Die „rites de passage“ nach Arnold van Gennep. Ritualanalyse und theologische Legitimationsstrategien

Autor/innen

  • Clemens Leonhard Seminar für Liturgiewissenschaft Katholisch-Theologische Fakultät der Westfälischen Wilhelms Universität Münster

Abstract

Rituale können an Übergängen zwischen Lebensphasen oder gesellschaftlichen Status vollzogen werden
und dadurch den vollzogenen Wechsel erfahrbar machen. In diesem Kontext wurde die Theorie
von Arnold van Gennep breit rezipiert. Van Gennep hat nicht nur aus der ethnologischen Literatur des
späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts viele Beispiele für solche Übergangsriten
gesammelt, sondern meinte auch, im Vollzug dieser Rituale ein universelles, dreistufiges Schema zu
erkennen. Menschen würden in Trennungsriten zunächst aus ihrem alten sozialen Status herausgelöst.
Sie würden anschließend in einer liminalen Phase transformiert und schließlich durch Angliederungsriten
in ihren neuen Status eingesetzt. In diesem Essay soll erstens gezeigt werden, dass das
dreistufige Schema, welches die Theorie von Arnold van Gennep auf konkrete Beispiele anwendbar
macht, nutzlos ist, wobei dabei die Kategorie der Übergangsriten im Allgemeinen weder gestützt noch
angegriffen werden soll. Zweitens soll die aus der Behauptung der Universalität von Übergangsriten
abgeleitete Norm, dass Lebensphasen von Übergangsritualen begleitet, dargestellt oder hergestellt
werden müssen, in Frage gestellt werden. Schließlich soll drittens gefragt werden, warum sich diese
Theorie trotz der aufgezeigten Mängel so großer Beliebtheit und Plausibilität erfreut.1 Der Essay
kommt zu dem Schluss, dass die van Gennep‘sche Theorie der Übergangsriten als Analyseinstrument
für Rituale aufzugeben ist. Gleichzeitig muss untersucht werden, welche politischen Implikationen die
Anwendung dieser Theorie haben kann.


In 1909, Arnold van Gennep published a theoretical study about a type of rituals that he called rites de
passage. He observed that such rituals were performed all over the world and consisted of three consecutive
stages – rites of separation, the liminal phase of transformation, and rites of aggregation.
These rituals transform the social status of individuals. Van Gennep’s basic intuition is of course valid.
Yet, when he applied his own theory to actual examples, inconsistencies abound especially in his analyses
of Christian rituals such as baptism. While one must not disdain a pioneer like van Gennep who
might have overstated the force of his own thesis, it is stunning that contemporary theologians simply
take his theory for granted and apply it ubiquitously (as van Gennep did). Furthermore, it may be observed
that the universality of the thesis is used in quite crude cases of natural fallacies. Thus, certain
modern texts insinuate that certain rituals must be performed because they are rites de passage, and
because rites de passage are part and parcel of human nature. The paper presents examples that
show how an admittedly sweeping anthropological thesis becomes a truism that supports theological
value judgments about modern rituals and even life-styles. It argues that these value judgements are
inadmissible and that Christian rituals must be studied with more elaborate and refined methods than
van Gennep’s observations about rites de passage.

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Veröffentlicht

2015-09-07