Als „zaghafte Versuche gegen den Tod und seine Kumpanen“, hat Werner Kallen einmal seine Gedichte bezeichnet.[1] Das mag angesichts seines Gedichtbandes Zuflucht ins Freie verwundern. Denn Verzagtheit und ängstliches Zaudern sprechen nicht aus den 50 hier versammelten Gedichten.
Im Gegenteil: da erlaubt sich jemand etwas – und zwar nicht weniger als sich selbst (vgl. Geständnis, 14), und da unterwirft sich jemand nicht – auch nicht sich selbst (vgl. Standhafte Übung, 19). Falschem Trost zieht er lieber die Trauer vor (vgl. Mut, 9) und so wenig wie von einem Jenseits will er sich auch von dem vertrösten lassen, was er stante pede kriegen kann (vgl. Diesseitsvertröstung, 24). Dennoch spricht hier einer zaghaft und zögernd und kann gar nicht anders als so reden und schreiben. Denn er versucht hin und wieder ein Wort zu retten (vgl. Nachtrag zu der Frage, was ich so mache, 72). Also sucht er – zwischen einem Verschweigen auf der einen und einem Verbrauchen auf der anderen Seite – Worte wie „Liebe“ und „Freiheit“ und „Gott“ ins Schweigen zu retten (vgl. 30) und aus dem Schweigen „widerständig“ (27) neu verlauten zu lassen (vgl. 70).
Es sind Miniaturen, die Werner Kallen hier vorlegt; und es ist ihnen anzumerken, dass sie im Verlauf von vielen Jahren entstanden sind. Es sind auch in der Tat Versuche gegen den Tod (vgl. 37-45) und seine Kumpanen (vgl. Schönheitspreis, 25; Kirchenkrise, 28; Hierarchien, 29). Aber es sind nicht einfach seine, Kallens Versuche. Das Ich, das immer wieder spricht, „nicht betend / aber auch / nicht nichtbetend“ (56), ist nicht eine Maske des Autors. Höchstens im ursprünglichen Sinn von Maske als πρόσωπον (prósōpon), als das Antlitz, das sehen lässt, was gerade nicht sichtbar ist! Und höchstens in der Bedeutung, die das lateinische Wort persona einmal hatte und die auf dasjenige verweist, wo hindurch es tönt. So ist das Ich in Kallens Gedichten jene Schwelle, wo das Schweigen in die Verlautbarung übergeht. Auf der Stirn mit einem „rettungskürzel / aus asche“ (31) gezeichnet, „signiert“ dieses Ich das Schweigen der anderen und der unendlichen Räume mit seinem Schrei (vgl. 12).
Im letzten Aphorismus seiner Minima Moralia verlangte Theodor W. Adorno die Dinge so anzuschauen, „wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“,[2] und das heißt nicht: ganz und heil, sondern „bedürftig und entstellt“. Im letzten Aphorismus seiner Reflexionen (nicht: auf, sondern:) aus dem beschädigten Leben, bescheinigt Adorno dieser messianischen Perspektive jedoch zugleich, einerseits zwar „das Allereinfachste“ darzustellen, so „unabweisbar“ rufe der Zustand der Welt nach ihr, andererseits jedoch „das ganz Unmögliche“ zu sein. Denn die Voraussetzung wäre ein Standort, der „dem Bannkreis des Daseins“ und seiner „Entstelltheit und Bedürftigkeit“ entrückt ist – und „wäre es auch nur um ein Winziges“. Zwischen dieser Möglichkeit und dieser Unmöglichkeit sind Werner Kallens Texte eingespannt. Das Ich, das z. B. in Kleines Lied gegen die Angst eine „obhut seit anbeginn“ (71) besingt, ist zugleich das Ich von Gefährdung: Es entkommt der Gefahr, „der obhut entgegen“, indem es im freien Fall „in die nacht“ stürzt (17).
Doch noch eindrücklicher vielleicht demonstriert es das Gedicht Weitsicht (59).
Weitsicht
den vögeln
glauben
ihr schwarm
ist der himmel
sie fliegen
ihm zu
dem geliebten
ohne zögern
ohne angst
ich schaue
ihnen nach
voll verlangen
und trau
meinen flügeln
Fünf Strophen umfasst das Gedicht. In den ersten drei Strophen folgt der Blick Vögeln, die in den Himmel aufsteigen, und mit ihnen scheint sich auch ein Glaube aufzuschwingen, der weder Zögern noch Angst kennt. So stellt es sich jedenfalls mit Blick auf die Strophen-Enden dar. Die jeweils letzten Zeilen lauten: „glauben“, „ist der himmel“, “ohne angst“. Dafür zeigt sich hier niemand, der oder die schaut und denkt und glaubt. Die Stimme, die spricht, erklingt wie aus dem Off.
Anders in den beiden letzten Strophen: Mit einem „ich“ am Anfang der vierten Strophe beginnen die letzten Zeilen. Damit folgt das „ich“ der „angst“. Hat dieses Wort, das letzte Wort der dritten Strophe (oder haben die beiden letzten Wörter, „ohne angst“), genügt, um ein Ich, das hier bereits schauend und glaubend engagiert war, auf den Plan zu rufen? … um es vielleicht zu wecken aus der Versunkenheit? … um jedenfalls die Antwort des Ichs zu evozieren auf das, was sich ihm dar- und anbietet?
Und dicht zusammen, so dicht wie nur eben möglich rücken im Antworten nun das Verlangen und das (Ver-)Trauen. Dennoch passiert kein Kurzschluss. Wonach das Ich auf der einen Seite verlangend Ausschau hält „und“ was es auf der anderen Seite vertrauend vollbringt: das bleibt durch einen Abstand und die Länge einer Atempause voneinander getrennt.
Reinhard Feiter
Werner Kallen, geboren 1956, war nach seinem Studium der Theologie in Bonn und Münster u. a. in der Studierendenseelsorge in Mönchengladbach tätig. 1996 wurde er aufgrund einer Arbeit über Dietrich Bonhoeffer zum Dr. theol. promoviert. 2002 zum Priester geweiht, lebt er heute in Aachen.
Weitere Veröffentlichungen (in Auswahl):
Wenn der Schrei nach Gott erstirbt. Eine Nebenbemerkung zur Kirchenkrise, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 46 (1994) 98-102.
In der Gewißheit seiner Gegenwart. Dietrich Bonhoeffer und die Spur des vermißten Gottes, Mainz 1997.
Muß es denn bei uns auch so sein? Ein Wider-Spruch zum „Kunden“-Modell in Kirche und Pastoral, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 51 (8/1999) 249-253.
Der Glaube ist ein Blindenstock. Kirche im Tastschritt, in: Geist und Leben 73 (2/2000) 143-149.
Dietrich Bonhoeffer. Anmerkungen zu einem „ökumenischen Heiligen“, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 52 (9/2000) 280-284.
Flaschenpost – Drei theologische Notizen zur Spiritualität, in: Bucher, Rainer/ Krockauer, Rainer (Hg.): Prophetie in einer etablierten Kirche? Aktuelle Reflexionen über ein Prinzip kirchlicher Identität (Werkstatt Theologie 1), Münster 2004, 107-117.
Vom Preis der Gnade in der Kirchenkrise. Eine theologische Erinnerung an ein entmachtetes Kapitel der Nachfolge, in: Bucher, Rainer/ Krockauer, Rainer (Hg.): Macht und Gnade. Untersuchungen zu einem konstitutiven Spannungsfeld der Pastoral (Werkstatt Theologie 4), Münster 2005, 238-248.
Dietrich Bonhoeffer (1906-1945). Vom Geheimnis der Freiheit, in: Geist und Leben 79 (1/2006) 11-26.
Wider die unauffälligen Eichmeister. Gedanken zur Irritationsfähigkeit Jesu, in: Lebendige Seelsorge 58 (6/2007) 370-374.
Vom wehrlosen Mysterium. Spirituelle Notizen im Umbruch der Kirche, in: Geist und Leben 82 (2/2009) 86-104.