Aktueller Call for Papers

Kritik der Nachhaltigkeit

Was Kritik leisten kann und soll, ist ein Dauerthema der Soziologie – von der „Kritik der Politischen Ökonomie“, über die „Kritische Theorie“ bis hin zu jüngeren Diskussionen über die „soziologische Aufklärung“, eine „Soziologie der Kritik“ und „Kritik-Kontroverse“. Kritik und Soziologie sind auf engste miteinander verbunden. Ihre (kritischen) Perspektiven auf herrschende Verhältnisse und ihr normativer Impetus an einer Transformation hin zu einer besseren Gesellschaft mitzuwirken, blieben gleichwohl nicht unwidersprochen, sondern führten immer wieder zu Grundsatzdebatten über die Identität und das Theorie-Praxis-Verhältnis der Disziplin: Sollte sich die Soziologie kritisch-normativ zu den bestehenden Verhältnissen positionieren oder doch eher beschreibend-analytisch? Wie sollte sie sich zur Kritik und sozialen Praxis von sozialen Bewegungen ins Verhältnis setzen? Wie ist mit Werturteilen umzugehen und wie ist das jeweilige Verhältnis aus Nähe und Distanz zu begründen? All diese Fragen sind vor dem Hintergrund der sozial-ökologischen Krisendynamiken der Gegenwart erneut bedeutsam. Denn nicht nur für die Soziologie, auch für die Nachhaltigkeitsforschung- und   sozial-ökologische Bewegung ist Kritik mindestens in zweifacher Hinsicht essenziell:

Die Nachhaltigkeitsforschung versteht sich weithin als eine inter- und transdisziplinäre Wissenschaft, die einen positiven Beitrag zu einer sozial-ökologischen Transformation leisten will. Nachhaltigkeit ist gefasst als ein wünschenswertes und zu unterstützendes Gesellschaftsprojekt, das sowohl ökologische als auch soziale Probleme zu lösen verspricht. Der Begriff Nachhaltigkeit dient ihr als ein analytisches, normatives und diskursives Mittel, mit dem Kritik an nicht-nachhaltigen Zuständen geübt wird, sei es in Bezug auf die ökologische oder die soziale Dimension der Nachhaltigkeit. Er ist zugleich ein Bezugspunkt, um sich mit den Kritiken und Praktiken verschiedener Akteure und Bewegungen zu verbinden. Nicht nur die Nachhaltigkeitsforschung, sondern auch durch sozial-ökologische Praxiskontexte werden verschiedene Formen sozial-ökologischer Kritiken produziert. Im Namen der Nachhaltigkeit kritisieren Schüler*innen und Studierende der Fridays-for-Future-Bewegung Politiker*innen ihrer Heimatländer für ihre Klimapolitiken; radikale Nachhaltigkeitskonzepte kritisieren den Wachstumsfetisch, das moderne Naturverhältnis, das auf Individualverkehr zielende Mobilitätsdispositiv, das fossilen Energieregime oder auch die globale Externalisierung sozialer und ökologischer Nebenfolgen aus den Zentren des industriellen Kapitalismus in die Peripherie. Jeder Akteur, jede Praxis, jedes System kann aus der Perspektive des normativen Maßstabs der Nachhaltigkeit auf umweltschädliche und unsoziale Wirkungen hin analysiert und kritisiert werden: Autofahren und Fliegen, Ernährung und Konsum, das Mensch-Tier-Verhältnis und die Landwirtschaft, Wohnen und Hygiene, politische Regulierung und unternehmerisches Handeln – all das steht unter dem Verdacht der Nicht-Nachhaltigkeit.

Nachhaltigkeit ist jedoch nicht nur Mittel der, sondern auch Gegenstand von Kritik. Der Begriff wird z.B. häufig dafür kritisiert, zu einer Leerformel geworden zu sein. Die Rede von Nachhaltigkeit erscheint hier als eine oberflächliche Kritik oder Ideologie des grünen Kapitalismus, die nicht auf weitreichende Veränderungen abzielt, sondern dazu dient, dass auf der privilegierten Seite der Weltgesellschaft im Großen und Ganzen der Politischen Ökonomie und im Kleinen des eigenen Lebens fast alles bleiben kann, wie es ist. Green- und Social-Washing-Kampagnen von Unternehmen geraten auf diese Weise in die Kritik oder auch der Versuch, durch „nachhaltigen Konsum“ die Welt zu verändern und die Abschöpfung damit verbundener Distinktionsgewinne gegenüber ohnehin schon benachteiligten sozialen Milieus, die sich diesen nicht leisten können oder wollen. Nachhaltigkeit erscheint aus dieser Perspektive weniger als Lösung gegenwärtiger Probleme, sondern vielmehr als ein Problem für eine sozial-ökologische Transformation. Die Kritik an Nachhaltigkeit stammt aus politisch sehr divergenten Lagern, denn auch rechtspopulistische und „klimaskeptische" Akteure sowie Bewegungen setzen darauf, Nachhaltigkeit als ein exklusives Projekt „links-grün versiffter“ Milieus zu kritisieren, als ein ideologisches, quasi-religiöses Vehikel, das geradewegs in eine Öko- und Klimadiktatur führe.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen beschäftigt sich der neue Call for Papers der SuN mit dem Thema „Kritik der Nachhaltigkeit“.

  • Wie kann die Soziologie die in den Nachhaltigkeitsdiskurs eingeschriebene Kritik fruchtbar untersuchen? Welches Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Forschung und Nachhaltigkeitsbewegung verspricht einen profunden Beitrag zur Nachhaltigkeitsforschung, ein affirmatives oder kritisches? Inwiefern kann und sollte die Kritik in Nachhaltigkeitskonzepten mit einer spezifisch soziologischen Kritik angereichert werden?
  • Was wird mit dem Nachhaltigkeitskonzept auf welche Art und Weise und mit welcher Rechtfertigung kritisiert? Wie unterscheiden sich die Formen der Kritik verschiedener Nachhaltigkeitskonzepte voneinander und worauf sind die Unterschiede soziologisch zurückzuführen? Welche Intentionen und sozialen Funktionen hat Nachhaltigkeitskritik? Welche Akteure sind Sprachrohr der Kritik, welche bislang über- oder unterrepräsentiert? Über welche Medien verläuft die Kritik?
  • Wie und mit welchen Folgen wird Nachhaltigkeit in der Soziologie und in der Gesellschaft kritisiert? Inwiefern sind Nachhaltigkeitssemantiken an der (Re)Produktion sozialer Ungleichheiten, bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse und sozial-ökologischer Problemlagen beteiligt? Wie ist die Soziologie selbst in die sozial-ökologische Krise verstrickt und Teil des Problems? Wie geht sozialwissenschaftliche Forschung damit um, dass auch ihre Kritik ein Vehikel für rechtpopulistische Akteure und Bewegungen werden kann?

Interessierte Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis sind aufgefordert, bis zum 15. Dezember 2022 Abstracts von maximal 500 Wörtern einzureichen. Dabei sind sowohl theoretische als auch empirische Beiträge erwünscht. Neben der Einreichung von Abstracts für fachwissenschaftliche Beiträge im Journal SuN sind auch Vorschläge für Blog-Beiträge für den 2023 startenden Begleit-Blog der SuN erwünscht, die an eine breitere Zielgruppe gerichtet sind. Alle Beitragsvorschläge können unter sun.redaktion@uni-muenster.de eingereicht werden.