Vergewaltigung in Indien -
Wie wird diese Tat bewertet?
Die Vergewaltigung von Kindern ist heute eines der schlimmsten Verbrechen in unserer Gesellschaft. Gibt es eine grenzüberschreitende Beurteilung einer solchen Tat, oder wird sie in anderen Ländern auch anders bewertet?
Dieser schwierigen Frage ging Dr. Gabriele Alex im Rahmen ihres Vortrages nach. Sie näherte sich dem sensiblen Thema indem sie den Umgang mit Sexualität und Vergewaltigung zweier Kulturen verglich. Zum einen wurden unsere geltenden Moralvorstellungen und Werte kritisch beleuchtet, und zum anderen mit den Werten der unteren Kasten im ländlichen Tamil Nadu verglichen.
Dr. Alex bereiste mehrere Male Indien, und verbrachte dort insgesamt eineinhalb Jahre. Sie beschrieb den interessierten Zuhörern ihre Arbeit als Ethnologin und zeigte die Schwierigkeiten während ihrer Feldforschungen auf. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit war das Thema Kinder und ihre Kindheit. Den Umgang mit dem heiklen Thema Sexualität und Vergewaltigung und der Frage nach seiner Allgemeingültigkeit näherte sie sich erst, als ein Mädchen in dem Dorf in dem sie lebte, vergewaltigt wurde.
Dr. Alex stellte nach und nach unterschiedliche Bewertungen bei sexuellen Übergriffen fest. Zum einen führte sie dies darauf zurück, dass in Tamil Nadu erst ab dem Einsetzen der Geschlechtsreife ein Mensch als sexuelle Person gilt. Ein noch nicht menstruierendes Mädchen z.B. wird nicht mit Sexualität in Verbindung gebracht. Erfolgt ein sexueller Übergriff auf sie, wird es weder toleriert noch gern gesehen. Dies wird innerhalb der Gemeinschaft eher wie schlechtes Benehmen aufgefaßt. Ist aber das Mädchen geschlechtsreif, wird jede mögliche Verletzung ihrer Fruchtbarkeit, sei es auch nur der Verdacht auf eine Vergewaltigung als Schande für die ganze Familie gesehen. Im Vergleich dazu wird in unserer Gesellschaft diese Unterscheidung nicht getroffen. Ein Mensch gilt von der Geburt an bis zu seinem Tod als sexuelle Person. Kommt es zu sexuellen Übergriffen auf Kinder, gehen wir automatisch von einer Traumatisierung des Kindes aus. Wir sehen die freie Verfügung über den eigenen Besitz, also auch über den eigenen Körper, als höchstes Gut der Gesellschaft. In Südindien setzt der Wert des Einzelnen für die Gesellschaft erst ab der Geschlechtsreife ein. Die vielen Fragen aus dem Publikum zeigten das Interesse und auch die Aktualität an diesem sensiblen Thema in der Öffentlichkeit.