Welche Bedeutung haben soziale Milieus für den Übergang zu funktionaler Differenzierung?
Eine Analyse am Beispiel des Katholizismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert
DOI:
https://doi.org/10.17879/zts-2014-4858Abstract
Zahlreiche religionssoziologische und historische Arbeiten zeigen, dass sich der Katholizismus in einigen europäischen Ländern im 19. Jahrhundert zu einem konfessionellen Milieu – bzw. zu miteinander stark vernetzten Teilmilieus – verdichtete. Die Prozesse der Milieubildung liegen historisch ersichtlich parallel zu jenen der fortschreitenden gesellschaftlichen Modernisierung: Mit der Systemtheorie Luhmanns ist von einem über die Neuzeit reichenden sozialstrukturellen Umbruch zu funktionaler Primärdifferenzierung auszugehen. Im 19. und 20. Jahrhundert setzte sich die neue Differenzierungsform gesamtgesellschaftlich durch und bildete ihre bis zur Gegenwart reichenden Formen aus. Das Verhältnis der konfessionellen Milieus zu dem gleichzeitigen sozialstrukturellen Umbruch scheint allerdings nicht leicht bestimmbar zu sein: Einerseits wird die Milieubildung als Abschottung gegenüber funktionalen Ausdifferenzierungen gesehen, welche die davon negativ betroffenen Bevölkerungsgruppen vor bestimmten Effekten schützte. Im Kontrast zu dem im Protestantismus zeitgenössisch bereits deutlich spürbaren Säkularisierungstrend gelangen der katholischen Kirche zeitweise erhebliche Inklusionserfolge, insbesondere weil die konfessionell geschlossenen Milieus „tendenziell keinen Lebensbereich aussparte[n]“(Pollack 2011: 28). Trotz dieses defensiven Charakters stellen zahlreiche Publikationen andererseits die spezifisch ‚modernen‘ Merkmale heraus, insbesondere konfessionelle Vereine, Parteien, Druckmedien, Formen der schulischen Erziehung, der Massen-Religiosität. Deshalb wird der milieuförmige Katholizismus als „Antimodernismus mit modernen Mitteln“ (Altermatt 1995) interpretiert, der dazu beitrug, dass sich „die Kirche partiell modernisierte“ (Loth 1991: 11). Der milieuförmige Katholizismus reagierte zwar abgrenzend auf bestimmte Differenzierungsprozesse, begünstigte dadurch jedoch intern selbst Differenzierungsprozesse, die letztlich zur Auflösung der segmentären Abgrenzung, d. h. zur Milieu-Erosion, beitrugen.