Meine erste Bibel in Bildern

14. So A: Mt 11, 2-30

I
Seit ich mich erinnern kann, also seit etwa meinem vierten Lebensjahr – das ist 55 Jahre her –  habe ich die Kirche meiner Heimatgemeinde St. Anton in Regensburg besucht. Wenn mich die Großmutter vom Kindergarten abholte, besuchten wir für einige Minuten das Gotteshaus auf ein Vaterunser. Dort habe ich die Erste Hl. Kommunion empfangen und 1984 – vor 30 Jahren – erstmals der Eucharistie vorgestanden. In dieser Kirche bin ich bis heute so zu Hause wie in meiner Wohnung daheim. Ich kenne in ihr jeden Winkel.

II
Doch mehr noch: Ich habe dieses Gotteshaus von Anfang an geliebt – vor allem wegen seiner Bilder. Diese Kirche war meine erste Bibel, noch bevor ich lesen konnte, gerade so wie im Mittelalter, als die meisten Menschen in Europa nicht lesen und schreiben konnten, die Mosaiken, die Skulpturen und Fresken für die Leute die einzige Bibel waren. Alles Wesentliche, was den Glauben einer Christin, eines Christen ausmacht, findet sich in den Bildern dieser Kirche: Auf der rechten langen Wand sieht man die drei großen Wegmarken des Lebens Jesu: Geburt, Karfreitag, Auferstehung. Hoch interessant, dass der Künstler –  er hieß Georg Winkler – in alle drei Szenen auf gleiche Weise das Kreuz eingezeichnet hat: Schon die Krippe steht gleichsam in seinem Schatten und auch der Glanz und Sieg von Ostern überblendet es nicht. Gott selbst lässt sich von Leid und Tod berühren, darum wird er Mensch – und beides wird nicht vergessen, sondern mit hineingenommen in das ewige Osterfest.

III
Die Frage von Leid und Tod und dahinter noch mehr die Frage nach dem Bösen hat die Menschen damals, als diese Kirche gebaut und die Bilder gemalt wurden, tief bewegt. Es war in den Jahren von 1924–1929, also in der kurzen Epoche zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, den beiden größten Katastrophen Europas in der jüngeren Vergangenheit. Und deshalb wird auf der linken Seite die gesamte Wand von einem einzigen Thema beherrscht: dem Gericht Gottes, wie es in der Offenbarung des Johannes geschildert wird, etwa 70 Meter lang. Gut und böse sind nicht gleichgültig, sagt das Bild mit Gerichtsszenen – Bilder, vor denen ich mich manchmal als Kind fast gefürchtet habe, weil sie zeigen, wie der unfruchtbare Feigenbaum mit der Axt umgehauen und Übeltäter von Engeln in den schwefeligen Abgrund des Höllenfeuers gestürzt werden. Aber zugleich zeigt das Bild, dass ganz, ganz viele Menschen durch das Tor des Himmels treten dürfen: Das ewige Leben ist nicht Sache von Wenigen: Eine große Zahl, die niemand zählen kann, wird ans Ziel kommen. Im Glauben dürfen wir hoffen, dass wir auch dabei sind. Und ganz wichtig: Auch die Toten sind nicht vergessen: Darum hat der Maler in sein Bild auch die damals jüngsten Opfer der Geschichte hinein gemalt: die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs. Das ist es, was wir heute in den theologischen Diskussionen „Inkulturation“ nennen: dass die Überlieferung des Glaubens in Gestalten von heute übersetzt wird, und so das Damals und Jetzt und das Künftige zu einer Einheit in Gott zusammengeschlossen werden.

IV
Vorne, am Bogen zwischen dem Kirchenschiff und dem Presbyterium, dem Altarraum, hat der Künstler das Thema „Himmlisches Jerusalem“ aus dem Gerichtsbild nochmals aufgenommen und den Gläubigen gleichsam als Ziel vor Augen gestellt: Dieses neue Jerusalem besteht im Grunde aus lauter Heiligen: Päpste und Bischöfe, Ordensleute und Laien, Männer und Frauen. Sie alle sind Jesus nachgefolgt und haben ihr Leben dadurch vor Gott gültig gemacht. Und wenn sie so vor uns stehen, sind sie so etwas wie eine Einladung in Fleisch und Blut, die uns sagt: Kommt doch auch mit!

V
Die beiden Seitenwände im Presbyterium dann verweisen auf das, was uns schon eine erste Vorahnung des neuen Jerusalem schenken will, die Feier der Eucharistie als Quelle und Mittelpunkt der Gemeinschaft der Erlösten. Der Künstler hat dazu das damals einzige Hochgebet der Messe, den heutigen Ersten Kanon, gemalt, auf der einen Seite die Vorausbilder der Hingabe Jesu aus dem Alten Testament: die Gaben des gerechten Abel, das Opfer unseres Vaters Abraham, das reine Opfer des Hohepriesters Melchisedech, wie es im Text des Messbuchs bis heute heißt. Genau gegenüber dann die Vertiefung all dieser Szenen und Gesten im Abendmahl, gemalt ganz im Stil der Liturgie der Zeit, da das Bild entstand: der sorgfältig gedeckte Tisch, Jesus im Messgewand, und die Jünger empfangen kniende die Mundkommunion – wieder Inkulturation pur.

VI
Und dann natürlich der Fluchtpunkt, auf den alles zuläuft und von dem her sich alles andere erst eigentlich versteht: in der Apsis, überlebensgroß, nicht der Richter, nicht der Herrscher, sondern der Christus Immanuel – der Gott mit uns: Die Hände weit geöffnet versinnbilden die Worte, die darunter stehen: Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid: Ich will euch erquicken – so der Wortlaut der damaligen Übersetzung, also der Vers, der in unserem heutigen Evangelium lautete: Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.

Das wichtigste Wort des Verses steht fast an seinem Ende: Ruhe. Es steht für Freiheit von der alltäglichen Plage, also auch für Fest, Feier und Freude, intoniert also das biblisch so wichtige Thema „Sabbat“. In der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments ist das Ende und die Krone der Schöpfung nicht der Mensch, wie oft behauptet wird, sondern – der Sabbat als Letztes der Geschöpfe Gottes: der Sabbat als Tag des Ausruhens und Zeit des Feierns. Mit diesem Wort, übrigens in meiner Heimatkirche genau dort hingemalt, wo das Brustbild des Immanuel übergeht in ein Fries aus den Gestalten der Apostel und Evangelisten, macht Jesus gleichsam in Person sich selbst zum Sabbat für uns: In ihm finden wir, was wir und alle Geschöpfe ersehnen und suchen.

VII
Ich hatte schon immer und habe noch heute das Gefühl, als sei diese Einladung Jesu in der Weise, wie sie da gleichsam zwischen Himmel und Erde niedergeschrieben ist, den Aposteln und Evangelisten, also der Kirche, als Vermächtnis Jesu und unaufgebbarer Auftrag auf die Schultern gelegt.

Kirche soll ein Reflex – eine Widerspiegelung – des Erbarmens Gottes mit uns im Gleichnis menschlichen Erfahrens sein. Sie ist innerstes Moment dessen, was das Besondere des biblischen Gottesbildes ausmacht. Darum haben Glaubende Grund, von Kirche mit Dankbarkeit und Achtung zu sprechen. Das ist manchmal nicht leicht, zumal in den letzten Jahren, wo so viel Schlimmes aus der jüngeren Geschichte auch unserer Kirche in Deutschland auf einmal ans Licht kam. Denn von jenem theologischen, jenem geistlichen Ursprung der Kirche her ist auch ein Maßstab aufgerichtet, an dem sich alles messen lassen muss, was in der Kirche geschieht, und genauso alle, die in dieser Kirche wirken. Niemand wird in der Kirche mit Berufung auf Jesus etwas tun können, das nicht mit jenem ihrem Ursprung – der barmherzigen Anteilnahme Gottes selbst am Geschick seiner Geschöpfe – in Einklang stünde. Natürlich braucht es menschliche Regeln, wie überall, wo Menschen einander in ihrer Verschiedenheit begegnen und miteinander zugange sind. Aber schon an der Praxis der Regelbefolgung muss Kirche ihre eigene Herkunft aus jesuanischem Mitleiden bewähren. Und wie anders sollte solche Bewährung geschehen als dadurch, dass man die durchaus anspruchsvollen Prinzipien christlicher Lebensführung so hochhält, dass man im begründeten Sonderfall auch einmal unter ihnen hindurch kann? Nicht nur bei Bagatellmaterien, sondern genauso, wenn es um Trennung von Partnern, um Abtreibung, um Laisierung von Priestern, um ein menschenwürdiges Lebensende geht. Genau das – und noch manches andere mehr – fällt doch in eben jenen Bereich, wo Menschen sich buchstäblich verlieren, wo sie verstört werden und manchmal sich selbst zerstören bei dem Versuch, endlich ein Leben zu finden, das verdiente, ihr eigenes genannt zu werden.

VIII
In all dem ist Jesus für Matthäus der „Immanuel“, der Gott-mit-uns. Darum eben zeigt ihn das Apsisbild meiner Kirche nicht als Pantokrator, nicht als Triumphator, nicht als Weltenrichter, sondern mit weit geöffneten Armen, die alle und alles aufnehmen und ans Herz drücken möchten. In Worte unserer Sprache von heute übersetzt: Jesus gilt dem Evangelisten als lebendiges Gleichnis Gottes in Menschengestalt: Was Jesus sagte, was er tat, wie er war, so ist Gott. Im Mitleid-Haben Jesu kehrt sich darum das Innerste Gottes in das Äußere einer menschenmöglichen Wahrnehmbarkeit. In ihm teilt Gott sich selbst von Wesen mit. Offenbarung heißt der alte Name dafür. Und wenn Gott wirklich so ist und wir das auch noch glauben können, dann haben wir allen Grund, so wie jetzt, Danksagung zu feiern.