Lebens-Bild

13. So B: Weish 1,13-15. 2,23-24

I
„Er wurde geboren, lebte, arbeitete und starb“, sagte der Philosoph Martin Heidegger einmal über seinen antiken Fachkollegen Aristoteles. Er meinte damit: Wir wissen von ihm im Grunde überhaupt nichts – außer das, was er durch sein Werk an sichtbaren Spuren hinterließ. Er, die Person dahinter, – die ist und bleibt uns für immer fremd.

II
Es ist schon erstaunlich, wie einfach sich ein Menschenleben ausnimmt, wenn man vom Persönlichen absieht: Er wurde geboren, lebte, arbeitete und starb. Das kann man mehr oder weniger von jeder und jedem sagen, auch von uns einmal. So einfach ist alles – und doch gibt es Menschen, mehr als genug, die mit diesem Einfachen, diesem scheinbar Einfachen nicht fertig werden:

Unglückliche Kindertage vielleicht, ein paar Schicksalsschläge, der Betroffene möchte endlich auch einmal zu etwas kommen und jemand sein – und macht sich schuldig dabei; so lädt er sich eine Vergangenheit auf, deren Last er nicht mehr los wird, neue Fallstricke entstehen daraus, ein Teufelskreis schließt sich, die Netze reißen, in denen er eigentlich gehalten sein sollte, die Anerkennung, die er mehr als alles andere sucht, wird ihm erst recht verweigert.

III
Auch wenn einem Menschen solches widerfährt, bleibt er, was er ist: ein einmaliges Wesen mit einem menschlichen Gesicht. Manchmal ist selbst das wie verdeckt und verwischt, nur manchmal, fast verstohlen, verrät eine spontane Geste der Freigebigkeit, des Mitgefühls, der Kameradschaft etwas von dem wahren Menschen, von dem Kern dahinter.

Und dann – wie wenn alles noch immer nicht genug wäre – folgt ein tragisches Ende, wie bei einem, den ich während meiner Zeit als Gefängnispfarrer näher kennengelernt habe: 22 von insgesamt 54 Lebensjahren in Justizvollzugsanstalten verbracht, endlich, endlich wieder einmal zwei Tage Urlaub, den ersten nach endlosem Warten. Pünktliche Rückkehr aus dem Freigang, Zusammenbruch an der Torwache I, Herzstillstand. Tot.

IV
Was war jetzt mit diesem Leben? Was bleibt unterm Strich? Wer kann sich das zu sagen trauen! Keiner schaut in den andern hinein, geschweige hinter dessen ganzes Leben. Und trotzdem: Es gibt Worte, die greifen tiefer als diese unsere Ratlosigkeit. Darum nennen wir diese Worte „Wort des lebendigen Gottes“. Eines haben wir vorhin in der Lesung aus dem alttestamentlichen Buch der Weisheit gehört: Gott hat den Menschen zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn zum Bild seines eigenen Wesens gemacht.

Im Menschen lebt etwas, soll das heißen, das geht nicht auf in dem, was er hat und tut, was er trinkt und isst. Da ist ein Mehr, ein Größeres, eine Sehnsucht. Sein vergängliches, zerbrechliches Dasein hat so etwas wie eine Innenseite, die an das Weite, ans Unendliche rührt. Anders lässt sich nicht erklären, warum nichts auf der Welt, nicht der schönste und kostbarste Besitz, nicht einmal ein anderer, ein Partner, einen Menschen so satt an Glück machen kann, dass er sich nichts mehr wünscht. Und dieses Darüberhinaus rührt daher, sagt unsere Lesung, dass unser Menschenwesen etwas von Gott selber, von seinem Wesen widerspiegelt. Er, der Unendliche, hat uns geschaffen, und darum tragen wir Gottes eigene Wesensart wie eine Signatur an uns: den Widerschein seiner Unendlichkeit und Unvergänglichkeit.

Darüber haben Philosophen und Theologen zu allen Zeiten nachgedacht, was denn das bedeute und wo sie sichtbar werde, diese Signatur des Schöpfers an uns, seinen Menschenkindern. Im Zentrum stand dabei immer der Gedanke der Gottebenbildlichkeit – und die prägte sich für viele dieser Denker an der menschlichen Seele aus: Schon der „Heide“ Aristoteles hatte ein Wort geprägt, dass später nahezu alle christlichen Philosophen des Mittelalters in Bann schlug: „anima est quodammodo omnia“ – dass die Seele in gewisser Weise alles sei, weil sie alles, was ist, erkennen und darum gleichsam in sich versammeln könne, sodass sie eine Art Mikrokosmos werde. Und eben dies mache sie und mit ihr den Menschen Gott ähnlich, weil der Dinge dadurch schaffe, dass er sie denke. Ein Geistesriese wie der Universalgelehrte Albertus Magnus im 13. Jahrhundert war deshalb überzeugt, dass der Mensch diese seine Gottebenbildlichkeit umso mehr verwirkliche, je mehr er mit allen Kräften seines Geistes die Welt erfasse und durchdringe. So sind für ihn nicht zuletzt und gerade auch Mathematik und Naturwissenschaften regelrecht zu einem geistlichen Tun geworden. Und weil die Seele, der menschliche Geist, die Dinge ringsum nicht nur passiv registriert, sondern auch aktiv ordnet und kombiniert, also in gewissem Sinn auch selbst Neues schafft, hat Generationen später ein Denker an der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance, der deutsche Nikolaus von Kues an der Mosel, nicht gezögert, den Menschen einen „Secundus Deus“, einen „Zweiten Gott“, zu nennen und die Seele eine „notionalium creatrix“, eine Schöpferin der Gedankendinge. Den wohl kühnsten Gedanken in diesem Zusammenhang verdanken wir wohl einem anderen deutschen Philosophen, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Weil alles, was Bild Gottes ist – und in besonderer Weise eben der Mensch – die Spur seiner Herkunft an sich trägt, spiegelt sich in diesem Bild auch etwas von der Souveränität dessen, der die Dinge ins Dasein ruft. Und darum kann Schelling schreiben:
„Das ausschließend Eigenthümliche der Absolutheit ist, daß sie ihrem Gegenbild mit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbständigkeit verleiht. Dieses in-sich-selbst-Seyn, diese eigentliche und wahre Realität des […] Angeschauten, ist Freiheit.“*
Die Freiheit des Menschen als Gottes Signatur an seinem Geschöpf! Die Kirchen und ihre Theologien, zumal die katholische Tradition, haben diesen Gedanken im Grunde bis heute nicht wirklich eingeholt. Aus Angst vor der Freiheit? Ich befürchte es.

V
Dabei gäbe es keinerlei Grund für diese Ängstlichkeit. Denn diese Sicht des Menschen und seiner Gottebenbildlichkeit hat überhaupt nichts mit der elitären Arroganz intellektueller Überflieger oder einer Selbstverherrlichung des Menschen zu tun. Es genügt, dass eine oder einer unverstellt sie oder er ist, nicht das Meiste und das Beste und das Größte zu leisten, sondern schlicht das Eigene zu vollbringen, um Gottes Bild zu werden und eben dadurch mit diesem Gott innigst verbunden zu sein. Und das gilt für den sogenannten einfachen Menschen nicht weniger als für einen, dem vergönnt ist, Wichtiges und Schönes zu schaffen und dafür von anderen geehrt zu werden.

Der vorhin bereits erwähnte Nikolaus Cusanus hat das in seinem als Gebet verfassten Werk mit dem Titel De visione Dei (Über die Gottesschau) wunderbar auf den Punkt gebracht, als er schrieb:
„... niemand vermag sich Dir zu nahen, da Du unnahbar bist. Niemand also wird Dich erfassen, außer Du schenkst Dich ihm. Wie aber habe ich Dich, o Herr, der ich nicht wert bin, vor Deinem Angesicht zu erscheinen?... Und wie wirst Du Dich mir geben, wenn Du mir nicht zugleich Himmel und Erde gibst und alles, was in ihnen ist? Ja, noch mehr: wie wirst Du Dich mir geben, wenn Du mich nicht mir selbst gibst? Und wenn ich so im Schweigen der Betrachtung verstumme, antwortest Du mir, Herr, tief in meinem Herzen und sagst: Sei du dein und ich werde dein sein.
O Herr..., Du hast es in meine Freiheit gelegt, daß ich mein sein kann, wenn ich es nur will. Gehöre ich darum nicht mir selbst, so gehörst auch Du nicht mir. Du machst die Freiheit notwendig, da Du nicht mein sein kannst, wenn ich nicht mein bin. Und weil Du das in meine freie Entscheidung gelegt hast, zwingst Du mich nicht, sondern erwartest, daß ich mein eigenes Sein erwähle. Es steht also bei mir und nicht bei Dir, Herr...“**

Sei du dein und ich werde dein sein! Wer so vom Leben denkt, tut etwas ungeheuer Kühnes: Er denkt zwei Dinge, die als unvereinbar gelten, untrennbar zusammen: dass etwas Unendliches im Endlichen sein kann und darum etwas Vergängliches zugleich unvergänglich ist, wenn dieses Endliche und Vergängliche, das Menschlein, wie der Psalm 8 sagt, wagt, es selbst zu sein. Würde sich einer das einfach ausdenken, wäre es eine Anmaßung – oder Selbstbetrug. Unter Gottes Augen kann man einen solchen Gedanken wagen. Und seit Jesus gekommen ist, den wir Sohn Gottes nennen, weil in seinem menschlichen Reden und Tun Gott selbst der Welt nahekam, wie sich sonst nur zwei Menschen nahekommen, – seitdem besitzen wir gleichsam das verbriefte Recht so von uns zu denken: dass das Unendliche und das Vergängliche zusammenpassen und untrennbar zusammengehören.

VI
Und wenn das so ist, müssen wir sogar die Endlichkeit des Endlichen,  das Sterben nicht mehr fürchten, und nicht seine Vorboten, die unsere Lebensgänge immer wieder kreuzen. Wer um seine unvergängliche Innenseite weiß, kann auch noch die Verfahrenheiten, das Unfertige an seinem irdischen Leben Gott anheimgeben, dass der bei sich sein Bild vollende und aus den Bruchstücken, die wir während unserer Lebtage zusammengebracht haben, ein gutes Ganzes mache. Deshalb kann der Prediger im Weisheitsbuch auch sagen, das Reich des Todes habe keine Macht auf der Erde, weil Gott keine Freude am Untergang des Lebendigen habe. Bedrohliche Macht kann der Tod nur dort gewinnen, wo dieser innige Zusammenhang zwischen Schöpfer und Geschöpf aus dem Blick gerät und ein Mensch jene Signatur des Schöpfers an ihm selbst nicht mehr sehen will oder kann.

Das ist auch der Grund, warum wir auch noch für unsere Toten beten. Sind und bleiben wir doch im Glauben an den lebendigen Gott über das Grab hinaus mit ihnen verbunden. Darum geben wir den Toten, wenn wir ihrer gedenken, nicht nur die Ehre, die wir ihnen menschlich schulden. Zugleich machen wir im Gebet für sie etwas von jener anderen Ehre sichtbar, die ihnen schon zu Lebzeiten von Gott kam, weil sie seine geliebten Kinder waren, und die jetzt ungetrübt ihre Freude ist.

* FRIEDRICH W. J. SCHELLING: Philosophie und Religion. In: DERS.: Schellings Werke. 4. Hauptbd. 1-60. Hier 29.

** NIKOLAUS VON KUES: De visione Dei. In: Philosophisch-theologische Schriften. Hg. u. eingel. v. Leo Gabriel. Übers. von Dietlind u. Wilhelm Dupré. Stud.- u. Jub.-Ausg. Lat.-dtsch. Bd. III. Wien 1967. 93-219. Hier 121-123.