Ermutigung, selbst zu lesen
Das Vermitteln „rezeptiver Grundkompetenzen“, oder anders gesagt: das Training des genauen, reflektierten und methodisch kontrollierten Lesens, beschrieb der Münsteraner Neutestamentler Karl Löning (1938–2022) einmal als das Kern- und Grundanliegen seines Forschens und Lehrens. Nicht zufällig standen akribische Lektüreprozesse im Mittelpunkt des Symposiums, das am 23. und 24. Juni 2023 im Gedenken an ihn am IBET stattfand. Auf Einladung der Professur für Theologie des Neuen Testaments und Biblische Didaktik (Prof. Dr. Wolfgang Grünstäudl) und des Instituts für Katholische Theologie der Universität zu Köln (Dr. Olaf Rölver) trafen sich Schüler:innen und Wegbegleiter:innen Lönings, um Erinnerungen zu teilen und gemeinsam zu diskutieren, welche Impulse des Löningschen Wirkens bleibende Relevanz beanspruchen dürfen.
Neben der schon erwähnten Anleitung zum genauen Lesen war es vor allem die Hinführung zu eigenständigem, kritischem Lesen, das nach einem einführenden Dialog zur „Methode Löning“ (Prof. Dr. Wolfgang Grünstäudl, Dr. Olaf Rölver) in vielen Beiträgen als Grundlinie der Löningschen Arbeitsweise ausgemacht wurde. Dr. Burkhard Jürgens (KNA, Brüssel) zog diese Linie für den Bereich der Pressearbeit aus und erläuterte, warum Journalismus Exegese braucht, Andreas Diederen (Fortbildungsverantwortlicher des Bistums Chur) erschloss die Anwendung textlinguistischer Methoden in der pastoralen Erwachsenenbildung, Sr. Marie-Madeleine Wagner (Benediktinerin von Abu Gosh) betrachtete die Funktion biblischer Texte im Rahmen der geistlichen Begleitung, während Susanne Orth (HA Bildung, Erzbischöfliches Ordinariat Freiburg) Bildungsanspruch und -angebot des Christentums betonte (und en passant auf die Nützlichkeit exegetischer Kompetenzen auch in alltäglicher Kommunikation hinwies).
Für den Lern- und Lebenszusammenhang Schule forderte Dr. Jutta Bickmann (Gronau) nachdrücklich ein, Schüler:innen die Fremdheit der biblischen Texte (und ihrer historischen Kontexte) unbedingt zuzumuten. Anne Sand Oldenburg) verdeutlichte am Lehrwerk „Leben gestalten“ gelungene Beispiele einer solchen text- wie kontextnahen Applikation biblischer Texte. Für den Bereich der Liturgiepastoral stellte Iris Maria Blecker-Guzcki (Liturgisches Institut Trier) den dritten Teil des Löningschen Methodendreischritts Syntax – Semantik – Pragmatik als besonders relevant heraus und beleuchtete von diesem her Sprechakte und verkündigendes, aktualisierendes Erinnern im Gottesdienst. Schließlich nahm Jesaja M. Wiegard (Bildungsreferent, Landschaftsverband Westfalen-Lippe) die neutestamentlichen Texte vor dem Hintergrund aktueller Content Marketing-Konzepte in den Blick.
Im Bereich der Bibelwissenschaften zeigten die alttestamentlichen Beiträge die heuristische und hermeneutische Potenz unterschiedlicher Gliederungsansätze derselben Textpassage (2 Sam 11) auf (Prof. Dr. Johannes Schnocks, Münster), erläuterten neo-markionitische Fallstricke in der Analyse der Jesaja-Rezeption im Rahmen der sogenannten „Antrittspredigt“ (Lk 4,16–30) des lukanischen Jesus (Prof. Dr. Michael Konkel, Paderborn) und verwiesen in kritischer Auseinandersetzung mit Lönings Topos der „apokalyptischen Weisheit“ auf die Bedeutung der Weisheitsliteratur für kanonische Arrangements und Entwürfe biblischer Theologie (Prof. Dr. Egbert Ballhorn, Dortmund). Die neutestamentlichen Beiträge erschlossen zum einen das große Interesse Lönings am Judentum und einer gesamtbiblischen Theologie, die den Eigenstand des Alten Testaments bzw. der Hebräischen Bibel ernst nimmt (Dr. Olaf Rölver, Köln) und verdeutlichten zum anderen am Beispiel des lukanischen Reiseberichts die intensive Berücksichtigung diachroner Fragestellungen durch Löning (Prof. Dr. Wolfgang Grünstäudl, Münster), dessen Ansatz mitunter als allzu synchron oder gar ahistorisch verzeichnet wurde.
Eine stimmige Rahmung der Tagung ergab sich durch die herzliche Begrüßung des Dekans der Katholisch-Theologischen Fakultät, Prof. Dr. Norbert Köster, der daran erinnerte, dass es Löning mit seiner Fakultät nicht immer leicht gehabt hatte, und den abschließenden Einblick in die durch den Index Theologicus mittlerweile erfolgte Digitalisierung großer Teile des Nachlasses Lönings durch Dr. Martin Faßnacht (UB Tübingen). Eine ganz besondere Begegnung mit biblischen Texten bot schließlich der Geschichtenerzähler Thomas Hoffmeister-Höfener („Theomobil“, Sendenhorst), der die Teilnehmer:innen am Abend des ersten Tages mit faszinierenden Neuerzählungen des Philemonbriefes, der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4) und der Gabe der Witwe (Mk 12,42–44par) verzauberte. Am Ende zweier intensiver Symposiums-Tage, in denen sowohl emotionale Erinnerung als auch wissenschaftlich-nüchterne Würdigung von Person und Wirken Karl Lönings ihren Platz fanden, standen natürlich erste Ideen für Anschlussprojekte, um den Erwerb „rezeptiver Grundkompetenzen“ innerhalb und außerhalb der akademischen Exegese weiterhin zu befördern.