»Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Debatte«

Gesellschaftliche Differenzierung und das Integrationsparadox der Öffentlichkeit

Autor/innen

  • Marc Mölders Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Soziologie

DOI:

https://doi.org/10.17879/zts-2022-5334

Schlagworte:

Algorithmen, Differenzierungstheorie, Integrationsparadox, Kontrolle, Marcic, Mitwirkung, Multiple Differenzierung, Regulierung

Abstract

Forderungen nach »gesamtgesellschaftlichen Debatten« sind ubiquitär. Dass es in der Gegenwartsgesellschaft immer möglich ist, weitere Beteiligung zu fordern, hat übersehen lassen, wie viel mehr an Beteiligung im Vergleich zu nicht weit zurückliegenden Zeiten inzwischen möglich ist. Das Ideal einer gesamtgesellschaftlichen Debatte strebt soziale und nicht sachliche Allinklusion an bzw. wird argumentiert, dass sich das Sachliche nicht vom Sozialen trennen lässt (Denkstandort). In der Öffentlichkeitstheorie des Rechtsphilosophen René Marcics finden wir einen ideengeschichtlichen Vorläufer dieser Entwicklung. Seine Forderung lautete, dass in einem Rechtsstaat alle alle kontrollieren. Wem das institutionell verwehrt sei, müsse der Zugang über die Medien der öffentlichen Meinung eröffnet werden. Dies scheint im 21. Jahrhundert einerseits technisch möglich, andererseits ist längst bekannt, dass Partizipation kein rein technisch lösbares Problem ist. Schaut man sich aber konkrete Kontrollarchitekturen an, der Beitrag wählt dazu das Beispiel der Algorithmenregulierung, wird erneut ersichtlich, wie weit diese Infrastruktur nunmehr ausgebaut ist und dass das Anmahnen einer Berücksichtigung kultureller Differenzen sich bis ins Codieren niederschlägt. Obwohl Beteiligung sich ausweitet und sie regulatorische Unterschiede macht, ebbt der Ruf nach gesamtgesellschaftlichen Debatten nicht ab und nimmt Errungenes aus dem Blickfeld. Dies beschreibt der Beitrag als Integrationsparadox der Öffentlichkeit. Aus differenzierungstheoretischer Perspektive ist damit die Frage verknüpft, inwiefern kulturelle und andere Differenzierungen funktionale Differenzierung es zu stören in der Lage sind. Der Beitrag erkennt ein solches Störpotential als Folge einer Gesellschaft, in der unhaltbar scheint, sich (öffentlich) gegen die Beteiligung aller an allem, das alle angeht, auszusprechen.

Calls for society-wide debates are ubiquitous. That it is always possible in contemporary society to demand further participation has led to overlooking how much more participation is now possible compared to not so distant times. The ideal of an all-society debate strives for social rather than factual all-inclusion, respectively it is argued that the factual cannot be separated from the social. In the public sphere theory of the legal philosopher René Marcic we find an ideal precursor of this develoment. His demand was that in a rule-of-law state everyone controls everyone. Those who are institutionally barred from doing so must be given access to public opinion via the media. On the one hand, this seems technically possible in the 21st century. On the other hand, it has long been known that participation is not a purely technically solvable problem. However, if one looks at concrete control architectures – the article chooses the example of algorithm regulation for this purpose – it becomes apparent once again how far this infrastructure has now been developed and that the reminder to take cultural differences into account is even manifested in coding. Although participation is expanding and it is making regulatory differences, the call for society-wide debates is not abating and is taking achievements out of the picture. The article describes this as the integration paradox of the public sphere. From a differentiation-theoretical perspective, this raises the question of the extent to which cultural and other differentiations are capable of interfering with functional differentiation. The article recognizes such a potential as a consequence of a society in which it seems untenable to speak out (publicly) against the participation of everyone in everything that concerns everyone.

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Veröffentlicht

2024-01-23

Zitationsvorschlag

Mölders, M. (2024). »Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Debatte«: Gesellschaftliche Differenzierung und das Integrationsparadox der Öffentlichkeit. Zeitschrift für Theoretische Soziologie, 11(1-2), 132–144. https://doi.org/10.17879/zts-2022-5334