„Kann man Exegese heute noch so betreiben wie vor 2010?“
Kann man Exegese heute noch so betreiben wie vor 2010? Ist und bleibt die Bibel Wort Gottes, wenn mit ihr Leid legitimiert wird? Auf welche hermeneutischen Basislinien bezieht man sich in der Exegese und welche Hermeneutik lehrt man an der Universität? Ist die Bibel eine vulnerable oder vulnerante Größe? Ist primär der Text oder sind die Menschen zu schützen? Diese Fragen, die Ute Leimgruber in ihrem Eröffnungsvortag an die Bibelwissenschaftler:innen und weiteren Teilnehmer:innen richtete, wurden auf der Tagung „Toxische Bibelhermeneutiken? Bibel, Missbrauch und die Verantwortung der Exegese“ diskutiert und von elf Referierenden aus unterschiedlichen Perspektiven (Programm) beleuchtet. Nicht erst in der Abschlussdiskussion der Tagung wurde deutlich: Angesichts des Missbrauchs, der mit biblischen Texten und Motiven begründet, legitimiert, verschleiert oder spiritualisiert werden kann, kann und darf die Exegese nicht wie bisher üblich weiterarbeiten. Es sind neue Perspektiven auf biblische Texte notwendig, die die eingefahrenen Denk- und Auslegungsmuster überschreiten. Im Rahmen einer Gegenwartsanalyse sind zuerst die missbräuchlichen Verwendungsweisen von Bibeltexten in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise kann Distanz zu klassischen, positiven Auslegungen und ein kritischer Blick auf biblische Texte und deren Gefahrenpotential gewonnen werden. Helfen kann hierbei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit der theologischen Fächer. Ungelöst blieb die Frage, wie mit toxischen kanonischen, d. h. normativen Texten umgegangen werden soll.
Zu diesen Erkenntnissen trugen die unterschiedlichen Beobachtungen und Perspektiven Referierenden bei. Mehrfach wurde die Ambivalenz der Bibel diskutiert. Wie das biblische Motiv der Braut Christi in seinem biblischen Befund und in der Rezeptionsgeschichte ambivalent sei (König), zeigte auch ein Projekt zu Missbrauchserfahrungen die einerseits retraumatisierende, andererseits befreiende Wirkung der Bibel (Haslbeck). Grenzüberschreitungen Gottes in biblischen Gott-Mensch-Interaktionen seien ebenfalls ambivalent; die Grenze zwischen guten und missbräuchlichen Grenzüberschreitungen sei wie in der Bibel auch im Leben schwer zu identifizieren (Reisinger). Zwar treten in pastoraltheologischen Texten biblische Verse bzw. Versausschnitte oft als befreiend und Druck nehmend auf (Suchhart-Kroll). Dennoch bleiben viele biblische Topoi und Motive wie die Liebe Gottes, Heilung, Vergebung, Leiden/Kreuz auf sich nehmen, Gehorsam, Maria, Wahrheit u. v. m. mehrdeutig und potenziell vulnerant. Zu einem angemessenen Umgang mit der Deutungsoffenheit und Interpretationsbedürftigkeit biblischer Texte trage ein expliziter und transparenter Umgang mit den getroffenen Auswahl- und Interpretationsentscheidungen bei (Pape).
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Ferner brauche es hermeneutische Vorentscheidungen und eine grundlegende Reflexion, wie „wir“ mit der Bibel umgehen wollen (Grünstäudl). Inwiefern hermeneutische Vorentscheidungen die Wahrnehmung von Texten beeinflussen kann, wurde am Beispiel von 2 Kön 4,8-37 deutlich: Erlaubt man sich, zunächst Undenkbares zu denken und Gottesmenschen kritisch zu betrachten, kann dieser Text als ein Text über eine Vergewaltigung durch den Gottesmann Elischa gelesen werden (Schöning). In ähnlicher Weise verdüstert sich das helle Bild „guter“ Sklavenbesitzer in 1 Petr 2,18 auf dem Hintergrund antiker Rechtstexte zur Sklaverei rasch (Sommer). Das Ausbrechen aus erlernten Wahrnehmungsmustern, die bspw. Täterinnen unsichtbar machen oder traditionelle Weiblichkeitsbilder und Männlichkeitsideale reproduzieren, ist selbst in engagierten Auslegungstraditionen eine Herausforderung (Winkler).
Das Konzept der Epistemic injustice nach Miranda Fricker sei auch für die Bibelwissenschaft anschlussfähig (Hürten) und wurde zu einer interaktiven Systematisierung der Erkenntnisse verwendet. Weiterführende Schritte nahmen Judith König und Wolfgang Grünstäudl, die die Tagung am 19./20. Februar 2024 in Münster ausrichteten, im Rahmen der Abschlussdiskussion in den Blick.