwaltung.
Genau dort wurzelte übrigens auch der Konflikt zwischen Leonardo Boff und Rom. Es ging dabei nachweislich nicht um die zweifellos gegebenen Schwachstellen einer Theologie der Befreiung. Es ging dabei vielmehr um die dem Evangelium entsprechende Grundgestalt von Verkündigung und Kirchesein. Auf der einen Seite steht dabei das ungeschützte Zugehen auf die Menschen, das sich nicht allzu viel um sich selber sorgt, weil es weiß, dass es nicht sich selbst entspringt, sondern Gott verdankt – und deshalb auch einmal etwas falsch machen darf, ohne gleich vom Weg abzukommen. Und auf der anderen Seite ist das besorgte Festhalten am Status quo, das sich überwiegend als Machtapparat und Bürokratie etabliert. Jeder Bürokratie aber wohnt der Hang inne, alles, was nicht in ihre Schubladen passt, für nichtig oder für gefährlich zu erklären. Und deshalb hat die Kirche bislang jedes Mal, wenn sie sich als ein solches System der Wahrheitsverwaltung verstand, nicht zum Leben befreit, sondern Leben amputiert. Genau davor – ihren Auftrag radikal zu pervertieren –, davor will Jesus die Kirche – also uns alle – mit den Worten aus dem heutigen Evangelium bewahren. Es mag dem mittlerweile 75 Jahre alten Boff in der Seele gut getan haben, einer der wichtigsten Zuarbeiter für Papst Franziskus, für dessen spektakuläre Enzyklika „Laudato sì“ vom 18. Juni 2015 gewesen zu sein, die ersichtlich etwas vom Geist des heutigen Evangeliums atmet.
VI
Jesus sagt uns nichts anderes als dies: dass es reicht, ihn zu kennen und ihm zu glauben, um in seinem Namen Gottes Wunder zu tun. Jeder von Ihnen, der jetzt in dieser Stunde sein Wort ernst nimmt und den Leib Christi empfängt, also ihm persönlich begegnet, wird dadurch zum berufenen Verkünder, zur Verkünderin des Evangeliums. Sie alle erwerben durch ihre Mitfeier dieses Gottesdienstes eine Kompetenz im Christsein, die schon vom Ansatz her über jede theologische Sachkenntnis hinausreicht. Das wird Ihnen geschenkt – gratis. Damit diese Kompetenz auch wirksam werden kann, will sie von Ihnen wahrgenommen werden. Sie tun das, indem sie ihr gelebtes Leben einfach mit dem Evangelium zusammenhalten. Wo sich dabei Ihr innerster Lebensimpuls vertieft, dort hat die befreiende Erlösung schon Fuß gefasst. Sie steht immer noch aus, wo sich Ihr Leben am Evangelium reibt. Wenn Sie sich darauf einlassen, dann nehmen Sie alle ein Lehramt im Glauben wahr, ein Lehramt, das sich ausspricht im Wortschatz Ihrer persönlichen Lebensgeschichte. So täten Sie, wozu die Taufe jeden Getauften und jede Getaufte einlädt: das Evangelium wahr zu machen.