Katharina König | Ortwin Lämke

Zugänge zu Mündlichkeit im Kontext DaF

Schlaglichter der Germanistischen Institutspartnerschaft Münster-Xi’an

  1. Anfänge

    Der vorliegende Band ist aus der wissenschaftlichen und pädagogischen Zu- sammenarbeit in der vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) von 2017 bis 2022 geförderten Germanistischen Institutspartnerschaft (GIP) zwischen der Xi’an International Studies University und der Universität Müns- ter hervorgegangen. Die von Prof. Dr. Susanne Günthner (Centrum Sprache und Interaktion, Universität Münster), Dr. Ortwin Lämke (Centrum für Rheto- rik, Kommunikation und Theaterpraxis, Universität Münster) sowie Prof. Dr. Renbai Wen und Ass. Prof Dr. Qiang Zhu (Germanistische Fakultät der XISU) geleitete GIP geht zurück auf eine bereits seit 2008 bestehende Lehr- und For- schungskooperation mit der XISU. Aus den im Rahmen der Institutspartner- schaft gemeinsam durchgeführten Lehrveranstaltungen, Forschungsprojekten und Tagungen entstand die Idee zu dem vorliegenden Sammelband, der lingu- istische und sprechwissenschaftliche „Zugänge zu Mündlichkeit“ im Kontext der universitären DaF-Lehre miteinander verbindet.

    Neben der gemeinsamen Arbeit an einem Forschungsprojekt zu „Hochschul- kommunikation: Kontrastive Analysen kommunikativer Praktiken im Hoch- schulkontext Chinesisch-Deutsch“, einer Kooperation in der Lehre der Master- studiengänge „Deutsch“ der XISU, der Qualifikation von Promovierenden so- wie der Ausbildung von Deutschlehrer:innen in China zählten zu den Zielen der GIP insbesondere der nachhaltige Ausbau verschiedener Lehrressourcen wie der Datenbank „Gesprochenes Deutsch für die Auslandsgermanistik“ (https://daad-gda.sprache-interaktion.de/) und die Erstellung didaktisierter Lehreinheiten für den universitären DaF-Unterricht. Verschiedene Formen von Mündlichkeit bildeten den gemeinsamen Nenner der langjährigen Koope- ration, die durch den Einbezug des Centrums für Rhetorik, Kommunikation und Theaterpraxis (CfR) am Germanistischen Institut der Universität Münster erweitert wurde. Interaktionale Perspektiven auf gesprochene Sprache in ih-


    rer privaten wie institutionellen Einbettung in face-to-face-Settings oder medi- alen Vermittlung wurden so um stark lernerzentrierte Lehrformate für den DaF-Unterricht ergänzt. So bildeten etwa sprechwissenschaftliche Zugänge auf frei gehaltene Vorträge, auf das Debattieren und das Sprechen bzw. Rezitieren von (literarischen) Texten weitere Gegenstände der GIP-Lehrveranstaltungen an der XISU, die für Masterstudierende, aber auch als Fortbildung für Do- zent:innen und Lehrer:innen abgehalten wurden.

  2. Mündlichkeit im Kontext DaF

    Mündlichkeit nimmt sowohl als Betrachtungs- und Vermittlungsgegenstand als auch als Erschließungsmethode einen zentralen Stellenwert im universitären DaF-Unterricht ein. In den letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten zu Strukturen des gesprochenen Deutsch im Kontext DaF entstanden, die didaktisch-methodi- sche Standards bei der Arbeit mit natürlichen Gesprächsdaten und auf Lerner:in- nen zugeschnittene Transkriptionen entwickelt haben (exemplarisch etwa: Betz und Huth 2014; Günthner et al. 2021; Imo und Moraldo 2015; Reeg et al. 2012). Auch wenn also weitgehend unstrittig ist, dass authentische mündliche Interak- tion einen relevanten Gegenstand darstellt, bleibt noch weiter zu explorieren, wie die zumeist auf einzelne sprachliche Konstruktionen bezogenen Arbeiten im universitären DaF-Unterricht systematisch zusammengeführt und an die Grund- bedingungen interaktionalen Handelns zurückgebunden werden können.

    Zugleich spielt Mündlichkeit nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Ver- mittlungsmethode eine zentrale Rolle, wie etwa handlungs- und produktions- orientierte Ansätze der Literaturdidaktik (exemplarisch hier die zahlreichen Beiträge Caspar H. Spinners in Kliewer/Pohl 2012) und der Sprechwissen- schaft/Rhetorik belegen (Bräuer 2011, Lemke 2012). Methoden des szenischen Spiels, des gemeinsamen chorischen Sprechens oder des argumentativen De- battierens bauen grundlegend auf interaktionalen Praktiken des gemeinsamen bzw. wechselseitigen Sprachvollzugs auf. Literarisch-ästhetische Texte schaf- fen somit vielfältige Ansätze für spracherschließende mündliche Interaktion im Kontext DaF.

  3. Die Beiträge des Bandes

    Ziel des vorliegenden Sammelbands ist es, Forschungsbeiträge wie auch Praxis- berichte zusammenzutragen, die sich einer grundlegenden Reflexion der Rolle


    von Mündlichkeit als Gegenstand, Methode und Lernziel für den Kontext DaF widmen, und dabei Perspektiven aus der Linguistik, Literatur- und Sprechwis- senschaft zusammenführen. Die Beiträge befassen sich mit grammatischen Be- sonderheiten und musterhaften Verfestigungen in mündlichen Interaktionen, den Herausforderungen des transkriptionsbasierten Lehrens und Lernens, der fremdsprachendidaktischen Nutzbarmachung von Praktiken der Mündlichkeit in messengerbasierten Interaktionen und dialogischen Methoden des Text- Sprechens sowie sprechwissenschaftlichen Zugängen zur Rederhetorik und zur Phonetik- wie Prosodievermittlung. Die Beitragenden präsentieren Didaktisie- rungskonzepte, stellen verschiedene Lehr- und Lernmaterialien vor oder disku- tieren methodische und konzeptuelle Herausforderungen bei der Erschließung bzw. dem Einsatz von Mündlichkeit in der universitären DaF-Lehre. Im Folgen- den werden die Beiträge kurz zusammengefasst.

    Transkripte stellen eine zentrale Ressource bei der Arbeit mit authentischen Gesprächsdaten im DaF-Unterricht dar: Zum einen sollen sie Lernende dabei unterstützen, mündliche Interaktionen verstehend zu erschließen; zum ande- ren sollen sie Besonderheiten der gesprochenen Sprache abbilden, um diese zum Reflexionsgegenstand des Sprachunterrichts machen zu können. Lanwer und Schopf nehmen in ihrem Beitrag „Zeichenmaterialität und Fremdsprach- erwerb. Möglichkeiten und Grenzen der schriftgestützten Vermittlung gespro- chener Sprache im DaF-Unterricht“ eine kritische Betrachtung der theoreti- schen Grundlagen der Transkriptionspraxis vor, die weitreichende Konse- quenzen für die didaktische Aufarbeitung dieses Materialtyps für die Vermitt- lung von Deutsch als Fremdsprache hat. Die Autor:innen diskutieren vor dem Hintergrund des Aspekts der Zeichenmaterialität kritisch Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung gesprochener Sprache mithilfe von Transkripten au- thentischer Interaktionen. Fokussiert wird dabei primär auf den Bereich des Spracherwerbs und weniger auf den der Sprachreflexion. Vor dem Hinter- grund theoretischer Überlegungen zur Zeichenmaterialität und empirischen Beobachtungen zur (wissenschaftlichen) Transkriptionspraxis wird aufge- zeigt, dass eine Art ‚Transkriptizismus‘ entstehen kann, wenn Transkripten ein Veranschaulichungspotenzial in Bezug auf Strukturen der Mündlichkeit zuge- schrieben wird, das diese nicht einlösen können. Ausgehend von dieser Über- legung wird weiterführend ein didaktisches Szenario für den Einsatz unterti- telter Alltagsinteraktionen im DaF-Unterricht entwickelt, das sich als eine


    wichtige Schaltstelle im Übergang von der Schriftlichkeit zur Mündlichkeit er- weisen könnte.

    Ausgangspunkt für den Beitrag „Die Interaktionale Linguistik als Gegenstand in der (universitären) DaF-Lehre“ von Weidner bildet die Diagnose, dass DaF-Lehr- bücher mündlichen Sprachgebrauch zwar zunehmend in den Blick nehmen, je- doch immer noch zu überblicksartig und unsystematisch in den Gegenstands- bereich einführen. Der Artikel identifiziert zunächst drei Voraussetzungen, die für eine linguistische Befassung mit gesprochener Sprache in universitärer DaF-Lehre unerlässlich sind. Neben dem Zugang zu aktuellen Forschungsarbei- ten gehört hierzu die Bereitstellung von authentischen Gesprächsdaten sowie ihre didaktische Aufbereitung. Weidner gibt jeweils einen Überblick über Res- sourcen, die zur Thematisierung interaktionaler Sprache im Kontext DaF ver- wendet werden können. Anhand der Dimensionen der Zeitlichkeit und Sequen- zialität zeigt sie anschließend Perspektiven auf, wie sich verschiedene syntak- tische Phänomene des gesprochenen Deutsch systematisch aufarbeiten lassen. Im Mittelpunkt steht hierbei nicht (nur) die Vermittlung von Spezifika münd- licher Strukturen zum Zwecke der Förderung rezeptiver und produktiver Sprachkompetenz. Vielmehr werden Vorschläge für eine explizite Heranfüh- rung an Gegenstandsbereiche interaktional-linguistischer Forschung in der universitären DaF-Lehre unterbreitet, sodass eine sprachwissenschaftlich fun- dierte Beschäftigung mit Mündlichkeit stattfinden kann.

    Bauer und Buck wenden sich in ihrem Beitrag „nur dass sie_s WISsen; Zum sprechhandlungsbezogenen Gebrauch einer Finalkonstruktion“ dem Feld der medizinischen Kommunikation zu. Ihr Artikel befasst sich mit der funktionalen Spezifik von nicht eingebetteten dass-Sätzen mit finaler Lesart in Arzt-Patien- ten-Gesprächen aus dem Krankenhaus. Diese weichen insofern von der in Lernergrammatiken üblichen Darstellung von dass-Sätzen ab, als sie sich nicht auf einen übergeordneten Matrixsatz beziehen. Anhand detaillierter sequenz- analytischer Betrachtungen des interaktiven Gebrauchs dieser Finalkonstrukti- onen in einem Korpus von Aufklärungs- und Visitengesprächen aus der Onkolo- gie und der Palliativmedizin wird dafür argumentiert, diese nicht als ‚deviant‘ abzuwerten. Die Autorinnen zeigen zum einen auf, dass die Konstruktion stets sprechhandlungsbezogen verwendet wird, indem sie eine vorherige arztseitige Wissensvermittlung modalisiert. Sowohl der Konstruktionssubtyp mit mentalen Verben (nur dass Sie’s wissen) als auch der Subtyp mit emotiven Verben (nur dass


    Sie nicht enttäuscht sind) verweist auf zukünftige Kontexte, für die das im Ge- spräch vermittelte Wissen möglicherweise relevant werden kann. Die Konstruk- tion erweist sich damit im Kontext institutioneller Kommunikation als wichtige Ressource für das lokale Wissensmanagement der Ärzt:innen. Auf dieser Grund- lage plädiert der Beitrag dafür, dass die Vermittlung typisch gesprochensprach- licher Strukturen im Kontext DaF in einem möglichst holistischen Zugang erfol- gen sollte, der das reflexive Zusammenspiel von grammatischen Konstruktio- nen und kommunikativen Gattungen zum Gegenstand macht.

    Der Beitrag „Mündlichkeit im Posting-Format. Praktiken der dialogischen Kom- munikation über Sprachnachrichten per WhatsApp und WeChat im DaF-Unter- richt“ von König und Duan nimmt mit Sprachnachrichten, also über einen mo- bilen Messenger aufgenommene und verschickte Audio-Postings, eine zuneh- mend verbreitete Form mediatisierter Mündlichkeit in den Blick und diskutiert Möglichkeiten ihrer (medien-)linguistischen Thematisierung im universitären DaF-Unterricht. Während der Instant-Messaging-Dienst WhatsApp keine (rele- vanten) Einschränkungen bei der Aufnahmedauer macht, sind Sprachnachrich- ten bei WeChat, dem in China verbreiteten Messenger, auf 60 Sekunden be- grenzt. Auf Basis zweier Korpora authentischer transmodaler Dialoge kontras- tieren die Autorinnen daher Praktiken der sprachlich-sequenziellen Gestaltung von im Rahmen dieser verschiedenen Affordanzen entstandenen mündlichen Postings. Es zeigt sich, dass Sprachnachrichten im deutschen Teilkorpus über- wiegend im privaten Kontakt verankert sind und prototypischerweise als ‚ver- dichtete‘ Postings, in denen mehrere Themen- oder Aktivitätsstränge verfolgt werden, gestaltet werden. In den chinesischen WeChat-Dialogen ist eine Diffe- renzierung institutioneller und privater Audio-Postings zu beobachten. So ist es im Kontext der Hochschulkommunikation üblich, dass Lehrende mehrere län- gere Sprachnachrichten nacheinander an Studierende verschicken, diese selbst jedoch mit Textnachrichten antworten. In privaten WeChat-Dialogen werden hingegen sehr kurze Audio-Postings versendet, die weit unter dem von dem Messenger gesetzten Zeitlimit liegen. Abschließend argumentieren die Autorin- nen, dass die aufgezeigten Unterschiede nur in einem kombinierten medien- und kulturlinguistischen Zugang adäquat erfasst werden können.

    Anhand dreier Bild- und Lautgedichte Ernst Jandls wird in dem Beitrag „Gedichte sprechen und verstehen: zum Beispiel Ernst Jandl. Das Text-Sprech-Spiel als Me-


    thode szenischer Interpretation im DaF-Unterricht“ von Lämke das Potenzial sze- nischer Interpretationsverfahren belegt und damit zugleich ein konkreter Unter- richtsvorschlag angeboten. Das kooperative Text-Sprech-Spiel führt über die sprachlich-motorische Interaktion der Studierenden, so die These, zu einem ver- tieften Verständnis der vom Wortmaterial her einfach erscheinenden, inhaltlich komplexen Gedichte Jandls. Die fundamentale Dialoghaftigkeit des Textspre- chens wird deutlich in der Interaktion beim Vorbereiten, beim Darbieten sowie in der nachträglichen Reflexion des Text-Sprech-Spiels. Ein solch performativer Umgang mit Ernst Jandl wirft implizit die in der Literaturwissenschaft ausgiebig diskutierte Frage nach der Stimme auf, nach den Personen- und Kommunikati- onsstrukturen im Gedicht. Diese lyriktheoretischen Implikationen werden im Beitrag ebenfalls skizziert, um den in der (insbesondere schulischen) Didaktik gängigen Begriff des „lyrischen Ich“ zu problematisieren. Er erweist sich hier an- gesichts der schlüssigen performativen Interpretationen Studierender zu den ausgewählten Gedichten Jandls als unbrauchbar. Der Aufsatz verbindet also sprechwissenschaftliche, literaturdidaktische und literaturwissenschaftliche An- sätze für den DaF-Literaturunterricht.

    Der Beitrag „Aussprachetraining mit DaF-Studierenden. Methodik und Didaktik der Sprecherziehung im Phonetikunterricht. Ein Praxisbericht“ von Appel stellt ein Konzept zur sprechwissenschaftlichen Vermittlung phonetischer Grundlagen des Deutschen vor, das in langjähriger Lehrtätigkeit mit erwachsenen Deutsch- als-Fremdsprache-Lerner:innen entwickelt und erprobt wurde. Ausgehend von der Beobachtung, dass DaF-Lernende oftmals nicht die Bedeutung eines gerade von ihnen vorgelesenen Textes wiedergeben können, verfolgt das vorgestellte Training das Ziel, Lernende dazu zu befähigen, Texte sinnerfassend zum Vortrag zu bringen, also Text, Lautgestalt und Bedeutung zu integrieren. Gegenstände des Aussprachetrainings bilden etwa Eigenheiten der Lautartikulation, Intonations- konturen, Modulierungen der Sprechgeschwindigkeit sowie sinngenerierende Pausen. Didaktisch fokussiert das Konzept auf interaktionsorientierte Methoden aus der Stimm- und Sprechbildung, der Ästhetischen Kommunikation und der Rhetorik, die das auf Artikulation ausgerichtete Training für alle Kursteilnehmen- den anregend gestalten und dabei auf individuelle Kompetenzunterschiede ein- gehen können. Interaktion wird hierbei als räumlich situierte körperliche Aktivi- tät begriffen, sodass neben Verfahren wie dem chorischen Sprechen auch bewe- gungsaktivierende Übungen einbezogen werden. Das vorgestellte Konzept er- gänzt somit das bislang überwiegend auf das Selbststudium fokussierte Angebot


    von Aussprachetrainings. Der Artikel zeigt auf, wie die Implementierung interak- tionaler Methoden aus der Sprecherziehung und Sprechwissenschaft den Pho- netikunterricht ebenso wie den zur Prosodie mit erwachsenen DaF-Lernenden bereichern kann.

  4. … und Enden?

    Der vorliegenden Band speist sich aus Konzepten, Ideen und Methoden, die in der langjährigen Lehr- und Forschungskooperation zwischen dem Germanisti- schen Institut der Universität Münster und der Germanistischen Fakultät der XISU entwickelt und erprobt wurden. Eine solche internationale Zusammen- arbeit wird immer von den Personen getragen, die sie mit Leben füllen. Ihr An- teil an dem Zustandekommen dieses Bandes soll an dieser Stelle daher entspre- chend gewürdigt werden.

    Ohne Susanne Günthners wissenschaftliche Faszination für gesprochene Spra- che und deren Vermittlung im Kontext Deutsch als Fremdsprache sowie ihr un- erschütterliches Engagement für den Auf- und Ausbau internationaler Koopera- tionen mit verschiedenen chinesischen Universitäten wäre die Germanistische Institutspartnerschaft schlichtweg nicht denkbar gewesen, aus der die hier vor- gestellten multiperspektivischen „Zugänge zu Mündlichkeit“ hervorgegangen sind. Wir danken zudem insbesondere den chinesischen Kolleg:innen und Stu- dierenden der XISU für den lebendigen Austausch und die vielfältigen Anregun- gen zu einem reflektierten Umgang mit den Herausforderungen, die die Münd- lichkeit im Kontext der universitären DaF-Vermittlung mit sich bringen können.

    Die Zusammenarbeit in der Hauptphase der GIP war von unvorhersehbaren Herausforderungen geprägt. Durch die Pandemie wurde der persönliche Aus- tausch von Lehrenden erschwert und die Einreise chinesischer Studierender nach Deutschland zeitweise unmöglich. Durch das ungebrochene Engagement aller GIP-Beteiligten (insbesondere der Münsteraner Koordinatorin Albina Haas sowie der Stipendiat:innen und Praktikant:innen), die aktiv an der Ent- wicklung neuer Austauschformate mitwirkten, konnte die Kooperation den- noch fortgeführt werden. Vortragsreihen, Tagungen und Betreuungsgesprä- che wurden per Zoom angeboten und auch die Lehre der Universität Münster fand online statt, sodass die chinesischen Stipendiat:innen weiterhin regulär an Veranstaltungen des Germanistischen Instituts teilnehmen konnten.


    Darüber hinaus ermöglichte der DAAD die Entwicklung der Online-Plattform LiLiS („Wissenschaftliches Arbeiten in Linguistik und Literaturwissenschaft für internationale Germanistik-Studierende“), die spezifisch auf die Bedarfe von Lehrenden und internationalen Studierende am Germanistischen Institut der Universität Münster zugeschnitten ist.1 Die digitale Lehrressource zielt darauf ab, chinesische Studierende schon vor der Einreise nach Deutschland über das universitäre System in Deutschland zu informieren, und bietet interaktive Ein- führungen in die Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Interkultu- relle Kommunikation. In den Lehreinheiten sind verschiedene Anregungen umgesetzt, die in den hier zusammengetragenen Aufsätzen entwickelt und wissenschaftlich flankiert werden. Für die finanzielle Unterstützung des vor- liegenden Bandes danken wir ebenfalls dem DAAD; für die Redaktion und den Satz der Beiträge geht unser Dank an Sarah Nagel und Nele Brathe.

    Mit dem Auslaufen des Jahres 2022 endete auch die ‚offizielle‘ Arbeit der GIP. Wir hoffen aber nicht zuletzt durch die Publikation des vorliegenden Bandes eine weiterführende Diskussion über interdisziplinäre Zugänge zu Mündlich- keit im Kontext DaF anregen zu können.

  5. Literatur

Betz, Emma M.; Huth, Thorsten (2014): Beyond Grammar. Teaching Interaction in the German Language Classroom. In: Die Unterrichtspraxis/Teaching German 47 (2), S. 140–163.

Bräuer, Christoph Reinhard (Hg.) (2011): Kommunikation und Interaktion im Unterricht. Duis- burg: Univ.-Verl. Rhein-Ruhr.

Günthner, Susanne; Schopf, Juliane; Weidner, Beate (Hg.) (2021): Gesprochene Sprache in der kommunikativen Praxis. Analysen authentischer Alltagssprache und ihr Einsatz im DaF-Un- terricht. Tübingen: Stauffenburg.

Imo, Wolfgang; Moraldo, Sandro M. (Hg.) (2015): Interaktionale Sprache und ihre Didaktisierung im DaF-Unterricht. Tübingen: Stauffenburg.

Kliewer, Heinz-Jürgen; Pohl, Inge (Hg.) (2012): Lexikon Deutschdidaktik (2 Bände). Baltmanns- weiler: Schneider-Verl. Hohengehren (mit ausgewählten Einträgen Spinners wie

„Kommunikationsorientierter DU“, „Schülerzentrierter DU“, „Stehgreiftheater“,

„Szenisches Interpretieren“).

Lemke, Siegrun (Hg.) (2012): Sprechwissenschaft/Sprecherziehung. Ein Lehr- und Übungsbuch. 2., überarb. und ergänzte Aufl. Frankfurt a.M.: Peter Lang.


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1 Die Lehreinheiten sind für Angehörige der Universität Münster und mit ihr assoziierte internationale Lehrende und Studierende nach kurzer Registrierung zugänglich: https:// lilis.sprache-interaktion.de/. Wir danken den Hilfskräften Marie-Sophie Beaumont, Elisa Gottschalk und Bentje Vetter für die engagierte und kreative Unterstützung beim Auf- und Ausbau der Plattform.


Reeg, Ulrike; Gallo, Pasquale; Moraldo, Sandro M. (Hg.) (2012): Gesprochene Sprache im DaF- Unterricht. Zur Theorie und Praxis eines Lerngegenstandes. Münster: Waxmann.

Jens Lanwer | Juliane Schopf

Zeichenmaterialität und Fremdspracherwerb

Möglichkeiten und Grenzen der schriftgestützten Vermittlung gesprochener Sprache im DaF-Unterricht

Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag diskutiert mit Blick auf den Aspekt der Zeichen- materialität kritisch die Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung gesprochener Sprache mithilfe von Transkripten authentischer Interaktionen. Fokussiert wird dabei primär auf den Bereich des Spracherwerbs und weniger auf den Bereich der Sprachreflexion. Ausge- hend von theoretischen Überlegungen zur Zeichenmaterialität und empirischen Beobach- tungen zur (wissenschaftlichen) Transkriptionspraxis wird aufgezeigt, dass die Arbeit mit Transkripten zu einer Art Transkriptizismus führen kann, wenn Transkripten ein Veran- schaulichungspotenzial in Bezug auf Strukturen der Mündlichkeit zugeschrieben wird, das diese materialiter nicht einlösen können. Ausgehend von dieser Überlegung wird weiter- führend dafür argumentiert, dass sich aber der Einsatz untertitelter Alltagsinteraktionen im DaF-Unterricht durchaus als eine wichtige Schaltstelle im Übergang von der Schriftlichkeit zur Mündlichkeit erweisen könnte.

Abstract: This article critically discusses the possibilities and limitations of conveying spo- ken language with the help of transcripts of authentic interactions with regard to the aspect of sign materiality. The focus is primarily on the area of language acquisition and less on the area of language reflection. Based on theoretical thoughts on the materiality of signs and empirical observations on (scientific) transcription practice, it is shown that working with transcripts can lead to a kind of transcripticism, if transcripts are ascribed an illustrative potential with regard to structures of orality, which they cannot fulfill materially. Based on this consideration, it is further argued that the use of subtitled everyday interactions in DaF lessons could indeed prove to be an important juncture in the transition from written to oral language.


  1. Einleitung

    Im Bereich der Fremdsprachdidaktik heißt es oft, man beherrsche die Zielspra- che dann in „vollem Umfang“, wenn man umfassende passive und aktive Kom- petenzen in den Bereichen Mündlichkeit und Schriftlichkeit aufgebaut hat (vgl. GER 20111). Erst wenn dies der Fall ist, sei man – wie man auch sagt – der Sprache in Wort und Schrift mächtig.2 Eine entscheidende Frage für die Ver- mittlung einer Fremdsprache ist daher, wie der Zusammenhang zwischen ge- sprochener und geschriebener Sprache gedacht werden kann, wenn diese bei- den Sprachmodi parallel oder aufeinander aufbauend gelehrt und gelernt wer- den sollen. Es ergeben sich daher starke Bezüge zum fachwissenschaftlichen Diskurs über die Art und Weise der Wechselbeziehungen zwischen Mündlich- keit und Schriftlichkeit: Hier wird immer wieder diskutiert, ob gesprochene und geschriebene Sprache als eigenständige Systeme zu betrachten sind (vgl.

    u.a. Hennig 2006; Schneider 2011; Schneider 2013), was sprachdidaktisch weit- reichende Folgen hätte. In der Regel wird jedoch die empirische Evidenz für eine Eigenständigkeit für zu schwach erachtet – allerdings bei Eingrenzung der Beweisaufnahme auf eine postulierte Standardsprachlichkeit. Das zentrale Ar- gument ist in diesem Zusammenhang, dass die Menge der exklusiv gespro- chensprachlichen bzw. geschriebensprachlichen Systemeigenschaften zu ge- ring sei, um von separaten Systemen ausgehen zu können. Es wird daher zu- meist – wie es etwa bei Schneider (2011: 183) heißt – für sinnvoller erachtet

    „von einem System mit Untersystemen, die sich stark überschneiden“, auszu- gehen.

    Die Annahme von sich überschneidenden „Untersystemen“ ignoriert aller- dings einen im wörtlichen Sinne substanziellen Unterschied zwischen Münd- lichkeit und Schriftlichkeit, der vor allem in der Argumentation von Schneider ansonsten eine durchaus prominente Rolle spielt, nämlich den der materiellen Fundierung von Zeichensystemen: Nur wenn wir annehmen, dass sprachliche Strukturen amodal repräsentiert sind, können wir im engeren Sinne von „Un- tersystemen, die sich stark überschneiden“, reden (vgl. auch Kress 2003: 31– 34). Gehen wir jedoch davon aus, dass sprachliche Systeme in materialisierten


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    1 Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen (GER 2011) führt hier fünf Fertigkeiten an, die zu rezeptiver, produktiver und interaktionaler Sprachkompetenz führen: Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben und Interaktion.

    2 Unklar ist jedoch, warum Wort in dieser Wendung für gesprochene Sprache steht.


    Prozessen der Verständigung fundiert sind, wirft dies ein anderes Licht auf die Frage der Organisation eines Systems, das Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Subsysteme integriert. Im Folgenden wird es darum gehen, eine solche Sicht auf Sprache grob zu skizzieren, um vor diesem Hintergrund zunächst die Vor- stellung von Besonderheiten gesprochener Sprache als einen skriptizistisch grundierten Mythos zu entlarven (2). Hiervon ausgehend werden dann am Bei- spiel einer explorativen Untersuchung zum Verfahren der Kontrastschreibung konkrete Probleme für den Einsatz von Transkripten im DaF-Unterricht offen- gelegt (3). Ausgehend von den theoretischen Überlegungen und empirischen Beobachtungen wird abschließend der Nutzen von Untertiteln als visuelle Seg- mentierungshilfe für die Arbeit mit authentischen Gesprächsdaten im DaF-Unter- richt diskutiert (4).

  2. Der Mythos der Besonderheiten

    Sprache wird häufig „als ein gegebenes – und nicht etwa konstruiertes – Ob- jekt“ (Krämer 2000) aufgefasst, das sich als mehr oder weniger konsistentes, stabiles und geschlossenes Regelsystem beschreiben lässt. Vor diesem Hinter- grund mag es naheliegen, anzunehmen, dass der Erwerb einer Sprache in der Aneignung eines abstrakten, feststehenden Regelwerks erfolgen kann und für die Vermittlung einer Fremdsprache somit die Behandlung von Regeln essen- tiell ist (vgl. auch Stetter 1997: 88–92). Dieses Regeldogma unterliegt, wenn auch häufig ungewollt und/oder unbemerkt, auch der Annahme, dass die Ver- mittlung mündlicher Kompetenzen als ein Dazulernen von Sonderregeln, bspw. im Bereich der Syntax oder der Aussprache, erfolgen kann. Eine entspre- chende Sichtweise ist zwar didaktisch durchaus verlockend (vgl. Lanwer 2015a: 88), aber grundlegend problematisch, denn sie sitzt einem Zerrbild von Spra- che auf, das vor allem die materiellen Konstitutionsbedingungen völlig aus- blendet: Sprache wird als ein „mentales System“ behandelt, „das zu seiner Konstitution der leiblich zeichenhaften Prozessierung nicht“ (Jäger 2000: 27) bedarf.

    Das skizzierte Regeldogma lässt sich überhaupt nur vor dem Hintergrund eines amodalen Sprachverständnis begründen und aufrechterhalten (vgl. Kress 2003: 31–32). Nur vor dem Hintergrund einer Trennung von mentaler Kompetenz und körperlich-materieller Performanz lässt sich ein Modell konzipieren, das


    sprachliches Handeln als eine Anwendung von Regeln zur Realisierung von Sät- zen oder Äußerungen in verschiedenen Modalitäten versteht. Ein Regelsystem für die Erzeugung geschriebener wie gesprochener Sätze/Äußerungen lässt sich nur hypostasieren, wenn in einem „Zwei-Welten-Modell“ (vgl. Krämer 1999; 2000) die mentalen Typen der Kompetenz als unabhängig von den materialisier- ten Token der Performanz gedacht werden (vgl. Ágel 2003: 7; Linell 2005: 28). Das, was Fiehler (2013: 21) als eine „Marginalisierungsgeschichte der gesproche- nen Sprache“ beschreibt, wird vor diesem Hintergrund als ein Effekt der „Medi- envergessenheit der Sprachtheorie“ (Jäger 2000:26–28) rekonstruierbar, die in gleicher Weise zu einer Marginalisierung der geschriebenen Sprache geführt hat. Dies findet sich u.a. darin bestätigt, dass die Schriftlinguistik ebenso um die Ausgliederung und Bestimmung ihres Gegenstandes hat ringen müssen wie die Gesprochene-Sprache-Forschung (vgl. u.a. Krämer 2014). Zwar steht – wie es Krämer (1999: 386) formuliert – in der linguistischen Theoriebildung „das Schriftbild dem Sprachbild Modell“. Die Schrift leitet aber „eine Entsinnlichung […] des Sprachbildes ein“ (Krämer 1999: 387), was dazu führt, dass die Zeichen- materialität per se aus dem Blick oder erst gar nicht in den Blick gerät.3 Sprache wird daher in linguistischen Diskursen per se marginalisiert; zumindest, wenn man „unter Sprache auch ihre material-mediale Erscheinungswirklichkeit“ (Jäger 2000: 26) einbezieht.

    Einer Sichtweise auf Sprache, die die „material-mediale Erscheinungswirklich- keit“ ernst nimmt, wie sie sich bereits bei Humboldt, aber auch bei Paul oder de Saussure angedeutet findet, wurde vor allem durch die ‚kognitive Revolu- tion‘ für lange Zeit der Nährboden entzogen (vgl. Jäger 2000). Im Theoriege- bäude der Generativen Grammatik wird durch die Annahme eines autonomen Sprachmoduls als System zur Manipulation abstrakter Symbole der Blick auf die materielle Fundierung sprachlicher Zeichen verstellt (vgl. auch Atkinson 2010: 603–604). Gerade mit Blick auf Erwerbsprozesse lohnt sich jedoch ein

    „Nachdenken über die Sprache […] als immer medial vollzogene und zeitlich situierte sprachliche Artikulation“ (Krämer 1999: 397). Nur so kann „das Per- formative als eine produktive Kraft in den Blick […] [geraten], welche Struktu- ren nicht bloß realisiert, sondern selbst hervorbringt“ (Krämer 1999: 378). Es


    3 Mit „Entsinnlichung“ ist hier sicher nicht gemeint, dass schriftliche Sprache nicht mehr mit den Sinnen erfasst werden muss, sondern dass durch die persistente Materi- alisierung in der Schrift im analytischen, reflektierenden Zugriff der Blick auf Aspekte der Zeichenkonstitution durch Wahrnehmung verloren geht.


    bietet sich daher ein Blick auf lebensweltlich geerdete, gebrauchsbasierte An- sätze an, die Sprache als ein emergentes Inventar von kommunikativen Ver- fahren begreifen, das soziale Akteure in ihrem Handeln immer wieder (abwei- chend) reproduzieren (vgl. u.a. Croft 2009: 397–403; Fehrmann 2015; Günthner 2011; Schmid 2020; Hopper 1987; Langacker 1987; Schneider 2011; Tomasello 2003). Der Erwerb sowie die fortlaufende Rekonstitution eines solchen Inven- tars kann sich nur in körperlich-materiell verankerten Praktiken der intersub- jektiven Sinngenese vollziehen. „Gebrauchstheoretisch betrachtet üben sich die Bedeutungen von Zeichen über ihre materiale Prozessierung im diskursi- ven Gebrauch ein“ (Fehrmann 2015: 401). Spracherwerb verläuft nach diesem Verständnis als eine sozio-kognitive Adaption an spezifische kommunikative Ökologien (vgl. Atkinson 2010: 610–611). Eine orale Sprache ist wesentlich in senso-motorischen Routinen fundiert (vgl. u.a. Bybee 2006; Streeck 2018: 31).

    Im „diskursiven Gebrauch“ bauen wir kognitive Schemata auf, die es uns ermög- lichen, körperliches Verhalten und daran wahrnehmbare akustische Signale zei- chenhaft zu apperzipieren, d.h. in ihrer Typik wiederzuerkennen und zu verste- hen, sowie sinnkonstitutiv zu reproduzieren. Dass der Erwerbsprozess dabei nicht als reine Nachahmung, sondern als ein kreativer und produktiver kogniti- ver Strukturausbau infolge von Prozessen der Schematisierung und Analogiebil- dung erfolgt, kann und muss hier nicht weiter erläutert werden (vgl. hierzu bspw. Tomasello 2003; siehe aber auch bereits Bühler 1918: 119–128).4 Wichtig ist dabei, dies muss man sich klar machen, dass auch bspw. durch Abstraktion entstehende syntaktische Schemata in ihrer Beschaffenheit als Abstraktionen von konkreten Sprechereignissen in ihrer Rekonstitution in der mündlichen Verständigungspraxis verankert bleiben (vgl. hierzu Imo & Lanwer 2020: 5–7). Regelhaftigkeiten der Serialisierung und Integration sprachlicher Elemente sind in sensomotorischen Prozessen fundiert. Auch Syntax hat daher eine phonolo- gische Komponente (vgl. u.a. Langacker 1999: 160–170; siehe auch Pulvermüller & Fadiga 2010: 357), die aber nur selten Beachtung findet. Welche Rolle bspw. der Prosodie mit Blick auf die syntaktische Integration zukommt, ist bisher nur unzureichend erforscht (vgl. aber Lanwer 2020). Vor diesem Hintergrund er-


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    4 ‚Regeln‘ spielen dabei insofern eine Rolle, dass man – wie es Schneider (2005: 17) pointiert formuliert – „über ein implizites Regelwissen verfügen [muss], um vergangene Ereignisse auf zukünftige ‚hochrechnen’ zu können.“ An dieser Stelle ergibt sich auch die Offenheit für das Hervorbringen oder Verarbeiten neuer, bisher nicht gehörter Strukturen.


    scheint es als grundlegend verfehlt oder zumindest verkürzt, davon auszuge- hen, dass „in der gesprochenen Sprache einiges anders ist“ (Fiehler 2013: 20) als in der geschriebenen. Die Frage nach den Besonderheiten gesprochener Sprache kürzt sich vielmehr weg; zumindest, wenn man sich auf die Strukturen an sich und nicht auf deren Beschreibung (im Medium Schrift) bezieht.

    Gesprochene Sprache als ein Phänomen der alltäglichen Lebenswelt ist grund- legend etwas anderes als geschriebene Sprache, und zwar allein aufgrund der Zeichenmaterialität und der daran gekoppelten sinnkonstitutiven Verfahren. So existiert bspw. das gesprochene Wort, „indem es artikuliert wird“ (Stetter 2005: 53; Hervorh. im Original), während das geschriebene Wort existiert, nachdem es geschrieben wurde usw. Einheiten gesprochener und geschriebe- ner Sprache sind niemals gleich. Als materiell fundierte Zeichen, d.h. als per- ceptual (Barsalou 1999) oder material symbols (Clark 2006), können sie nicht gleich sein. Sie sind aber in der Regel assoziiert: So geht es ja bspw. im L1- Schreibunterricht gerade darum, Einheiten der oralen Sprache mit visuellen Figuren der zu erwerbenden Schriftsprache zu verbinden, Aspekte der zeitli- chen Linearität akustischer Symbole mit der Dimension räumlicher Linearität (vgl. Stetter 2005: 221–226) zu verknüpfen usw. Ein genau spiegelbildliches Sze- nario lässt sich vermutlich für den DaF-Unterricht zeichnen. Im Eingangsun- terricht wird ab dem Zeitpunkt schriftbegleitet bzw. schriftdominiert gearbei- tet, wenn Lehrwerke und Arbeitshefte eingesetzt werden. Sind Lernende in ei- nem anderen Schriftsystem oder gar nicht alphabetisiert, wird dem A1-Kurs daher i.d.R. ein Alphabetisierungskurs vorangestellt. Mit Blick auf den Erwerb von Mündlichkeit werden dann Strukturen des visuellen Zeichensystems auf akustische Ereignisse projiziert, um die korrespondierenden Einheiten zu ent- decken.

    In beiden Szenarien werden sich immer Grenzen der strukturellen Durchläs- sigkeit ergeben. Diese kommen im Szenario des DaF-Unterrichts sehr wahr- scheinlich besonders dann zum Tragen, wenn man sich authentischer Münd- lichkeit zuwendet, deren Beschreibung sich nicht in das strukturelle Korsett standardisierter Schriftsprachlichkeit pressen lässt (vgl. u.a. Günthner 2000); das steht außer Frage. Die Grenzen der „Aufeinanderprojizierung von Verstän- digungsmitteln“ (Reichmann 2000: 450) treten aber erst im Horizont einer ein- heitlichen Beschreibungsmatrix als strukturelle Besonderheiten hervor. Ge- meinsamkeiten von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ergeben sich als solche


    erst durch die Beschreibung mündlicher Strukturen im Medium Schrift, in dem alle materiellen Spuren des Mündlichen beseitigt sind. Mit Blick auf die The- matisierung von Mündlichkeit im DaF-Unterricht haben wir es daher u.U. ge- rade da, wo Besonderheiten gesprochener Sprache thematisiert werden, mit einer nichtintendierten Schriftbezogenheit, d.h. mit einem skriptizistischen Umgang mit Mündlichkeit zu tun (vgl. Ágel 2003: 10), der sich ironischerweise im Aufzeigen dieser Besonderheiten als solche manifestiert.

    Die angesprochene Problematik lässt sich mit besonderer Prägnanz am Beispiel der Thematisierung vermeintlicher Reduktionsformen aufzeigen. So behan- delt etwa Liedtke (2013: 253), um hier nur einen Fall exemplarisch herauszu- greifen, in ihrem Aufsatz „Mit Transkripten Deutsch lernen“ u.a. lautliche

    „Verkürzungen“, die als ein Beispiel für „Besonderheiten […] [der] gespro- chene[n] deutsche[n] Sprache“ an einem Transkriptbeispiel aufgezeigt werden sollen. Behandelt wird u.a. die Variante [ɪs] der Verbform ist, die dann auch als

    <is‘> verschriftet und somit als „Verkürzung“ markiert wird. Die Annahme ei- ner „Verkürzung“ setzt allerdings voraus, dass es (a) eine korrespondierende längere oder vollständigere Form gibt und dass (b) nur diese der Kompetenz zugerechnet werden und damit dann die kürzere als reine Performanzerschei- nung gelten kann. Ansonsten ergibt es keinen Sinn, von einem Ableitungsver- hältnis zu sprechen, das die Form [ɪs] als ein Performanzphänomen der Laut- reduktion ausweist. Was den genannten Fall betrifft, erscheint vor allem (b) als zweifelhaft: Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Variante [ɪs] zumin- dest in der norddeutschen Alltagssprache den Gebrauch dominiert, während die Variante [ɪst] hier nur sehr selten vorkommt. Die Karte K7.2 B des Nord- deutschen Sprachatlas (NOSA) dokumentiert für beinahe alle norddeutschen Regionen sogar eine Obligatorik der t-losen Form, und das sowohl für die un- tersuchten, eher informellen Tischgespräche als auch für die formell(er)en In- terviews. In einigen Regionen ist die Variante auch für die Vorlesesituation hochfrequent belegt. Besonders im Lichte eines gebrauchsbasierten Ansatzes (vgl. Lanwer 2015b) deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die untersuchten Sprecherinnen über (mindestens) zwei habitualisierte Lautvarianten der Verb- form ist verfügen, von denen die t-haltige stärker mit Schriftlichkeit assoziiert ist als die t-lose.

    Die gelieferte Beschreibung bezieht sich zwar zunächst nur auf die norddeut- sche Situation, trifft aber zum einen sehr wahrscheinlich auch auf die Situation


    im Südosten zu, aus dem das in Liedtke zitierte Beispiel mutmaßlich stammt. Zum anderen kontrastiert Liedtke selbst den alltagssprachlichen Gebrauch der t-losen Form mit der t-haltigen Form, die als „schriftgetreue Aussprache“ (Liedtke 2013: 256) charakterisiert wird. Als Modell dienen hier somit die Struk- turen der Schriftsprache, die in einer regelbasierten Aussprache möglichst vollständig umzusetzen sind. Es werden dann die alltagssprachlich vorkom- menden Varianten mit den schriftbasierten Aussprachevarianten und damit eigentlich mit den Strukturen der geschriebenen Wörter verglichen und als von diesen durch Prozesse der Reduktion regelhaft abgeleitet betrachtet. Als Besonderheiten gesprochener Sprache werden unterm Strich also Abweichun- gen von der durch die Schrift nahegelegte Aussprache als Lautreduktionen konstruiert. Dieser Blickwinkel spiegelt sich u.a. auch darin wider, dass davon ausgegangen wird, dass Wörter wie etwa der Indefinitartikel eine so stark „ab- geschliffen“ werden, „dass man sie ausgehend von ihrer graphischen Form kaum mehr erkennen kann“ (Liedtke 2013: 255). Ein Lautbild lässt sich aber ge- nerell nicht ausgehend von einem Schriftbildschema erkennen. Wenn Ler- nende „bei Verschleifungen […] vor dem Problem [stehen], dass sie die reali- sierten Formen unter Umständen nicht mit gelernten Wortbildern in Überein- stimmung bringen können“ (Liedtke 2013: 256), werden daher nicht „Erklärun- gen notwendig“, die entsprechende Formen als systematische Ableitung von der durch die Schrift nahegelegten Aussprache beschreiben. Dadurch werden die notwendigen Lautbildschemata, die ein Erkennen ermöglichen, ganz sicher nicht aufgebaut.

    Im Prozess des Erwerbs einer gesprochenen Fremdsprache müssen keine Aus- spracheregeln erlernt werden, sondern das System der gesprochenen Zielspra- che konstituiert sich als solches im Sprechen/Hören, d.h. in der körperlichen Praxis der sinnerzeugenden lautlichen Artikulation und Perzeption. Die Förde- rung rezeptiver Fähigkeiten erfordert daher die Auseinandersetzung mit au- thentischer Mündlichkeit in hörbarer Form. Das, was Fremdsprachenlernende für den Erwerb von mündlichen Kompetenzen präsentiert bekommen müssen, sind Laut- und nicht Schreibvarianten, was eigentlich trivial ist.5 Die Rede von Besonderheiten im Bereich der Mündlichkeit verstellt jedoch den Blick für die


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    5 Erst darauf aufbauend können auf einer höhere Niveaustufe Möglichkeiten und Gren- zen der Aufeinanderprojizierung von mündlicher und schriftlicher Sprache themati- siert und reflektiert werden.


    grundlegenden materiellen Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schrift- lichkeit, die vor allem für die Erwerbsdidaktik von größter Bedeutung sind. Vor diesem Hintergrund soll im Weiteren ein kritischer Blick geworfen werden auf die Rolle, die Transkripte mit Blick auf die Vermittlung gesprochener Sprache im DaF-Unterricht spielen bzw. spielen könnten oder sollten.

  3. Vom Skriptizismus zum Transkriptizismus

    Mit Bemühungen, Mündlichkeit als eigenständigen Lehr-Lern-Gegenstand in- nerhalb der Fremdsprachdidaktik zu etablieren, ist von vornherein die Forde- rungen verbunden, authentische Beispielmaterialien, etwa in Form von Ge- sprächsaufzeichnungen, in den Unterricht zu integrieren, um die Lernenden auf diese Weise möglichst gut auf die Herausforderungen mündlicher Interak- tion in der Zielsprache vorzubereiten (vgl. bspw. Günthner 2000; Günthner et al. 2021.; Imo & Moraldo 2015; Imo & Weidner 2018). Es steht jedoch außer Frage, dass der Einsatz von Gesprächsaufnahmen im DaF-Unterricht auf schriftliche Begleitmaterialien bspw. in Form von Transkripten6 angewiesen ist, die als visuelle Stütze im Kontext der Vermittlung des flüchtigen Gegen- standes dienen können.7 Sprachlernende sehen sich mit Blick auf den Erwerb einer gesprochenen Sprache vor allem mit dem Problem der Ausgliederung sprachlicher Einheiten konfrontiert, das im Transkript – gewissermaßen als Serviceleistung – bereits überwunden ist (vgl. Linell 2005: 63–64). Das akusti- sche Signal ist kontinuierlich. Der sensorische Input ist – im Unterschied zur

    „Textur“ (vgl. Stetter 1997: 293–298) eines Transkripts – nicht an sich durch- gliedert, sondern muss in der kognitiven Verarbeitung segmentiert werden. Die kognitive Segmentierung erfolgt dabei nicht allein bottom-up, d.h. in passi- ver Orientierung am Signal, sondern immer auch top-down, d.h. aktiv konstru- ierend (vgl. bspw. Pulvermüller & Fadiga 2010: 358). Auf der Basis unserer Spracherfahrungen hören wir Struktureinheiten, wie etwa Wörter (als seman- tisierte Lautgesten), in das Signal hinein. „[E]in kompetenter Sprecher einer


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    6 Auf eine – zweifelsohne interessante – Bestandsaufnahme zur Arbeit mit Transkripten im Unterricht und zur Wirksamkeit einer solchen Vorgehensweise muss hier aus Platz- gründen verzichtet werden.

    7 Gleiches gilt aber auch für konstruierte Lehrwerksdialoge: Hörverstehenstexte sind in DaF-Lehrwerken meist durch literarische Umschriften begleitet, die – unabhängig da- von, ob es sich um authentische oder konstruierte Dialoge handelt – von Lehrenden und Lernenden als Hilfsmittel herangezogen werden und meist auch Teil der Aufgaben- stellung sind.


    Sprache [kann] gar nicht anders […], als im Moment der Semiose mit einem bestimmten Lautbild […] eine bestimmte Bedeutung zu verbinden“ (Schneider 2015: 127). Die notwendigen Schemata für diese zeichenhafte Apperzeption von Silben oder Silbenketten stehen einem Fremdsprachenlernenden noch nicht oder zumindest nur bedingt zur Verfügung. Gerade für DaF-Lernende im Ausland, deren gesprochensprachlicher Input sich zumeist auf den mündli- chen Ausdruck der (meist nichtmuttersprachlichen) Lehrkraft sowie den kon- zeptionell schriftsprachlichen und hölzern klingenden Lehrwerksdialogen (vgl. Lanwer & Schopf 2021) beschränkt, kann die Konfrontation mit Ge- sprächsaufzeichnungen daher zu Problemen führen.

    Dies wird u.a. in dem Umstand evident, dass DaF-Lernende häufig Schwierig- keiten haben, authentischen Gesprächen überhaupt zu folgen, während die Re- zeption der Niederschrift keinerlei Schwierigkeiten bereitet. Als eine Ursache hierfür wird zuweilen die hohe Sprechgeschwindigkeit von Muttersprachlern angeführt. Allerdings wird nicht selten selbst ein eher moderates Sprechtempo als zu schnell empfunden. Dies kann sehr wahrscheinlich auf den angesproche- nen Mangel kognitiver Schablonen zur sinnhaften Strukturierung des Inputs zurückgeführt werden; was bedeuten würde, dass nicht ein zu hohes Sprech- tempo das Wiedererkennen von Wörtern, Phrasen etc. erschwert, sondern die mangelnde Fähigkeit, Wörter, Phrasen etc. im Input zu erkennen, das Sprechen als schnell erscheinen lässt. Die „Spracherkennung“ tappt im Dunkeln und kann daher mit der ungehaltenen Progression des Sprachsignals nicht Schritt halten (vgl. Field 2008: 27; Fröhlich 1988: 200). Dieser Umstand macht es schwierig oder gar unmöglich, „[d]as Gesagte […] auf der Basis einmaligen Hö- rens und lokaler Orientierung“ (Hoffmann 2018: 16) zu verstehen. „Im ge- schriebenen Text können Leser [hingegen] […] beliebig vor- und zurückbewe- gen, graphische Orientierungsmarken (Seite, Absatz etc.) nutzen, um Textstel- len zu verketten“ (Hoffmann 2018: 16).

    Transkripte sind somit ein nützliches oder gar notwendiges Begleitmaterial für die Arbeit mit authentischen Gesprächsdaten im Fremdsprachunterricht. Schrift symbolisiert das Gesprochene in einer Art „Zur-Schau-Stellung von räum- lichen Strukturen auf dem Papier“ (Krämer 1999: 389), was eine „Identifizierbar- keit und Individuierbarkeit sprachlicher Einheiten“ (Krämer 1999: 382) erst er- möglicht, die so zum Gegenstand von Sprachreflexion und Sprachvermittlung werden können. Dies wird allerdings dann zu einem Problem, wenn die visuellen


    Figuren des Transkripts in den Vordergrund und die lautsprachlichen Struktu- ren in ihrer materiellen Fundierung hinter diesen zurücktreten. Es muss daher gewährleistet werden, dass der Inhalt eines Gesprächsauszugs nicht primär über das Lesen des Transkripts erschlossen wird, sondern dass das Transkript „nur“ als Hilfsmittel des Hörverstehens genutzt wird, indem es die Ausgliederung sinnhafter akustischer Einheiten in Orientierung an den Einheiten des Schrift- bildes fördert und damit die Integration diffuser lautlicher Exemplare zu kogni- tiven Typen unterstützt (vgl. auch Field 2008: 166). Dies setzt generell voraus, dass die visuellen Figuren im Transkript eine für die Lernenden wiedererkenn- bare Form aufweisen. Eine lautorientierte Umsetzung des Gesprochenen ins Ge- schriebene, die zwar unter gewissen Gesichtspunkten die Variabilität im Sprachgebrauch etwas adäquater erfassen würde, erscheint daher als eher kont- raproduktiv. Auf diese Weise würde zum einen der Nutzen eines Transkripts bzgl. der Strukturierung des akustischen Inputs verspielt. Zum anderen lassen sich Strukturen der Mündlichkeit im Medium Schrift generell nicht abbilden, sondern nur symbolisch repräsentieren (vgl. Stetter 2005: 101–108). Ein Tran- skript kann Strukturen der Mündlichkeit per se nicht exemplifizieren, sondern nur denotieren; dies wird häufig übersehen und in seiner didaktischen Trag- weite unterschätzt.

    Das mangelnde Exemplifikationspotenzial schriftlicher Materialien mit Blick auf lautsprachliche Strukturen ist allerdings gerade für hochgradig literali- sierte Muttersprachler nur schwer einsehbar. Ein kompetenter Sprecher/ Schreiber8 des Deutschen ist bspw. dazu in der Lage, eine große Bandbreite lautlicher Formen als Varianten eines oralen Wortes zu behandeln und mit ei- ner einzigen orthographischen Form zu verknüpfen (vgl. Maas 2015: 127). 9

    „Die Rückkopplung von geschriebener und gesprochener Sprache funktioniert als Routine“ (Stetter 2005: 111). Das Erstellen einer literarischen Umschrift ge- sprochener Äußerungen, wie es bspw. das Gesprächsanalytische Transkripti- onssystem GAT2 vorsieht (Selting et al. 2009: 360–366), macht sich eben diese Kompetenz zu nutzen. Bei der Erstellung einer Transkription in Form einer li- terarischen Umschrift wird man bei entsprechender Sprachkompetenz prob- lemlos eine ganze Bandbreite von Lautvarianten auf ein per Konvention damit


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    8 „Sprecher/Schreiber“ ist hier als Abkürzung für „Sprecher/Hörer–Schreiber/Leser“ zu lesen.

    9 Die relevanten Einheiten können auch größer sein, als es die Wortsegmentierung der Schrift suggeriert.


    assoziiertes orthographisches Muster beziehen, ohne die phonographische Passung im Einzelfall zu prüfen, d.h. ohne zu prüfen, ob die Lautung als eine möglichst buchstabengetreue10 Umsetzung des Schriftbildes gelten kann oder nicht. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Reflexion der tatsächlichen laut- lichen Form einem geübten Schreiber/Leser Schwierigkeiten bereitet bzw. zu- mindest eine gesonderte Reflexionsschleife erfordert.

    Evidenz hierfür liefert der Umstand, dass selbst geschulte Transkribenten an der Aufgabe scheitern, beim Erstellen einer GAT-Transkription „Abweichungen“ von einer „Bezugsnorm“ (Selting et al. 2009: 360) durch einen Umbau der ortho- graphischen Wortform, „als Abweichungen von der Standardorthographie“,

    d.h. als eine Art Kontrastschreibung (vgl. Auer 1990: 195), systematisch zu erfas- sen. Das Problem liegt aber nicht in erster Linie bei den Transkribenten selbst, sondern in dem Verfahren der Kontrastschreibung. Der Ansatz führt dazu, dass in der Transkriptionspraxis zwei Verwendungsweisen der deutschen Alphabet- schrift in Konflikt geraten; nämlich die primäre, exhibitive Gebrauchsweise, die darauf abzielt, für eine große Population über Raum und Zeit hinweg wiederer- kennbare und verstehbare graphische Figuren routinemäßig zu erzeugen (vgl. Stetter 2005: 49–50), und die repräsentierende, die in der Kette der Schriftzei- chen Merkmale eines Artikulationsschemas zu beschreiben versucht, selbst aber keines ist (vgl. Stetter 2005: 85). Beide Modi, dies gilt es noch mal zu betonen, sind symbolisch organisiert: „Lautliches und Schriftliches [haben] von ihrer sachlichen Seite her nichts gemeinsam“ (Maas 2015: 113).

    Nehmen wir, um diese Zusammenhänge näher zu erläutern, die Verbform haben (in seiner Funktion als Voll- und Hilfsverb) als Beispiel und schauen uns die laut- liche Variation auf phonetischer Ebene im Vergleich zur Systematik der Umset- zung in GAT-Transkripten exemplarisch an. Als Datengrundlage dienen uns Au- dio- und Transkriptmaterialien der „Plattform Gesprochenes Deutsch“ (vgl. Schopf & Weidner 2021).11 Die dort bereitgestellten GAT-Transkripte wurden ausschließlich von Muttersprachlern mit hinreichender Transkriptionspraxis


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    10 Hier zeigt sich, dass das Vorgehen auch ein Problem von Alphabetschriften ist und bspw. chinesischen Lernenden sogar noch „bewusster“, da sie mit Pinyin immer schon eine nur annähernd passende Repräsentationsform gesprochener Sprache kennen.

    11 Das Projekt „Plattform Gesprochenes Deutsch – authentische Alltagsinteraktionen für die Forschung und Praxis im Bereich DaF und DaZ“ wurde vom Ministerium für Inno- vation, Wissenschaft und Forschung des Landes NRW gefördert und stand unter der Leitung von Susanne Günthner und Beate Weidner.


    und Fachkenntnis angefertigt. Das Korpus enthält sowohl Minimal- als auch Ba- sistranskripte. Im Weiteren werden nur die Basistranskripte berücksichtigt, da hier mit einer stärkeren Lautorientierung zu rechnen ist. Dies führt zu einer ab- soluten Trefferzahl von 136 Belegen, wobei nur die konkrete Form haben, also der Infinitiv sowie die Flexionsform der 1. und 3. Pers. Pl. einbezogen wurden. Die phonetische Notation der Belegstellen wurde mithilfe des IPA-Systems von beiden Autoren jeweils unabhängig voneinander durchgeführt. Im Anschluss wurde für jeden Beleg eine konsensuelle Transkription festgelegt, indem Fälle abweichender Transkriptionsweisen nochmals geprüft und diskutiert wurden. Die auf dieser Basis feststellbare lautliche Variation der Verbform wurde schließlich durch das Ansetzen von drei Variantentypen auf ein handhabbares und zugleich phonetisch ausreichend differenziertes Maß reduziert (vgl. auch Lanwer & Schopf 2021: 21). Dabei wurden zwei dialektale Einzelbelege, die in ei- nem Gespräch aus der Schweiz vorkommen, ausgeklammert. Die zur Beschrei- bung der verbleibenden 134 Belege angesetzten Variantentypen unterscheiden sich in Bezug auf die Parameter Silbischkeit (zweisilbig vs. einsilbig) und Vokal- länge der Akzentsilbe (lang vs. kurz). Allerdings unterscheiden sich nur einsil- bige Varianten in Bezug auf die Vokallänge. Zweisilbige Varianten treten aus- schließlich mit Langvokal auf. Allerdings variiert hier durchaus die Stärke der Verschlussbildung zwischen Akzent- und Nebensilbe. Zweisilbigkeit kann sogar bei fehlender Verschlussbildung gegeben sein, wenn auf dem Nasal [m] trotz fehlenden Verschlusses der Expirationsdruck noch einmal erhöht wird. Dies ist in der Regel deutlich hörbar und führt dazu, dass Varianten, die qua Sonoritäts- profil einsilbig sind, dennoch als zweisilbig gewertet werden (vgl. auch Lanwer 2015b).


    Silbischkeit


    Vokallänge

    einsilbig

    zweisilbig

    lang

    [ɦaːm] (6)

    [ɦaː.(b)m] (48)

    kurz

    [ɦam] (80)

    /

    Tabelle 1: Variantentypen von ‚haben‘, absolute Belegzahlen in Klammern


    Da sich bzgl. der Unterscheidung zwischen zweisilbigen Varianten mit und ohne Verschlussbildung allerdings deutliche Inkongruenzen in der IPA-Notation der


    Verfasser gezeigt haben, wurde dafür optiert, alle als zweisilbig klassifizierten Be- lege zu einem Variantentyp zusammenzufassen, der im Weiteren als [ɦaː.(b)m] geführt wird (vgl. Tabelle 1).

    Den drei Variantentypen stehen in den GAT-Transkriptionen lediglich die zwei Schreibungen <haben> und <ham> gegenüber. Abbildung 1 zeigt, wie sich die Schreibvarianten auf die drei Lauttypen verteilen. Auffällig ist dabei vor allem, dass der Sprung von zweisilbigem [ɦaː.(b)m] zu einsilbigem [ɦaːm] in Prozent- punkten nahezu gleich groß ist wie der Sprung von [ɦaːm] mit Langvokal zu [ɦam] mit Kurzvokal.


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    Abbildung 1: Umsetzung der phonetischen Variantentypen [ɦaː.(b)m] (n=48), [ɦaːm] (n=6) und [ɦam] (n=80) in den Basistranskripten


    Dies kann zunächst als Zeichen dafür gewertet werden, dass die angesetzten Variantentypen sinnvoll sind. Außerdem ließe sich mutmaßen, dass Ursache für den zweimaligen sprunghaften Anstieg der Kontrastschreibung der Um- stand ist, dass die Parameter Silbischkeit und Vokallänge in ihren Ausprägun- gen sowie in Kombination zu einer zunehmenden phonographischen Intrans- parenz führen: Während die Ausprägungen „zweisilbig“ und „lang“ für eine hohe Kompatibilität mit dem Schriftbild sorgen, nimmt diese mit der Verände- rung der Parameter schrittweise ab, was dann zu einer Zunahme von Kontrast- schreibungen führt. Allerdings lassen sich offensichtlich auch einsilbige For- men mit Lang- oder Kurzvokal noch problemlos auf die Schreibung <haben>


    beziehen. Mehr als die Hälfte der Belege für [ɦaːm] werden in den untersuch- ten Transkriptionen orthographisch erfasst.12 Im Fall von [ɦam] ist es immer noch gut ein Viertel. Wie ist das zu erklären?

    Man muss sich an dieser Stelle noch einmal klarmachen, dass eine gesprochene Variante generell nicht von der Schreibung des Wortes abweichen kann, son- dern nur von einer Lautform, die der jeweilige Transkribent13 mit dem betref- fenden Schreibwort routinemäßig assoziiert. Eine Transkription, die Abwei- chungen von einer „Bezugsnorm“, wie es in den Anweisungen zur Erstellung eines GAT-Transkripts heißt, markiert, kann daher niemals unabhängig sein von den lautsprachlichen Normalformenerwartungen der Transkribenten.14 In der Auswahl solcher Normalformerwartungen bzgl. der lautlichen Entspre- chungen von <haben> scheinen in Bezug auf die hier untersuchten Transkri- benten alle drei angesetzten Variantentypen enthalten zu sein. Alle Varianten scheinen mit der orthographischen Form verknüpft zu sein. Das Prinzip der Kontrastschreibung setzt dies in gewisser Weise sogar voraus; zumindest, dass die Varianten mit der orthographischen Form verknüpfbar sind. Nur so kann eine lautliche Variante als Kontrastschreibung realisiert werden, die ja Aus- gang nimmt von der orthographischen Schreibung und diese dann umbaut, um damit auf bestimmte lautliche Charakteristika hinzuweisen bzw. um über- haupt anzuzeigen, dass es sich mit Blick auf die Fixierung lexikalischer Einhei- ten punktuell um eine Transkription im engeren Sinne handelt; nämlich um eine irgendwie regelgeleitete Umsetzung des Gesprochenen ins Geschriebene.

    Die Herausforderung besteht also darin, während der Transkriptionstätigkeit den Modus in der Nutzung der Alphabetschrift zu wechseln, wenn nach eige- nem Dafürhalten besondere Abweichungen vom eigenen Normhorizont die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und daher im Transkript als solche markiert


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    12 Allerdings liegen für den Variantentyp [ɦaːm] insgesamt lediglich 6 Belege vor. Hier

    zeigt sich der insgesamt starke Zusammenhang zwischen Silbischkeit und Vokallänge.

    13 Insgesamt haben im Projekt vier Personen transkribiert. Auf individuelle Präferenzen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Diese scheinen aber eher eine nach- geordnete Rolle zu spielen.

    14 Dies kann auch zur Folge haben, dass Transkribenten aus unterschiedlichen Regionen an ganz unterschiedlichen Stellen Kontraste markieren. Außerdem scheint es einen Unterschied zu machen, ob Sprecher transkribiert werden, die die eigene oder eine an- dere Varietät sprechen. Hier ergibt sich ein ganzer Strauß an Forschungsfragen, die im Rahmen einer Empirie der linguistischen Transkription eigens zu behandeln wären.


    werden sollen. Die Umsetzung einer Kontrastschreibung erfordert in der kog- nitiven Verarbeitung somit eine Extraschleife, da in entsprechenden Fällen vom primären, exhibitiven Modus umzuschalten ist auf den repräsentieren- den, der in der Kette der Schriftzeichen artikulatorische Merkmale symbolisch anzudeuten versucht. Erst im Augenblick dieses Umschaltens ergibt sich über- haupt die Anforderung, lautanalytisch tätig zu werden, d.h. die Lautstruktur genauer in den Blick zu nehmen, um sie entsprechend beschreiben zu können. Als Vergleichsfolie dient in diesem Moment vermutlich eine schriftbasierte Partiturlesart. Nur so wird erklärbar, warum in den Daten auch Varianten des Typs [ɦaː.(b)m] vereinzelt mit Kontrastschreibung markiert werden, die auf der Skala der phonographischen Transparenz in Bezug auf die belegten For- men am oberen Ende zu verorten sind. Dass dafür die Schreibung <ham> und nicht <habm> verwendet wird, die die Lautstruktur besser kodieren würde, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass der Aufbau der Schreibung <habm> sich nicht in die graphotaktischen Regularitäten der deutschen Orthographie einfügt.15 Die Transkription wird hier also ggf. strukturellen Prinzipien der Or- thographie unterworfen, was noch einmal zeigt, dass das Prinzip der Kontrast- schreibung eine Mischform aus exhibitivem und repräsentierendem Gebrauch der Alphabetschrift darstellt. Diese Mischform ist letztlich auch gewollt: Die Transkriptionen sollen einerseits gut lesbar sein, weshalb die Wortschreibun- gen sich nicht zu weit von den bekannten Wortbildern entfernen dürfen. Zu- gleich soll aber Spielraum für die möglichst genaue Dokumentation des Ge- sprochenen geschaffen werden (Selting et al. 2009: 357).

    Für die Rezeption einer solchen Transkription bedeutet das allerdings, dass ein Transkript – vor allem aus der Sicht eines unerfahrenen Lesers, der eine Kon- trastschreibung nicht ohne weiteres als solche erkennen kann – durchweg un- bestimmt ist in Bezug auf den anzusetzenden Rezeptionsmodus (exhibitiv vs. repräsentierend). Das Erkennen von Kontrastschreibungen setzt zudem vo- raus, dass die in der Schreibung angedeuteten „Besonderheiten“ bekannt sind; zumindest, wenn von der symbolischen Darstellung auf die tatsächliche Laut- form geschlossen werden soll (vgl. hierzu bereits Paul 1995/1880: 377). Wenn diese bekannt sind, ist aber eine Kontrastschreibung überhaupt nur notwen- dig, wenn bestimmte lautliche Strukturen bewusstgemacht werden sollen,


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    15 Zudem ist eine enge Orientierung an den GAT-Konventionen (Selting et al. 2009: 361) denkbar, die <ham> ausdrücklich als Kontrastschreibung anführen.


    d.h., wenn implizites Wissen explizit adressiert werden soll – was im fortge- schrittenen Sprachstudium selbstverständlich erfolgen kann. Mit Blick auf den Spracherwerb kann eine Kontrastschreibung diesen Zweck jedoch nicht erfül- len bzw. wenn sie dies kann, ist der Erwerb der betreffenden Strukturen bereits erfolgt und die Thematisierung abseits des Zwecks der Sprachreflexion obsolet.

    Viel Entscheidender ist an dieser Stelle aber – und das galt es zu zeigen – viel- mehr ganz allgemein der Umstand, dass kompetente Sprecher/Schreiber sehr wahrscheinlich mit gesprochenen Wortformen automatisiert visuelle Wort- muster ganzheitlich assoziieren. Das Schreiben von (bekannten) Wörtern ba- siert bei den untersuchten Transkribenten mutmaßlich nicht auf einer seg- mentalen Umsetzung von Lautstrukturen in Buchstabenketten, sondern auf ei- ner routinisierten Verknüpfung von Laut- und Schreibbildern, deren phono- graphische Passung zweitrangig ist. Es ist daher anzunehmen, dass der Weg vom Schreibbild zum Lautbild (zumindest bei bekannten Wörtern) in eben die- ser Weise organisiert ist: Entsprechungen von visuellen und akustischen Wör- tern sind in einer derart automatisierten Weise assoziiert, dass das Geschrie- bene in der Wahrnehmung mit dem Gesprochenen gewissermaßen zusammen- fällt, die assoziierten Lautgestalten werden – um hier einen Begriff aus der Phä- nomenologie zu bemühen – appräsentiert (vgl. hierzu vor allem Schütz 1971: 350). Der Erwerb einer Schriftsprache im muttersprachlichen Schreibunter- richt wird (bei sprechenden Kindern) letztlich über die Herstellung einer sol- chen Appräsentationsverweisung vollzogen, wie es ähnlich bereits Paul (1995/ 1880: 381) schreibt: „Ursprünglich ist die Verbindung zwischen Lautzeichen [(gemeint sind damit Zeichen für Laute, also Schriftzeichen); LS] und der Be- deutung immer durch die Vorstellung von den Lauten und durch das Bewe- gungsgefühl vermittelt. Sind aber beide erst häufig durch diese Vermittlung aneinander gebracht, so gehen sie eine direkte Verbindung ein und die Ver- mittlung wird entbehrlich. Auf dieser Verbindung beruht ja die Möglichkeit des geläufigen Lesens und Schreibens.“

    Die „Möglichkeit des geläufigen Lesens und Schreibens“ beruht nach Paul da- rauf, dass das geschriebene Wort an sich zum Bedeutungsträger wird, was es zu einem eigenständigen Zeichen macht (vgl. auch Stetter 1997: 281). Zugleich denotiert es aber auch das gesprochene Wort als Zeichen (nicht als reine Form!), weil bzw. wenn Schreibwort und Lautwort routinemäßig assoziiert sind. Eben diese assoziative Verbindung muss auch im Fremdsprachunterricht


    aufgebaut werden. Sie darf daher nicht unbewusst zur Voraussetzung für den Spracherwerb werden. Im Umgang mit Transkripten ist dies aber vermutlich nicht selten der Fall, mit der Folge, dass das Potenzial eines Transkripts als di- daktisches Anschauungsmaterial für den Fremdsprachunterricht ggf. falsch eingeschätzt wird. Verdeutlichen lässt sich die damit verbundene Problematik am Beispiel des sog. tapping experiment (Newton 1990): Die Aufgabe bei diesem Experiment besteht darin, eine bekannte Melodie zu klopfen und einzuschät- zen, mit welcher Wahrscheinlichkeit andere diese Melodie anhand des Klop- fens wiedererkennen können. Das Ergebnis der Studie von Newton ist, dass die Probanden die Wiedererkennbarkeit der geklopften Melodien stark überschät- zen. Die Erklärung hierfür wird darin gesehen, dass sie die innerlich simulierte Tonabfolge auf das rhythmische Klopfen in einer Weise projizieren, die diese eins werden lässt mit dem Klopfen. In der Wahrnehmung der klopfenden Pro- banden scheint die Melodie intersubjektiv verfügbar, was aber de facto nicht der Fall ist. Die Ursache für die schlechten Vorhersagen ist der Umstand, dass die Probanden sich nicht bewusst sind, dass sich in die aktuelle Wahrnehmung ihre Vorerfahrung einschleicht und sich somit in der Wahrnehmung Objekte konstituieren, die sich essenziell von den Wahrnehmungsobjekten der anderen unterscheiden.

    Die Analogie zur hier behandelten Problematik liegt vermutlich auf der Hand: Der kompetente Sprecher/Schreiber liest in eine Transkription authentische Mündlichkeit hinein, die für die Lernenden nicht vorhanden ist. Die Erwartung, dass durch „die Arbeit mit Transkripten […] Sprachlernende auf die kommuni- kative Wirklichkeit des zielsprachigen Landes“ (Liedtke 2013: 248) vorbereitet werden können, liegt mutmaßlich in eben solchen Projektionen begründet. Es werden die schriftlichen Symbole mit den denotierten akustischen Gestalten verwechselt, und daher das Beschreibungsinstrument zum Gegenstand der Sprachvermittlung, was wir in Anlehnung an den Begriff des Skriptizismus als Transkriptizismus bezeichnen wollen. Der Sprachlernende sieht im schlechtes- ten Fall allein geschriebene Wörter, die für ihn im Falle einer Kontrastschrei- bung u.U. auch noch eigenartig aussehen oder gar nicht identifizierbar sind, da sie eine von der Orthographie abweichende Form aufweisen und/oder nicht Be- standteil des visuellen Wortschatzes sind.


  4. Schrift als visuelle Stütze des Hörverstehens

    Es stellt sich vor dem Hintergrund der bisher geführten Diskussion nun die Frage, wie die Arbeit mit authentischen Materialien, wie sie etwa die „Platt- form Gesprochenes Deutsch“ bereithält, sinnvoll mit Mitteln der Schrift unter- stützt werden kann. Ein Aspekt, der sich im vorigen Abschnitt bereits abge- zeichnet hat, ist der, dass es ratsam scheint, an eine Transkription generell nicht den Anspruch zu stellen, dass diese den Wortlaut eines Gesprächs mög- lichst „authentisch“ wiedergibt, da dies ohnehin nicht möglich ist. Vielmehr ist es so, dass Transkripte per se keine Beispiele für mündlichen Sprachge- brauch liefern können. Mündlichkeit lässt sich mit Mitteln der Schrift nicht exemplifizieren. Visuelles kann nicht Beispiel für etwas Akustisches sein. Was zunächst vielleicht trivial erscheinen mag, ist ein didaktisch heikler Punkt, da gerade Muttersprachler, und unter diesen besonders Linguisten, aufgrund ih- res routinierten Umgangs mit Schrift und schriflichen Darstellungsformen von Mündlichkeit dies schnell vergessen, und infolgedessen u.U. falsche Erwartun- gen haben, was die Materialien, die sie für die Verwendung im DaF-Unterricht entwickeln und aufbereiten, eigentlich leisten können. Der didaktische Nutzen eines Transkripts mit Blick auf die Vermittlung von Mündlichkeit ergibt sich – wie argumentiert wurde – primär aus der Funktion als Strukturierungshilfe zwecks Entdeckung von Einheiten im akustischen Signal. Dies kann nur gelin- gen, wenn die Lesbarkeit gewährleistet ist; aber auch dann nur unter bestimm- ten Bedingungen.

    Bei der Arbeit mit Transkripten16 bekommen Lernende im Normalfall einen längeren Textauszug vorgelegt. Es werden auf einem Transkripthandout in der Regel nicht einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen präsen- tiert, sondern längere Sequenzen, die einen sinnvollen Nachvollzug des Hand- lungsgeschehens ermöglichen. Entsprechende Transkripte werden nach be- stimmten wissenschaftlichen Standards erstellt und enthalten stets besondere Markierungen, sind in spezifischer Weise gegliedert usw. Das folgende Beispiel zeigt ein Transkript einer Abschlusssequenz eines Arzt-Patienten-Gesprächs im Krankenhaus, das gemäß den Konventionen zur Erstellung eines GAT-Mini- maltranskripts angefertigt worden ist.


    image

    16 Grundvoraussetzung für die Arbeit mit Transkripten, die an der Orthographie orien- tiert sind bzw. auf dieser aufbauen, sind selbstverständlich ausgebaute Kenntnisse des visuellen Wortschatzes der Zielsprache.


    Beispiel 1 (Plattform Gesprochenes Deutsch, Datensatz #1075, 01:29-01:46)


    139

    FM:

    öhm fieber ham

    sie keins


    140


    (0.3)


    141

    KM:

    ne


    142


    fieber hat ich

    vorher und das is jetz auch

    weg

    144

    FM:

    ʔhm_hm



    145


    (0.3)



    146

    KM:

    also



    147


    (0.1)



    147

    FM:

    okay



    148

    KM:

    is jetz wieder

    besser ja


    149


    ʔhm_hm



    150

    FM:

    ja das is doch

    schön


    1. KM: und dann kann ich auch schon bald (0.3)

    2. äh wieder nachhause (0.3)

    3. wenn ich dann

    154 (0.6)

    1. FM: ich mein jetz is es sehr früh aber

    2. KM: ʔhm_hm

    3. ab morgen übermorgen könnte [man sagen ]

    4. KM: [übermorgen]

    5. FM: joar

    6. KM: okay

    7. FM: doch


    Die Besonderheiten in der Transkription sind hier, neben der Zeilenzählung und der Angabe der Sprechersiglen, die konsequente Kleinschreibung, fehlende In- terpunktion, die Aufführung von Pausen in Sekunden, die zeilenweise Aufglie- derung des Textes gemäß der prosodischen Phrasierung und die Markierung überlappender Passagen mit eckigen Klammern. Außerdem finden sich Ge- sprächspartikeln wie <ʔhm_hm> (Z. 156) und <joar> (Z. 159), deren Schreibung nicht orthographisch geregelt ist. Hinzu kommen Kontrastschreibungen, die eine wohl umrissene Menge von Wörtern betreffen, nämlich haben (1x), hatte (1x), ist (4x), und jetzt (3x) – transkribiert als <ham> (Z. 139), <hat> (Z. 142), <is> (Z. 142/148/150/155) und <jetz> (Z. 142/148). Auffällig ist dabei die Transkrip-


    tion der Verbform hatte als <hat> (Z. 142), was besonders bei Nichtmuttersprach- lern aufgrund der Formgleichheit mit der Präsensform hat zu Verwirrungen führen kann. Die Variante [ɦad̥] für hatte kommt in der gesamten Datenbank al- lerdings ausschließlich in der 1. Ps. Sg. vor, wo eine solche Verwechslungsgefahr nicht besteht (vgl. Lanwer & Schopf 2021: 21). In der oralen Grammatik von Mut- tersprachlern sind solche distributionellen Eigenschaften verankert, sodass man bei entsprechender Kompetenz über die Kontrastschreibung, die ggf. eine solche gar nicht ist17 hinwegliest. Das Transkript ist generell für einen mutter- sprachlichen Laien vermutlich einigermaßen gut lesbar.

    Die Handhabung einer Transkription als Unterrichtsmaterial im DaF-Kontext setzt aber dennoch rudimentäre gesprächs- und korpuslinguistische (Metho- den-)Kompetenz sowohl bei Lernenden als auch bei den Lehrenden voraus (vgl. Bachmann-Stein 2013). Dies betrifft u.a. das Verständnis der prosodisch moti- vierten Gliederung des Transkripts, die zuweilen auch zu einer Fragmentie- rung syntaktischer Strukturen führt, was beim Lesen des Transkripts zunächst irritierend sein kann, aber für die linguistische Betrachtung von zentraler Be- deutung ist. Es wird daher zwar durchaus zurecht moniert, dass die Arbeit mit authentischen Materialien im DaF-Unterricht schwierig sei und dies deshalb, da die als Begleitmaterial zur Verfügung gestellten Transkripte komplexer auf- gebaut sind, als es für den Einsatz im Unterricht nötig bzw. wünschenswert wäre, da sie genuin aus dem Forschungskontext stammen (vgl. Fandrych et al. 2018). Das entscheidende Problem liegt aber sehr wahrscheinlich dennoch wo- anders. Es ist davon auszugehen, dass das problemlose Mitlesen eines Tran- skriptes generell Verknüpfungen zwischen Einheiten gesprochener und ge- schriebener Sprache voraussetzt, wie sie in Abschnitt 3 beschrieben wurden. Muttersprachler können sich daher in der Textfassung eines Gesprächs in der Regel auch ohne irgendeine Art der wissenschaftlichen Ausbildung gut und schnell orientieren, sofern sich die Transkription in hinreichendem Maße an der Orthographie orientiert. Für Sprachlernende stellt hingegen bereits eine literarische Umschrift ein Problem dar, zumindest was die simultane Verknüp- fung mit dem gesprochensprachlichen Material anbetrifft, die aber ja gerade notwendig ist, damit das Transkript seinen didaktischen Nutzen entfalten


    image

    17 Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich bei der Schreibung sozusagen um eine „Fehl- übertragung“ der Lautform [ɦad̥] auf das Schreibbild |hat| der Verbform hat handelt. Dies würde die Diagnose der Art und Weise der Verschriftungspraktiken aus Ab- schnitt 3 zusätzlich stützen.


    kann. Auch bei einer schriftlichen Fixierung eines Gesprächs, die weitgehend auf besondere Auszeichnungen und Strukturierungen verzichtet, bleibt die Herausforderung der Verknüpfung zwischen der graphischen Konfiguration auf dem Papier und dem akustischen Beispielmaterial bestehen. Die Verknüp- fung zwischen Transkript und Hörmaterial muss beim Mitlesen fortlaufend hergestellt und aufrechterhalten werden, was für Lernende generell, d.h. un- abhängig von der Art der Transkription, ein Problem darstellt. Denn geht die Verbindung von Gesprochenem und Geschriebenen einmal verloren, muss eine Stelle für den Wiedereinstieg gefunden werden, während das Gespräch weiterläuft, dessen Verständnis aber ja eigentlich der visuellen Stütze der Schrift bedarf. Dieses Problem wird unter Umständen sogar verschärft, wenn sich die Gliederung des Textes nicht an der prosodischen Phrasierung des ge- sprochenen Materials orientiert, die wir auch in Sprachproben uns unbekann- ter Sprachen heraushören können (Himmelmann et al. 2018).

    Aushebeln lässt sich diese Problematik sehr wahrscheinlich mittels einer zeit- lich alignierten Textfassung, wie man sie von der intralingualen Untertitelung kennt. Der sprachdidaktische Nutzen von intralingualen Untertiteln ist zwar nicht unumstritten. Es lässt sich aber bspw. beobachten, dass Lernende aus Ländern, in denen englischsprachige Filme, Serien etc. aus Kostengründen nicht in synchronisierter Fassung, sondern im Original mit (intra- oder inter- lingualen) Untertiteln gezeigt werden, das weltweit höchste Sprachniveau bzgl. Englisch als Fremdsprache aufweisen (vgl. EPI 2019; Bonnet 2002); inte- ressanter Weise auch in Bezug auf die Lesefähigkeit (vgl. Koolstra et al. 2002).18 Dies wird in der Forschungsliteratur nicht zuletzt damit in Verbindung ge- bracht, dass die betreffenden Lernenden über die untertitelten audiovisuellen Medien intensiven und regelmäßigen Kontakt mit der Fremdsprache haben; und zwar sowohl im Mündlichen wie im Schriftlichen. Statt sich Englisch als Fremdsprache über gesteuerten Spracherwerb im herkömmlichen Unter- richtssetting angeeignet zu haben, geben viele Lernende auch selbst an, „to have learned English from their regular exposure to subtitled American films and television programs” (Danan 2004: 67). Seit den 1990er Jahren wird daher


    image

    18 Dass sich die Forschung zum Spracherwerb durch Untertitel fast ausschließlich auf Englisch als Fremdsprache bezieht, liegt darin begründet, dass englischsprachige Filme, Serien und Fernsehsendungen das Programm dominieren und den Markt anführen (vgl. Jüngst 2020: 80).


    der gezielte Einsatz von untertitelten audiovisuellen Medien für den Erwerb von Fremd- und Zweitsprachen diskutiert.

    Es zeigt sich zwar, dass der sprachdidaktische Nutzen von Untertiteln einigen Einschränkungen unterliegt. So eignet sich der Einsatz von untertitelten Mate- rialien bspw. nicht für Lernende, die sich noch im Schriftspracherwerb befin- den, deren Lesegeschwindigkeit nicht ausreicht, um der Untertitelung folgen zu können. Insgesamt wurde in empirischen Studien aber durchgehend evident, dass sich eine Rezeption von untertitelten Videos positiv auf den Spracherwerb in den Bereichen Hörverstehen, Wortschatzerweiterung, Sprechfertigkeit, Va- rietätenkompetenz und Lernmotivation auswirken kann (vgl. u.a. Vulchanova 2015; Koolstra & Beentjes 1999; Mitterer & McQueen 2009; Diao et al. 2007; Lekkai 2014; Danan 2004 und in überblicksartiger Darstellung Vanderplank 2010). Die Unterstützung des Hörverstehens durch Untertitel erfolgt nach Fröhlich (1988: 200) in zweifacher Weise: Zum einen bereiten sie den Hörer auf die Wahrneh- mung des Gesprochenen vor. „By reading very quickly, ‘skimming over‘ the text, the learner is set up or preconditioned for the following sounds.“ Zum anderen dienen Untertitel als Quelle der Bestätigung des Gehörten. „With the aid of […] subtitles, the learner may check whether he/she indeed heard what was thought to be heard.“ Sprachliche Strukturen in audiovisuellen Medien sind zudem im- mer in einen Kontext eingebunden, was dabei helfen kann, eine Sensibilität hin- sichtlich der situativen oder gattungsbezogenen Angemessenheit einzelner sprachlicher Strukturen zu entwickeln. Diese und andere Vorteile von Materia- lien, die nicht eigens für didaktische Zwecke konstruiert wurden, sind für den Fremdsprachunterricht hinlänglich bekannt und werden seit Längerem be- schrieben (vgl. u.a. Lekkai 2014: 82; Imo & Moraldo 2015; Günthner et al. 2021).

    Mit Blick auf den Einsatz etwa von deutschsprachigen Filmen und Serien als Lehrmaterialien sind aber zugleich auch Bedenken anzumelden, vor allem in Bezug auf die fragliche Authentizität und Qualität des Materials. Es handelt sich um geskriptete Dialoge, die zwar sicher nicht mit Lehrwerksdialogen gleichzusetzen sind, aber dennoch andere Strukturmerkmale aufweisen, als sie sich in „freier Wildbahn“ beobachten lassen (vgl. Imo 2012: 4). Zielführend scheint es daher, das Verfahren der Untertitelung zu nutzen, um authentische Interaktionen zugänglich zu machen. Um die Vorteile des Einsatzes authenti- scher Sprachaufnahmen mit den Vorteilen von Untertiteln zu verzahnen, sind


    allerdings einige Überlegungen bzw. Entscheidungen bezüglich der Über- nahme oder Abweichung von Konventionen herkömmlicher Untertitelungs- konventionen im Film und Fernsehen sowie von der Transkriptionspraxis im Bereich der Sprachwissenschaften anzustellen, die hier nur skizziert werden können. Diese betreffen u.a. die Art der Phrasierung des Materials einschließ- lich der Verwendung von Interpunktionszeichen, den Umgang mit Groß- und Kleinschreibung, die Hervorhebung von Bezugssegmenten sowie die Art der Verschriftung von Einheiten, für die es keine schriftsprachlichen Entspre- chungen gibt.

    Phrasierung und Interpunktion: Als Einheit zur Gliederung des untertitelten Tex- tes würde sich vermutlich die Intonationsphrase anbieten, die von Himmelmann et al. (2018) sprachenübergreifend als universale Gliederungseinheit identifiziert werden konnte. Dies würde das Mitlesen der Untertitel insofern erleichtern, als der Lesefluss mit der Phrasierung des Gehörten einhergeht. Dies würde zudem eine Interpunktion, die in Anlehnung an die Orthographie nicht immer ohne Wei- teres umzusetzen ist, weitgehend überflüssig machen. Als sinnvoll erweist sich aber vermutlich die Markierung (bspw. durch Auslassungspunkte) unabgeschlos- sener Einheiten im Falle syntaktischer Fragmentierung und/oder bei Abbrüchen und Reparaturen. Groß- und Kleinschreibung: Um einen Wiedererkennungsef- fekt auf Wortebene sicherzustellen, sollte die Groß- und Kleinschreibung entspre- chend den orthographischen Normen beibehalten werden. Die Umsetzung initi- aler Großschreibung bereitet allerdings Schwierigkeit, da nicht immer klar zu entscheidenden ist, wann und wo ein neuer Satz beginnt bzw. ob die Kategorie Satz überhaupt passgenau ist. Hervorhebung von Bezugssegmenten: Hinsichtlich der laufenden (bspw. farbigen) Markierung des Bezugs zwischen Audiospur und Untertitel wäre es sinnvoll, ganze Wörter und nicht etwa Silben hervorzuheben. Dies hat den Hintergrund, dass die Silbenanzahl im Geschriebenen und Gespro- chenen nicht immer identisch sein muss. So weist etwa das Wort haben im Ge- schriebenen zwei Silben auf, im mündlichen Sprachgebrauch, wie wir gesehen haben, jedoch häufig nur eine. Eine Hervorhebung von Silben würde daher die Text-Ton-Alignierung vermutlich eher stören. Schreibung bei fehlendem schrift- sprachlichem Pendant: Zu überlegen ist des Weiteren, wie mit mündlichen Struk- turen wie beispielsweise mit Gesprächspartikeln umgegangen wird, die kein nor- miertes oder kodifiziertes Pendant im Schriftlichen aufweisen. Wichtig scheint hier einerseits, sich im Aufbau der Schreibung an orthographischen Prinzipien zu orientieren. Andererseits ist sicher eine Konstanz in der Schreibung ratsam. So


    müssen vermutlich nicht alle verschiedenen Formen von Rückmeldesignalen mit hm in ihrer Differenzierung erfasst werden. Die nötige Differenzierung liefert ja das lautliche Material. Gleiches gilt wahrscheinlich auch für die diversen Lautva- rianten von ja (für eine didaktische Perspektive vgl. Weidner 2015). Unabhängig von der gewählten Art der Verschriftung ist in den genannten Fällen von Vorteil, dass diese Elemente so hochfrequent vorkommen, dass die Lernenden sich die ggf. neuen Schriftbilder schnell werden einprägen können. Eine schriftliche Um- setzung des oben angeführten Beispiels gemäß der genannten Punkte könnte wie folgt aussehen:

    Beispiel 219

    öhm Fieber haben sie keins nee…

    …Fieber hatte ich vorher und das ist jetzt auch weg mhm

    also… okay

    …ist jetzt wieder besser ja mhm

    ja das ist doch schön

    und dann kann ich auch schon bald…

    …äh wieder nachhause wenn ich dann…

    ich meine jetzt ist es sehr früh aber… mhm

    …ab morgen übermorgen könnte man sagen übermorgen

    ja okay doch


    image

    19 Ein mit der vorliegenden Textfassung untertiteltes Beispielvideo ist online abrufbar unter https://dafdaz-db.spracheinteraktion.de/?p=transkript&transkript_id=1075. Überlappun- gen werden in den Untertiteln dadurch markiert, dass die Äußerungen verschiedener Sprecher mit unterschiedlichen Farben hinterlegt sind und jeweils simultan untereinander angezeigt werden.


  5. Fazit

    Startpunkt unserer Diskussion war eine eher theoretische Fragestellung, näm- lich die nach der Modellierung des Zusammenspiels von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Ausgehend von dem Aspekt der Zeichenmaterialität wurde da- für argumentiert, dass gesprochene und geschriebene Sprache nicht sinnvoll als überlappende Untersysteme eines gemeinsamen Sprachsystems verstan- den werden können, weil sich die Einheiten dieser Untersysteme in ihrer ma- teriellen Fundierung und kognitiven Verarbeitung substanziell unterscheiden. An dieser Stelle mag man einhaken und einwenden, dass es sich bei den behan- delten Punkten aber doch eher um sprachtheoretische Problemstellungen handele, die für die Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache nicht von be- sonderer Bedeutung sind. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Dies zum einen deshalb, da die Art der Didaktisierung eines Lerngegenstandes niemals unab- hängig sein kann von Annahmen darüber, was genau dieser Gegenstand ei- gentlich ist bzw. wie dieser sich konstituiert. Zum anderen führt die hier vor- geschlagene Sichtweise trotz der evtl. damit verbundenen theoretischen Flug- höhe zu einer Erdung unseres Sprachverständnisses, indem Sprache an seine materialisierten Erscheinungsformen angebunden wird und nicht von diesen abgekoppelt. Dies hat zur Folge, dass sich die praktischen Implikationen, die sich aus den diskutierten theoretischen Zusammenhängen ergeben, sehr kon- kret formulieren lassen, wie es die Diskussion der linguistischen Transkripti- onspraxis und damit verbunden schließlich des Nutzens von Transkripten für den DaF-Unterricht deutlich gezeigt hat.

    Eine zentrale Einsicht der weiterführenden Diskussion war hier, dass es wenig zielführend erscheint, Hilfsmittel, die ausgebildeten Linguisten (mit in der Re- gel muttersprachlichen Kompetenzen) als Instrument zur Analyse gesproche- ner Sprache dienen, als Lehrmaterialien im Fremdsprachunterricht einzuset- zen, wenn das Ziel nicht die Reflexion einer bereits bestehenden sprachlichen Kompetenz ist. Mit Blick auf das Ziel des Spracherwerbs können sich entspre- chende Materialien letztlich nicht als hilfreich erweisen, da ihre Leistungsfä- higkeit die nähere Kenntnis der zu erwerbenden Strukturen voraussetzt, um diese in der Rezeption des Transkripts sowohl mit, aber vor allem auch ohne die akute Verfügbarkeit des korrespondierenden Hörmaterials auf die Textur projizieren zu können. Die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes kann nur


    überwunden werden, wenn es gelingt, sich mithilfe der schriftlichen Darstel- lung die lautlichen Erscheinungen imaginativ zu vergegenwärtigen. Für die/den Sprachlernenden ist das Transkript allerdings, wie argumentiert wurde, mutmaßlich zunächst stumm und/oder lenkt durch seine Form und die damit verbundenen Anforderungen an die Rezeption im worst case sogar von der Mündlichkeit ab.

    Man mag sich vor diesem Hintergrund die Frage stellen, wie sinnvoll es ist, eine Webseite wie die „Plattform Gesprochenes Deutsch“ mit Materialien für For- schung und Lehre im Bereich DaF einzurichten, wenn sich doch herausstellt, dass für die Forschung andere Materialien notwendig sind als für die Lehre, zumindest im Bereich der (initialen) Sprachvermittlung. Diese Aussage ist al- lerdings nur von eingeschränkter Gültigkeit: Im Zweifel sind es nicht die Pri- märdaten, die sich für die Sprachvermittlung als untauglich erweisen, sondern die Transkripte, die nach wissenschaftlichen Standards angefertigt wurden und in erster Linie der Sprachanalyse dienen. Diese liefern aber zugleich struk- turierte Textfassungen der erhobenen Gesprächsmaterialien, die sich in Ab- hängigkeit vom jeweiligen didaktischen Kontext und Ziel umarbeiten lassen. Genau hier setzt der Vorschlag an, mit Blick auf die Präsentation des Textma- terials zum Zweck der Sprachvermittlung eine Untertitelung der Materialien vorzunehmen, die sich u.a. in der Fragmentierung der Textblöcke an der Sys- tematik gesprächsanalytischer Transkriptionen orientiert, aber keine Kennt- nis spezifischer Transkriptionskonventionen voraussetzt. Der Sinn der Text- gliederung ergibt sich in und aus der Alignierung mit dem Hörmaterial sowie ggf. der Videoaufzeichnung, während beim Umgang mit einem auf dem Papier fixierten Transkript eine gewisse Lesekompetenz in Bezug auf räumliche An- lage, die Ausweisung von Sprechern usw. eine Rolle spielt, die sich erst einmal einspielen muss, um hörbegleitend mitlesen zu können.

    Wenn wir zudem davon ausgehen, dass die Untertitelung zum einen Verstehen erleichtert oder sogar erst ermöglicht und zum anderen aber auch der Verste- henssicherung dienen kann, ist zu erwarten, dass durch die regelmäßige Re- zeption untertitelter Materialien die erste Strategie zunehmend durch die zweite ersetzt wird, bis evtl. auch diese irgendwann nur sporadisch oder gar nicht mehr benötigt wird. Ist dies der Fall, kann dies als Anzeichen dafür ge- wertet werden, dass eine passive gesprochensprachliche Kompetenz aufgebaut


    wurde; nämlich ein Inventar kognitiver Schablonen zum Erkennen und Ver- stehen spontaner Äußerungen von Muttersprachlern, was ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Konversationsfähigkeit sein kann. Konversationsfä- higkeit ist ein erklärtes Ziel des DaF-Unterrichts bzw. des Fremdsprachunter- richts im Allgemeinen (vgl. Imo 2013: 108–115), das aber im engeren Sinne nur durch die Teilnahme an natürlichen Interaktionen, d.h. in der sozialen Praxis erreicht werden kann (vgl. Krashen 2009). Wenn nun allerdings konversatio- nelle Kompetenz Voraussetzung für die erfolgreiche Teilnahme an spontanen Interaktionen ist, diese aber im eigentlichen Sinne nur in solchen Interaktio- nen erworben werden kann, stellt dies ein Erwerbsdilemma dar, das sich u.E. durch den Einsatz untertitelter Gesprächsdaten potenziell aufbrechen lässt. Der Vorteil des hier grob skizzierten Lernszenarios mit untertitelten Interak- tionen liegt darin, dass man sich in der „passiven“ Beobachtung von authenti- schem Interaktionsgeschehen rein auf die Rezeption konzentrieren kann, ohne unter Druck zu stehen, selbst Beiträge zu produzieren, was zu einem schrittweisen Auf- und Ausbau kognitiver Schemata führen kann, die zuneh- mend auch zur aktiven Teilhabe an sprachlichen Interaktionen befähigen; dies vor allem auch deshalb, weil mit der Fremdwahrnehmung in Bezug auf sicht- bare Artikulation und Akustik auch die eigene Motorik stimuliert wird (Stich- wort motor imagery; vgl. hierzu bspw. Iachini 2011). Dies kann ausgehend von den unnatürlichen und „hölzernen“ Dialogen, wie man sie häufig in Lehrwer- ken findet, nicht in zufriedenstellender Weise erreicht werden. Ein zentrales Problem besteht darin, dass die Art des präsentierten Sprachgebrauchs sich grundlegend von dem unterscheidet, der in spontaner Alltagssprache vor- kommt (vgl. Lanwer & Schopf 2021), da es sich hierbei um schriftorientierte und vor allem schriftbasierte Mündlichkeit handelt. Vereinfacht gesprochen lassen sich durch den Umgang mit dieser Form der Mündlichkeit nur bedingt Wahrnehmungsschemata aufbauen, die zum Erkennen und Verstehen sponta- ner Äußerungen von Muttersprachlern hinreichen. Klar ist jedoch auch, dass das Anschauen von untertitelten Alltagsgesprächen den Spracherwerb in real- weltlichen Interaktionen nicht ersetzten kann. Aber es kann vermutlich – wie argumentiert wurde – auf eben solche Interaktionen vorbereiten und sich da- mit als eine wichtige Schaltstelle im Übergang von der Schriftlichkeit zur Mündlichkeit im DaF-Unterricht erweisen, wenn bereits schriftliche Kompe- tenzen in der Alphabetschrift vorhanden sind.


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Beate Weidner

Die Interaktionale Linguistik als Gegenstand der (universitären) DaF-Lehre

Zusammenfassung: Der vorliegende Beitrag möchte Perspektiven aufzeigen, wie interakti- onale Sprache zum Gegenstand im universitären DaF-Studium gemacht werden kann. Im Mittelpunkt steht hierbei nicht nur die Vermittlung von Spezifika des Deutschen in inter- aktionalen Zusammenhängen zum Zwecke der Förderung rezeptiver und produktiver Sprachkompetenz. Vielmehr werden Vorschläge für eine explizite Heranführung an Gegen- standsbereiche interaktionallinguistischer Forschung im fachwissenschaftlichen Germanis- tikstudium gemacht, sodass eine sprachwissenschaftlich fundierte Beschäftigung mit inter- aktionaler Sprache stattfinden kann. Schwierigkeiten bei diesem Unterfangen bereitet zum einen, dass AuslandsgermanistInnen nicht immer Zugang zu wissenschaftlicher Literatur haben, die die Ergebnisse interaktionallinguistischer Forschung in einer angemessenen Dar- stellungsweise präsentiert. Zum anderen standen bisher kaum Datenbanken und Lehrmate- rialien zur Verfügung, die speziell auf die Bedürfnisse Lehrender und Studierender im Be- reich DaF zugeschnitten sind. In beiden Bereichen sind in der jüngeren Vergangenheit Res- sourcen entwickelt worden. Anhand dieser beleuchtet der Beitrag die Potenziale, die eine aufeinander abgestimmte Nutzung dieser Ressourcen sowohl für die Vermittlung interakti- onaler Sprache in der DaF-Lehrpraxis als auch für die interaktionallinguistische Beschäfti- gung in fachwissenschaftlichen Seminaren bieten kann.

Abstract: This article aims to show perspectives on how interactional language can be made a subject in university classes of German as a foreign language (DaF). The focus here is not only on teaching specifics of the German language in interactional contexts for the purpose of enhancing receptive and productive language competencies. Rather, suggestions are made for an explicit introduction to the subject areas of interactional linguistic research in German studies, so that linguistically well-founded studies of interactional language can take place. One difficulty in this endeavor is that scholars of German studies abroad do not always have access to scientific literature that presents the results of interactional linguistic research in an appropriate manner. Furthermore, there have been few databases and teach- ing materials available that are specifically tailored to the needs of teachers and students in the field of DaF. In both areas, resources have been developed in the recent past. On the basis of these, the article highlights the potentials that a coordinated use of these resources can offer both for practical language acquisition in DaF and for an interactional linguistic study in subject-specific philological seminars.


  1. Einleitung

    In vielen Ländern setzt das Studium einer Fremdsprache an einer Universität häufig nicht voraus, dass die StudienanfängerInnen über Kenntnisse in der Zielsprache verfügen. So besteht die Studieneingangsphase eines Bachelorstu- diums häufig aus intensiven Sprachpraxiskursen, die Studierende in die Lage versetzen sollen, sich in der Aufbau- oder Vertiefungsphase des Studiums im engeren Sinne literaturwissenschaftlich bzw. sprachwissenschaftlich mit der Zielsprache zu beschäftigen. Daher ist es begrüßenswert, dass die Bemühun- gen, ein möglichst authentisches Deutsch sowohl in seiner geschriebenen als auch in seiner gesprochenen Variante zu vermitteln (vgl. z.B. Dürscheid 2018; Imo & Weidner 2018), in den vergangenen Jahren stetig zugenommen haben. Rückmeldungen aus der Auslandsgermanistik (vgl. hierzu die Beiträge in Günthner et al. 2021) sowie aktuelle DaF-Lehrwerke (etwa die Reihen DaFkom- pakt neu oder Linie1 von Klett) zeigen, wie hoch der Stellenwert ist, der der Di- daktisierung der tatsächlich im Alltag verwendeten Variante des Deutschen beigemessen wird. Hierin liegt eine wichtige Basis auch für die wissenschaftli- che Beschäftigung mit sprachlichen Mustern des alltäglichen Gebrauchs.

    Weniger Beachtung fand bislang indes die Didaktisierung von dezidiert philo- logischen Gegenständen für den DaF-Kontext. Entsprechend dem Credo der Vermittlung möglichst authentischer Sprache beschäftigt sich der vorliegende Beitrag damit, wie Gegenstände der Interaktionalen Linguistik in der universi- tären DaF-Lehre als Teil des sprachwissenschaftlichen Studiums, und damit – über die Vermittlung von Sprachkompetenz im reinen Sprachunterricht hin- ausgehend – als wissenschaftlicher Zugang zur Analyse von Sprache im Ge- brauch, behandelt werden können. Als diejenige linguistische Disziplin, die sich mit der Erforschung dessen befasst, was Sprache ausmacht, die im Alltag in sozialer Interaktion verwendet wird (vgl. Imo & Lanwer 2019: 1),1 ist die In- teraktionale Linguistik (IL) ein für die Auslandsgermanistik höchst relevanter Teilbereich der Sprachwissenschaft. Sie bietet das wissenschaftliche Instru- mentarium, um die Strukturen von Sprache, wie sie in Gesprächen oder auch in medial schriftlicher Interaktion verwendet wird, beschreiben und erklären zu können. Eine interaktionallinguistische Beschäftigung mit Sprache birgt für



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    1 Vgl. für eine erste Einführung in die Interaktionale Linguistik auch den programmati- schen Beitrag von Selting & Couper-Kuhlen (2001).


    DaF-Studierende zudem den Vorteil, dass sie neben einem wissenschaftlich- reflektierten Umgang mit Sprache en passant auch für die Merkmale der ge- sprochenen bzw. interaktional verwendeten Sprache sensibilisiert werden, was ihnen ihre eigene Sprachproduktion und -rezeption in der Fremdsprache Deutsch erleichtert. Der vorliegende Beitrag fokussiert jedoch die wissen- schaftliche Beschäftigung mit interaktionaler Sprache, also die Implementie- rung der Interaktionalen Linguistik als Thema in der universitären Lehre. Der praktische Erwerb von interaktionalen Strukturen der alltäglichen Sprache in Sprachkursen steht somit nicht im Mittelpunkt des Beitrags, wird aber dort explizit benannt, wo er nicht bloß als en passant-Lerneffekt der fachwissen- schaftlichen Reflexion erscheint, sondern wo zwischen sprachpraktischer Lehre und fachwissenschaftlichen Seminaren getrennt werden sollte.

  2. Interaktionale Linguistik für die Auslandsgermanistik

    Um in sprachwissenschaftlichen Seminaren des DaF-Studiums die IL als Ansatz zur Erforschung von Sprache zum Thema zu machen, bedarf es dreierlei Res- sourcen: Zunächst wird wissenschaftliche Grundlagenliteratur zur IL benötigt, die sowohl den Lehrenden als auch den Studierenden die Strukturprinzipien interaktionaler Sprache in einer angemessenen Weise erläutert. Zudem ist eine Datengrundlage an authentischer sprachlicher Interaktion erforderlich, an der die Konzepte der IL illustriert und analysiert werden können. Um das Arbeiten mit den Daten zu erleichtern, ist es darüber hinaus von immensem Vorteil, wenn didaktisiertes Lehrmaterial zur Verfügung steht, das exemplarisch an einzelnen Phänomenen der interaktionalen Sprache ihre Strukturprinzipien veranschaulicht. Im Folgenden wird auf aktuelle Ressourcen in diesen Berei- chen eingegangen.

    1. Interaktionallinguistisches Wissen für DaF-Lehrende und fortgeschrittene Lernende

      Mittlerweile gehen einige wissenschaftliche Grammatiken zum Deutschen auf Merkmale interaktional verwendeter Sprache ein. Fiehler (2016) etwa widmet der Gesprochenen Sprache bereits in der 9. Auflage der Duden-Grammatik ein eigenes Kapitel, das in der 10. Auflage von Thurmair (2022) neugestaltet wird. Auch bereits in der IDS-Grammatik (Zifonun et al. 1997) werden interaktionale


      Phänomene ausführlich thematisiert. Bei diesen teils sehr detaillierten Darstel- lungen werden einzelne sprachliche Phänomene, zumeist syntaktische Kon- struktionen, herausgegriffen und in ihrer Form und Funktion erläutert. In DaF- Grammatiken werden die Strukturmerkmale interaktionaler Sprache jedoch weiterhin vernachlässigt, da noch immer in weiten Teilen das Urteil vor- herrscht, eine Grammatik für DaF habe sich an der normierten Standardschrift- sprache zu orientieren (vgl. Helbig & Buscha 2013).

      Jenseits von Grammatiken liegen einführende Arbeiten vor, die Eigenschaften der gesprochenen Sprache präsentieren, etwa Schwitalla (2012) und Fiehler et al. (2004). Die Einführung von Schwitalla (2012) eignet sich auch im DaF-Kon- text gut, um einen Überblick über die Vielfalt gesprochensprachlicher Phäno- mene zu erhalten, während Fiehler et al. (2004) beispielhaft die detaillierte Analyse einer Konstruktion vorführen. Die Anzahl von Arbeiten zu Einzelphä- nomenen der gesprochenen Sprache ist in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen. 2 Woran es jedoch lange Zeit mangelte, sind Arbeiten, die sich nicht nur spezifischen Konstruktionen widmen, sondern auch die grundlegen- den Strukturprinzipien interaktionaler Sprache leicht zugänglich erläutern, aus denen die einzelnen Phänomene letztlich resultieren. Fiehler et al. (2004) bieten im Vorfeld ihrer Operator-Skopus-Analysen einen Einblick in diese Grundlagen sprachlicher Interaktion. Dieser ist jedoch nicht überblickartig ge- staltet und mit seiner Fokussierung auf das Praktikenkonzept als Grundlage für den universitären DaF-Unterricht nur bedingt geeignet; vielmehr wäre ein Lehrbuch hier vonnöten.

      Diese Lücke wurde mit der Einführung in die IL von Imo & Lanwer (2019) ge- schlossen, die sich an Studierende der Linguistik richtet, gleichermaßen aber für Lehrende ohne vertieftes Vorwissen in der IL als Einstiegslektüre geeignet ist.3 Sie führt grundlegend in die Terminologie, die Fragestellungen, die wissen-


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      2 Einen Überblick über die Fülle interaktionallinguistischer Forschung zu geben, sprengt den Umfang des Beitrags. Siehe hierzu die Literaturverweise in Imo & Lanwer (2019).

      3 Weitere hilfreiche Einführungen in die Analyse von Gesprächen sind etwa folgende: Deppermann (2008) „Gespräche analysieren“, der jedoch keine dezidiert linguistische Perspektive einnimmt und nicht systematisch in die Strukturprinzipien der gesproche- nen Sprache einführt, wie dies bei Imo & Lanwer (2019) der Fall ist; Gülich & Mondada (2008): „Konversationsanalyse. Eine Einführung am Beispiel des Französischen“: Da die Transkriptausschnitte hier in französischer Sprache vorliegen, ist die Nutzung im DaF- Studium nur begrenzt möglich. Die Einführung in die Konversationsanalyse von Birkner


      schaftshistorische Entwicklung sowie die Methoden der IL ein. Vor diesem Hin- tergrund legt sie die Strukturprinzipien interaktionaler Sprache dar, wie etwa

      ‚Zeitlichkeit‘ – also die Tatsache, dass sich das Sprechen in der Zeit vollzieht – und ‚Sequenzialität‘, sprich, die Positionierung von sprachlichen Einheiten in- nerhalb einer Interaktionssequenz. Anhand konkreter Einzelphänomene wer- den die Auswirkungen dieser Prinzipien auf die Strukturen der in Interaktion verwendeten Sprache aufgezeigt. Zur Illustration werden sequenzielle Analy- sen transkribierter gesprochener Sprache vorgeführt, die beispielhaft zeigen, wie bei einer konkreten Analyse interaktionaler Sprache methodisch vorzuge- hen ist. Die Einführung bietet DaF-Lehrenden im Ausland, die in ihrer Ausbil- dung nicht mit interaktionallinguistischen Fragestellung in Berührung gekom- men sein mögen, einen sehr gut strukturierten, leicht zugänglichen – weil nicht zu detailreichen und auch für EinsteigerInnen verständlich geschriebenen – Überblick über das Forschungsfeld der IL. Für fortgeschrittene DaF-Studierende (etwa mit einer Sprachkompetenz auf C-Niveau und sprachwissenschaftlichem Vorwissen) kann das Buch auch als Kursbuch genutzt werden.4

      Je nach Leistungsniveau der SeminarteilnehmerInnen bietet es sich alternativ an, die Einführung von Imo & Lanwer (2019) als eine Art Handreichung für die Lehrkraft zu nutzen und als Kursbuch Sieberg (2013) zugrunde zu legen. Als ein Studien- und Übungsbuch, das spezifisch für den DaF-Bereich konzipiert ist, sich direkt an die Lernenden wendet und weit weniger Fachterminologie ge- braucht, bietet es einen niedrigschwelligen Einstieg in die sprachwissenschaft- lich reflektierte Thematisierung von grammatischen und sequenziellen Struk- turen der gesprochenen Sprache.

      Je nach Lerngruppe kann so auf eine vertieftere oder eher basalere Art das wis- senschaftliche Fundament geschaffen werden, auf dem interaktionallinguisti- sche Konzepte zum Gegenstand des linguistisch ausgerichteten DaF-Studiums gemacht werden können.


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      et al. (2020) orientiert sich weniger an sprachlichen Strukturen, sondern dem konversa- tionsanalytischen Interesse entsprechend mehr an der Gesprächsorganisation, eignet sich aber sehr gut als ergänzende Lektüre zu dem in diesem Beitrag in Abschnitt 3.2 be- schriebenen Prinzip der Sequenzialität. Siehe hierzu Birkner et al. (2020: 236-330).

      4 Vergleiche auch das Plädoyer in König (2021) für eine Einführung von interaktionallin- guistischen Beschreibungskategorien in den DaF-Unterricht.


    2. Authentische sprachliche Interaktion: die Datenbasis für DaF-Seminare

      Die zweite Voraussetzung dafür, dass die Strukturprinzipien der interaktiona- len Sprache und mithin der Ansatz der Interaktionalen Linguistik selbst zum Thema des linguistischen Unterrichts in der Auslandsgermanistik gemacht werden können, liegt im Zugang zu authentischen Interaktionsdaten. 5 Sie müssen online abrufbar sein und an die Anforderungen universitärer DaF-Se- minare angepasst sein. Das heißt, dass sie idealerweise nicht nur die aus fach- wissenschaftlicher Perspektive zu analysierenden sprachlichen Strukturen enthalten sollten, sondern – im Sinne des en passant-Spracherwerbs – auch the- matisch für die Lernenden von Interesse sein sollten, also kommunikative Gat- tungen des Alltags repräsentieren – z.B. eine private Interaktion unter Freun- dInnen oder ein Gespräch in einer Institution wie der Universität oder einer Behörde wie dem Bürgerbüro. Zudem sollten die Daten in einer hohen (Vi- deo/Audio-)Qualität vorliegen und nicht zu komplexe Interaktionskonstellati- onen aufweisen. Exemplarisch sollen zwei Korpora vorgestellt werden, die sich zum Einsatz im DaF-Unterricht eignen: Die Plattform Gesprochenes Deutsch und die Mobile Communication Database 2 (MoCoDa2).

      Im Rahmen des Projekts Plattform Gesprochenes Deutsch – authentische Alltagsin- teraktionen für die Forschung und Praxis im Bereich DaF und DaZ (http://dafdaz. sprache-interaktion.de/) wurde neben einer Datenbank mit Video- und Audio- daten authentischer Gespräche deutscher MuttersprachlerInnen auch Lehr- material entwickelt. Die Gesprächssammlung umfasst zum einen private Face- to-face-Gespräche und Telefongespräche im Familien- und Freundeskreis. Zum anderen finden sich Interaktionen aus dem Hochschulkontext (Studienbera- tung, Interaktion in der Bibliothek, Seminarplanung, wissenschaftliche Vor- träge), Verkaufsgespräche (u.a. in der Buchhandlung, an der Kinokasse, beim Bäcker), kurze Beratungsgespräche (am Fahrkartenschalter, beim Juwelier, beim Friseur), Bestell- und Bezahlvorgänge in Restaurants und Tankstellen, Arzt-Patienten-Interaktionen und Gespräche in Behörden und Ämtern. Neben der Bereitstellung von verschiedenen Gesprächsgattungen und -kontexten ist auch sichergestellt, dass Daten aus unterschiedlichen Ländern und Regionen des deutschsprachigen Raumes zur Verfügung stehen. So liegen Gespräche aus


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      5 Für einen Überblick zu Korpora der gesprochenen Sprache für den DaF-Unterricht siehe Imo & Weidner (2018) sowie Flinz/Hufeisen/Luppi/Mell (2021).


      den Bundesländern Bayern, Sachsen, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Wien, der Steiermark sowie aus den Kantonen Basel und Zürich vor.

      Die 102 aktuell verfügbaren Gesprächsausschnitte sind nach thematischen Grup- pen geordnet; die Transkripte sind als .pdf-Dateien sowie als .txt-Dateien, die Au- diodateien im .mp3-Format und als .wav-Dateien, die Videodateien im mp4-For- mat downloadbar, was den NutzerInnen einen einfachen und flexiblen Einsatz in Forschung und Unterrichtspraxis ermöglicht. Die verwendeten Transkriptions- konventionen nach GAT 2 (Selting et al. 2009) werden für NutzerInnen, die im Umgang mit Transkripten nicht geschult sind, auf den Seiten der Plattform erläu- tert. Mittels Suchfunktion können Lehrende in den Gesprächen gezielt sprachli- che Phänomene recherchieren. Basierend auf den Gesprächsdaten werden Lehreinheiten zu Strukturmerkmalen der gesprochenen Sprache zur Verfügung gestellt, auf die in Abschnitt 2.3. näher eingegangen wird.

      Da interaktionale Sprache nicht nur in Gesprächen auftritt, sondern schriftba- sierte Messengerkommunikation ebenso interaktional strukturiert ist – und sich daher hier auch Strukturprinzipien der interaktionalen Sprache analysieren las- sen – stellt auch die Mobile Communication Database 2 (MoCoDa2, https://db. mocoda2.de) eine nützliche Datenressource für die universitären DaF-Seminare dar. Die Datenbank hat zum Ziel, die aus elektronischen Kurznachrichten beste- hende Alltagskommunikation zu archivieren und für die Forschung und Lehre an Hochschulen im In- und Ausland zur Verfügung zu stellen. Zu diesem Zweck wer- den Dialoge, die über Messaging-Dienste wie etwa WhatsApp geführt werden, ge- sammelt und aufbereitet. Auch diese Datenbank ist durchsuchbar nach sprachli- chen Phänomenen. Alle NutzerInnen der MoCoDa2 können zudem selbst pseudo- nymisierte Dialoge als Datenspende in die Datenbank hochladen.

      Ein Vorteil der Verwendung von Daten aus der MoCoDa2 in der DaF-Lehre ge- genüber dem Einsatz von mündlicher Interaktion (wie sie in der Plattform Ge- sprochenes Deutsch bereitsteht) liegt darin, dass keine Kenntnisse im Lesen von Transkripten notwendig sind. Zwar sind mittlerweile viele Lehrende mit den gängigen Transkriptionskonventionen nach GAT2 vertraut und können die Lernenden an das Arbeiten mit Transkripten heranführen und auch Birkner et al. (2020), Imo & Lanwer (2019) sowie Stukenbrock (2013) erläutern in separa- ten Kapiteln das Lesen und Arbeiten mit Transkripten. Je nach Sprachstands- niveau und Unterrichtszeit, die in die Thematisierung der IL investiert werden


      kann, bieten die Daten der MoCoDa2 aber die Möglichkeit, sich mit interaktio- naler Sprache ohne die Hürde des Decodierens von Transkriptionskonventio- nen zu befassen. Beide beschriebenen Ressourcen können nach einer Regist- rierung kostenlos genutzt werden und erlauben den Einsatz der Daten in For- schung und Lehre. Die Speicherung, private Nutzung und Weitergabe der Da- ten an Dritte sind untersagt.

      Die beiden Datenbanken können freilich auch zur reinen Vermittlung von sprachlichen Oberflächenphänomenen der interaktionalen Sprache im Unter- richt genutzt werden. Eine sprachwissenschaftliche Reflexion der ihnen zu- grunde liegenden Strukturprinzipien ist selbstredend nicht notwendig. Rück- meldungen aus Sprachschulen und Goethe-Instituten weltweit zeigen, dass die Datenbanken durchaus als Ressource zum Aufbau von mündlicher Kompetenz Einsatz im Sprachunterricht finden.

    3. Didaktisierungsvorschläge zu Phänomenen interaktionaler Sprache

      Neben dem Vorhandensein angemessener sprachwissenschaftlicher Grundla- genwerke und Interaktionsdaten ist auch didaktisiertes Lehrmaterial hilfreich, um konkrete Phänomene interaktionaler Sprache zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Wie oben angerissen, kann das Lehrmaterial rein zum Zwecke der alltagssprachlichen Kompetenzerweiterung in sprachpraktischen Kursen ge- nutzt werden. Es kann aber darüber hinaus auch als Ausgangpunkt dienen, um nach dessen Bearbeitung in der Seminardiskussion die dahinterliegenden Strukturprinzipien interaktionaler Sprache zu erschließen, deren Auswirkun- gen auf der sprachlichen Oberfläche in eben diesen in der Lehreinheit be- schriebenen Phänomenen sichtbar werden. Auf diese Weise kann der Ansatz der IL auf einem abstrakteren Reflexionsniveau zum Thema des Unterrichts gemacht werden. Hier ist es an den Lehrenden zu entscheiden, ob das Ziel, die IL selbst, also die Strukturprinzipien der interaktionalen Sprache, zu reflektie- ren, für das Kursziel und den Lernstand in reinen Sprachpraxiskursen ange- messen ist, oder ob dies den im engeren Sinne fachwissenschaftlichen germa- nistischen Lehrkontexten vorbehalten bleibt.

      Die Durchsicht gängiger Lehrwerke zeigt, dass es vereinzelt Hinweise auf gram- matische Strukturen des gesprochenen Deutsch gibt, wie dies in „Grammatik ak- tiv B2-C1“ (Jin & Voß 2017) von Cornelsen auf den Seiten 230-231 der Fall ist:


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      Abbildung 1: Grammatik aktiv B2-C1, S. 230


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      Abbildung 2: Grammatik aktiv B2-C1, S. 231


      Unklar ist, nach welchen Kriterien die gesprochensprachlichen Konstruktio- nen ausgewählt und andere außer Acht gelassen werden. Neben anderen wer- den auch zeitlichkeitsinduzierte syntaktische Konstruktionen (siehe Abschnitt 3.1) vorgestellt, wie Referenz-Aussage-Strukturen, Pronominaladverbien in Distanzstellung oder der Gebrauch von ehemaligen Subjunktionen (weil und obwohl) als Diskursmarker.6 Sie werden jedoch nicht systematisch und vor al- lem teils ohne Verweis auf ihre Funktionen in der Interaktion listenartig ange- führt. Zwar sind Übungen vorhanden, in denen Sätze aus der schriftsprachli- chen Form in mündlich gebräuchliche Äußerungen überführt werden sollen und umgekehrt. Auf dem Niveau B2/C1 hätte man an dieser Stelle jedoch mit authentischen Audioausschnitten arbeiten können anstatt mit ausgedachten Beispielsätzen, die in vermeintlich gesprochensprachlicher Lautung „Hastu das verstandn? Erklärste mir das mal?“ (Seite 231) abgedruckt sind. Eine Hörübung wäre hier geeigneter gewesen, denn sogar in interaktional verwen- deter Schriftsprache (z.B. in WhatsApp-Dialogen), findet sich selten eine auf diese Weise emulierte Mündlichkeit. Der Hinweis darauf, dass die Formen der gesprochenen Sprache je nach Dialektregion unterschiedlich sind, ist wenig hilfreich, wenn die Varietäten samt zugehöriger Varianten nicht genannt wer- den. Zudem fördert die Warnung, die mündlichen Formen „mit Vorsicht“ zu gebrauchen, die Bewertung von gesprochener Sprache als defizitär. Sinnvoller wäre es gewesen, für Gebrauchskontexte zu sensibilisieren, in denen die Ver- wendung der vorgestellten Phänomene angemessen bzw. unangemessen ist. Dennoch ist es als positiv zu vermerken, dass überhaupt auf Unterschiede zwi- schen normierten, an der Schriftsprache orientierten und interaktional ge- brauchten syntaktischen Konstruktionen hingewiesen wird, wenn auch die di- daktische Umsetzung verbesserungswürdig erscheint.

      Wie oben angedeutet, stehen als zusätzliche Ressource für den DaF-Unterricht auf der Plattform Gesprochenes Deutsch auch Ready-to-use-Lehreinheiten (bspw. zu Gesprächseinstiegen, Partikeln, Verschmelzungen, einzelnen kommunikativen Gattungen wie Bezahlvorgängen oder Wegbeschreibungen etc.) zur Verfügung, in denen Formen und Funktionen von Phänomenen der gesprochenen Sprache lernerorientiert didaktisiert sind. Die Einheiten sind spezifiziert nach unter-


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      6 Die Konstruktionen werden nicht mit den genannten Termini benannt, was im Kontext eines DaF-Lehrbuchs auch keineswegs notwendig ist, wenn es um die reine Vermittlung von Sprachkompetenz geht.


      schiedlichen sprachlichen Niveaus. Ebenso wird der zeitliche Rahmen der Ein- heiten angegeben, sodass Material für Einzel- und Doppelstunden sowie mehr- stündige Lehrsequenzen je nach Bedarf ausgewählt werden können. Die Doku- mente enthalten außerdem Verlaufspläne und Lösungen zu allen Aufgaben. In den Lehreinheiten werden exemplarisch einzelne Phänomene herausgegriffen, die sich einerseits bestens dafür eignen, die mündliche Sprachkompetenz zu schulen, und andererseits als Ausgangspunkt dienen können, um die der inter- aktionalen Sprachverwendung zugrundeliegenden Strukturprinzipien wissen- schaftlich fundiert beschreiben und diskutieren zu können.

      Weitere Lehreinheiten finden sich in den Sammelbänden von Reeg et al. (2012), Imo & Moraldo (2015) sowie bei Imo & Weidner (2018) und in Günthner et al. (2021). Die Möglichkeiten ihres Einsatzes für die linguistische Beschäftigung mit den Strukturprinzipien, von denen die interaktionale Sprache geprägt ist, werden Gegenstand des nächsten Abschnitts sein.

  3. Strukturprinzipien interaktional verwendeter Sprache und ihre Vermittlung in der DaF-Lehre

    Im Folgenden werden anhand der Dimensionen Zeitlichkeit und Sequenzialität zwei grundlegende Strukturprinzipien interaktionaler Sprache und die für ihre Beschreibung entwickelten interaktionallinguistischen Konzepte kurz er- läutert7 sowie Möglichkeiten ihrer Thematisierung im fachwissenschaftlichen DaF-Unterricht skizziert.

    1. Zeitlichkeit

      „[D]ie zeitliche Struktur mündlicher Handlungen [ist], anders als die des Schrei- bens, von Anfang an Teil eines Interaktionsprozesses, des Dialogs zwischen Spre- cher und Hörer.“ (Auer 2010: 43)

      Die Tatsache, dass sich Sprache in interaktionalen Zusammenhängen progre- dient über die Zeit entfaltet, hat grundlegenden Einfluss auf ihre Struktur. An- ders als bei schriftlicher Sprachproduktion ist eine mündlich produzierte Äuße- rung im Prozess ihres Entstehens bereits für die RezipientInnen wahrnehmbar.



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      7 Der Beitrag schlägt die Nutzung der Einführung in die Interaktionale Linguistik von Imo & Lanwer (2019) als Unterrichtsgrundlage vor. Aus Gründen der Kohärenz orientieren sich die folgenden Ausführungen daher an der Terminologie von Imo & Lanwer (2019).


      Daraus ergeben sich u.a. die folgenden Fragen (vgl. Imo & Lanwer 2019: 136, so- wie Deppermann 2008: 70):

      • Welche Erwartungen über den strukturellen und inhaltlichen Fortgang der Äußerung bauen Äußerungsfragmente auf?

      • Findet sich ein Abbruch? Ist dieser interpretierbar? Werden durch ihn Fol-

        gehandlungen ausgelöst?

      • Wie können Sätze, die bereits potenziell einen möglichen Abschlusspunkt erreicht haben, nachträglich in der Interaktion bearbeitet oder erweitert werden?

        Um die zeitliche Emergenz syntaktischer Strukturen der interaktionalen ge- sprochenen Sprache angemessen beschreiben zu können, entstanden Kon- zepte und Syntaxmodelle, die Zeitlichkeit als zentrales Merkmal voraussetzen. Im deutschsprachigen Raum hat v.a. Auer (u.a. 1991, 1993, 2007) die Entwick- lung eines Syntaxmodells vorangetrieben, das der Zeitlichkeit Rechnung trägt, die On line-Syntax. Sie geht davon aus, dass Sprache in interaktionalen Zusam- menhängen durch die Grundbedingungen der Flüchtigkeit, Irreversibilität und Synchronisierung geprägt ist.

        Eine Auswirkung der Flüchtigkeit, also des ‚Verschwindens‘ von gesprochener Sprache nach der Aussprache, ist, dass SprecherInnen und HörerInnen enor- men kognitiven Anforderungen ausgesetzt sind, da sie sich den Wortlaut des Gesprochenen nur in begrenztem Maße merken können. Die SprecherInnen müssen ihre Äußerungen in Sekundenbruchteilen planen, was zu Vorlaufele- menten (also, ähm), Wortfindungsstörungen, Pausen und Zögerungspartikeln, Abbrüchen und Neuanfängen etc. führen kann. Bei HörerInnen kann es dage- gen zu Nachfragen, Unterbrechungen oder schieren Missverständnissen kom- men (vgl. Imo & Lanwer 2019: 142). Viele syntaktische Konstruktionen, die ty- pisch sind für die gesprochene Sprache, lassen sich aus der Flüchtigkeit erklä- ren und stellen Verfahren der SprecherInnen dar, um den Herausforderungen zu begegnen, die die Zeitlichkeit birgt.

        Die Grundbedingung der Irreversibilität – der Tatsache, dass einmal Gesproche- nes nicht mehr zurückgenommen werden kann – führt u.a. dazu, dass sich ein Reparatursystem (vgl. u.a. Kapitel 5 in Birkner et al. 2020) entwickelt hat, das den Sprechenden die Möglichkeit gibt, bereits Ausgesprochenes im Nachhinein zu bearbeiten, zu erweitern oder zu korrigieren. Zudem ist festzustellen, dass sich Sprechende Routinen bedienen, um sich vage zu äußern oder Äußerungen


        abzuschwächen und so nicht im Nachhinein auf ihre – evtl. heiklen – Aussagen festgelegt werden zu können.

        Dass gesprochene Sprache synchron verläuft8 und die Hörenden die Äußerun- gen der Sprechenden on line während des Formulierungsprozesses wahrneh- men, führt zum einen dazu, dass das klassische Konzept der schweigenden Hö- rerin und der produzierenden Sprecherin obsolet ist. Zum anderen zeigen sich die Auswirkungen der Synchronisierung konkret in der Syntax, z.B., wenn kol- laborative Konstruktionen gebildet werden, eine Interaktionspartnerin also die Äußerung der anderen weiterführt oder vervollständigt.

        An dieser Stelle kann kein umfassender Überblick zu jeglichen Phänomenen ge- geben werden, die bislang unter der Perspektive der On line-Syntax erforscht wurden.9 Es soll lediglich schlaglichtartig auf einzelne syntaktische Muster ver- wiesen werden: So ist der Bezug zu Zeitlichkeit besonders bei der Phänomen- klasse der Projektorkonstruktionen sehr deutlich (vgl. zum Konzept der Projek- torkonstruktionen Günthner & Hopper 2010). Sie bauen Erwartungen darüber auf, wie die Folgeäußerungen gestaltet werden. Zur Klasse der Projektorkon- struktionen gehören u.a. äußerungsankündigende Phrasen wie die Sache ist (vgl. Günthner 2008), Extrapositionen mit es (Es geht nicht, dass du…), unverbundene wenn-Sätze vor Äußerungen (Wenn du Lust hast: Wir machen morgen eine Party)10 oder Referenz-Aussage-Strukturen (die Kinder, die spielen im Sandkasten).11

        Ebenso gehört die Gruppe der Diskursmarker zu den Projektorkonstruktionen, da auch sie Erwartungen über den Fortgang der Folgeäußerungen aufbauen. Diskursmarker bilden unter den Projektorkonstruktionen eine gut erforschte


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        8 Das Merkmal der Synchronisierung trifft auf die oben erwähnte Messengerinteraktion nicht zu, da hier der Schreibprozess nicht unmittelbar vom Gegenüber wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu asynchroner medial schriftlicher Kommunikation (wie etwa Briefen) ist die zeitliche Verzögerung bei der Kommunikation via Messenger jedoch enorm verkürzt, weshalb auch von quasisynchroner Kommunikation gesprochen wird.

        9 Für eine Auswahl der wichtigsten Forschungsergebnisse siehe etwa Imo & Lanwer (2019: 154-170) oder die Duden-Grammatik (Thurmair 2022).

        10 Zu unverbundenen wenn-Sätzen steht auf der Homepage des Projekts ‚Gesprochenes Deutsch für die Auslandsgermanistik‘ eine Informationseinheit zum Download bereit, die sich spezifisch an DaF-Lehrende richtet: https://daad-gda.sprache-interaktion.de/

        ?page_id=286. Sie ist auch für Lehrende verständlich, die nicht über Vorwissen in der Interaktionalen Linguistik verfügen, enthält Literaturhinweise und Audiobeispiele, die im DaF-Unterricht zur Illustration des Phänomens eingesetzt werden können.

        11 Vgl. für eine leicht zugängliche Darstellung zu Phänomenen, die durch die Zeitlichkeit interaktionaler Sprache bedingt sind, auch die Kapitel 4 und 6 in Sieberg (2013), die auch im Unterricht gelesen werden können.


        Gruppe, die ihrerseits wieder aus verschiedenen Typen von sprachlichen Ele- menten besteht, die unterschiedliche Handlungen projizieren.12 Häufig haben sich Diskursmarker aus bereits vorhandenen Wörtern gebildet, die als Diskurs- marker jedoch andere Funktionen übernehmen als ihre Homonyme. So kön- nen sie sich bspw. aus ehemaligen Subjunktionen und Konjunktionen rekrutie- ren, wie weil („es hat wohl geregnet, weil – die Straße ist nass“), obwohl („ich lerne Vokabeln, obwohl – ich bin zu müde“), und („Ich war beim Vorstellungs- gespräch.“ „Und?“ „Ich hab den Job.“). Zudem können sie sich aus ehemaligen Adverbien oder Partikeln entwickeln (z.B. nur („nur: das will er gar nicht“) oder ja („Was kann ich für Sie tun?“ „Ja, ich hätte gern drei Brötchen.“) sowie aus formelhaften Phrasen wie ich mein („ich mein, ich bin jetzt schon alt…“ oder guck mal („guck mal, ich hab ja gar nicht studiert“). So heterogen die genannten Ausdrücke auch zu sein scheinen, sind sie doch alle Ausdrücke „mit metaprag- matischer Funktion, die Äußerungen oder turns einleiten, in Sätzen das soge- nannte Vor-Vorfeld einnehmen, somit syntaktisch schwach oder gar nicht in- tegriert und häufig – wenn auch nicht notwendigerweise – von der Einheit, die sie einleiten, auch prosodisch abgetrennt sind“ (Imo 2007: 5f.; vgl. auch Auer 1997; Günthner 1999; Günthner & Imo 2003).

        Wie der kurze Überblick zeigt, ist die Klasse an Diskursmarkern wesentlich breiter und heterogener als die Tabelle in Abbildung 2) aus „Grammatik aktiv“ andeutet. Hierin zeigt sich, wie verkürzt und holzschnittartig die Darstellung von als „typisch“ für mündliche Sprache präsentierten Phänomenen in vielen Lehrbüchern behandelt wird. Für den sprachpraktisch ausgerichteten DaF-Un- terricht birgt eine ausführlichere Thematisierung von Diskursmarkern das Po- tenzial, dass die Lernenden ihre Sprachkompetenz um hochfrequente alltags- sprachliche Elemente erweitern, die sich als funktionale Ressource in der in- teraktionalen Koordination von Sprachhandlungen erweisen. Darüber hinaus sind Diskursmarker auch ein recht klar umrissener Gegenstandsbereich, der sich gut eignet, um das Strukturprinzip der Zeitlichkeit von gesprochener Sprache in dezidiert linguistischen Seminaren (oder eventuell sehr fortge- schrittenen Sprachkursen) zu thematisieren und mithin die Reflexion über und den analytischen Zugang zu Sprache im Gebrauch.


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        12 Vgl. für Analysen zu Diskursmarkern im Deutschen die Beiträge in Blühdorn et al. (2017).


        Tatsächlich gibt es auch bereits Lehreinheiten zu Diskursmarkern, die zum Ein- satz im DaF-Unterricht bereitstehen: Moraldo (2013) hat spezifisch für den uni- versitären DaF-Unterricht eine Unterrichtseinheit zum Diskursmarker obwohl mit Verbzweitstellung entwickelt.13 Die gesprächsorganisatorische Funktion des Dis- kursmarkers und thematisiert eine Lehreinheit von Bahlo et al. (2017),14 die sich an 12-14-jährige LernerInnen des Unterrichts Deutsch als Erstsprache richtet (im Bereich Sprachreflexion), jedoch auch für den DaF-Unterricht nutzbar ist.

        Der folgende Ausschnitt entstammt einer Lehreinheit von der Plattform Gesproche- nes Deutsch, in der es um die Funktionen des Diskursmarkers ey in der Interaktion geht.15 Das Lernziel der Einheit besteht vor allem im Erschließen der Funktionen eines Diskursmarkers und spezifisch in einer Sensibilisierung für ey als vornehm- lich jugendsprachliches Phänomen (und kann somit auch problemlos im sprach- praktisch ausgerichteten Unterricht eingesetzt werden, wenn man nicht den Auf- bauschritt der Reflexion des Strukturprinzips der Zeitlichkeit beabsichtigt). Die Lernprogression der Einheit verläuft von Hörübungen, über Single-Choice-Aufga- ben, Infokästen zum Phänomen und Transkriptarbeit im Plenum bis hin zu Übun- gen für alternative Formulierungsweisen.


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        13 Für eine weitere Didaktisierung von Adverbialsätzen mit Verbzweitstellung am Beispiel von obwohl siehe auch Weidner (2018).

        14 In Imo & Moraldo (2015) finden sich weitere Didaktisierungsvorschläge zur Vermitt- lung von Diskursmarkern im DaF-Unterricht.

        15 Die Lehreinheit ist herunterladbar von der Plattform Gesprochenes Deutsch: https:// dafdaz.sprache-interaktion.de/lerneinheiten/.


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        Abbildung 3: Lehreinheit zum Diskursmarker ey, Plattform Gesprochenes Deutsch


        Da nicht die ganze Einheit abgedruckt werden kann, stellt die Übung (vgl. Abbil- dung 3) nur einen Ausschnitt dar, der exemplarisch zeigt, wie man anhand von authentischen Gesprächsdaten Übungen zum Erkennen der Funktionen von Dis- kursmarkern in den Unterricht integrieren kann. Nachdem der Gesprächsaus- schnitt mehrfach vorgespielt und das Transkript gelesen wurde, wird Aufgabe 2) zu möglichen Funktionen von ey bearbeitet.

        Mit dem Blick auf Zeitlichkeit kann mit den Lernenden erarbeitet werden, dass ey im vorliegenden Ausschnitt in Zeile 03 als Adressierungsverfahren dient, das dem Sprecher die Aufmerksamkeit der HörerInnen für die folgende längere Dis- kurseinheit sichert. Mit ey wird hier eine narrative Sequenz eingeleitet. In der Lehreinheit folgt sodann ein Infokasten, der die Funktionen des Diskursmarkers erläutert sowie seine Angemessenheit in verschiedenen Interaktionskontexten diskutiert. In fortgeschrittenen DaF-Seminaren, in denen es nicht nur um die Vermittlung der Zielsprache, sondern vor allem um Sprachreflexion bzw. um die linguistisch fundierte Analyse von Sprache geht, kann im Anschluss an die Erarbeitung der formalen und funktionalen Merkmale von Diskursmarkern mit- tels der Lehreinheit in einem weiteren Schritt das Strukturprinzip der Zeitlich- keit, das in den Diskursmarkern beispielhaft zum Ausdruck kommt, auf einer höheren Abstraktionsebene thematisiert werden. Wenn die Lehrkraft die Stu- dierenden mit weiteren zeitlichkeitsinduzierten Phänomenen – etwa auf Basis der Lektüre von Imo & Lanwer (2019) – vertraut gemacht hat, kann sich eine Belegrecherche der Studierenden in den genannten Datenbanken anschließen. Anhand der gefundenen Belege für Diskursmarker, Projektorkonstruktionen etc. können so interaktionallinguistische Analysen im Unterricht durchgeführt werden.


    2. Sequenzialität

      Die Funktion von sprachlichen Einheiten in der Interaktion hängt wesentlich davon ab, an welcher Stelle im Gespräch – an welcher sequenziellen Position – sie auftreten. Beispielhaft kann dies an authentischen Gesprächsausschnitten gezeigt werden, die Imo (2017: 47) analysiert. Die Funktion der Partikel „nein“ unterscheidet sich, je nachdem in welchem sequenziellen Kontext sie auftritt:

      a.

      1. M WOHNT ihr in einer stAdt?

      2. A ehm nein (.) also wir wohnen aufm LAND und eh-

      b.


      110

      F

      und ich habe geWONnen,

      111


      ACHtung,

      112


      EINS (.) komma drEI milliOnen euro.

      113

      M

      <nei::n <flüsternd>>

      c.

      24


      M


      WE:R (.) weiß davon.

      25


      (2.0)

      26

      A

      KEIner.

      27

      M

      KEI:N mEnsch wEIß dAs?

      28

      A

      <<lachend> nein.>


      In Beispiel a. wird „nein“ reaktiv von einem Sprecher geäußert, der es in seiner prototypischen Funktion als Antwortpartikel einsetzt, um eine im Frageformat geäußerte Proposition zu negieren (vgl. Imo 2017: 46). In Sequenz b. tritt „nein“ zwar auch in der sequenziellen Position eines zweiten Paarteils einer Paarse- quenz auf, jedoch wird es hier verwendet, um eine überraschende Information entgegenzunehmen und zu bewerten. In Beispiel c. hingegen fungiert „nein“ als affiliierendes Responsiv. Das heißt, einer negierten Aussage wird mittels ei- nes negierten Responsivs zugestimmt.16

      An der Kontrastierung der Beispiele wird deutlich, dass die Bedeutung einer sprachlichen Einheit stark davon abhängt, welche vorausgehende Handlung


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      16 Imo (2017) diskutiert weitere Funktionen von „nein“ in verschiedenen sequenziellen Kontexten.


      durchgeführt wurde, da diese eine bestimmte Interpretation der nachfolgen- den Handlung erwartbar macht. Auf der Basis konversationsanalytischer Kon- zepte hat sich die Interaktionale Linguistik mit sequenziellen Strukturen von recht unterschiedlicher Komplexität beschäftigt.17 Ähnlich wie bei Imo (2017) zu „nein“ liegen zahlreiche Studien zur sequenziellen Positionierung spezifi- scher Ausdrücke vor. Weitere, auf sequenziellen Strukturen basierende Unter- suchungsgegenstände, die jenseits der Wortebene liegen und einen abstrakte- ren Zugang zur Sequenzialität als Strukturprinzip eröffnen, sind etwa der Sprecherwechsel, 18 das Reparatursystem, sowie auch größere sequenzielle Formate, wie Gesprächseinstiege und -ausstiege oder komplexe kommunika- tive Gattungen.

      Zum Thema Gesprächsein- und -ausstiege befinden sich auf der Plattform Ge- sprochenes Deutsch sowohl eine E-Learning-Sequenz (https://dafdaz.sprache- interaktion.de/eLearning/) als auch eine Ready-to-use-Lehreinheit (https://daf daz.sprache-interaktion.de/lerneinheiten/) zum Einsatz im DaF-Unterricht.19 Die E-Learning-Einheit eignet sich zum Selbststudium und bietet somit auch LernerInnen, die keine Anbindung an eine Lehrinstitution haben, die Gelegen- heit, sich in interaktionalen Strukturen und mit Gesprächseinstiegs- und -aus- stiegsformulierungen in verschiedenen Gesprächssituationen einzuarbeiten, sowie sich darüber hinaus auch erste interaktionallinguistische Konzepte zu erschließen. So führt die E-Learning-Einheit die Begrifflichkeit „Paarsequenz“ ein, erläutert das Konzept jedoch in einem nicht-wissenschaftlichen Stil mit einfachen Worten, sodass es auch von „Selbst“-LernerInnen ohne sprachwis- senschaftlich ausgebildete Kursleitung gut verstanden werden kann.

      Die Ready-to-use-Lehreinheit kann als PDF-Dokument von der Homepage her- untergeladen werden und von DaF-Lehrkräften je nach Lernstandsniveau und Lernziel der Seminargruppe entweder dazu genutzt werden, die Lernenden in


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      17 Die Lehrerfahrung aus Seminaren zur Interaktionalen Linguistik zeigt, dass sich als knappe Einführung in die sequenzielle Organisation von Gesprächen auch Stukenbrock (2013) eignet.

      18 Zum Sprecherwechsel findet sich auf der Projekthomepage Gesprochenes Deutsch für die Auslandsgermanistik unter https://daad-gda.sprache-interaktion.de/ eine Informations- einheit, die in einfachen Worten Hintergrundinformationen zum System des Sprecher- wechsels gibt und für den Einsatz im DaF-Unterricht bereitsteht.

      19 Zudem bietet Sieberg (2013) in den Kapiteln 1) und 21) Übungen zum Begrüßen und Verabschieden sowie spezifische „Tricks“ für DaF-Lernende zur Gesprächseröffnung und -beendigung am Telefon, die sich als Ausgangspunkt für die Arbeit mit authenti- schen Gesprächsdaten aus der Datenbank eignen.


      die Lage zu versetzen, in unterschiedlichen (formellen vs. informellen, institu- tionell eingebetteten vs. privaten) Gesprächen situationsadäquat Dialoge zu beginnen und zu beenden.

      In dezidiert fachwissenschaftlichen Lehrkontexten kann sie darüber hinaus auch als Vehikel genutzt werden, um am Beispiel von Gesprächseinstiegen und

      -ausstiegen 20 die Sequenzialität als Strukturprinzip interaktionaler Sprache aus interaktionallinguistischer Sicht zu thematisieren: So führt die Einheit, für die ein Zeitumfang von drei Unterrichtsstunden veranschlagt ist, zunächst in das Konzept der Paarsequenzen ein und beschreibt die unterschiedlichen Strukturmerkmale, die Gesprächseröffnungen in formellen im Gegensatz zu informellen Gesprächen aufweisen. Daran anschließend arbeitet die Lehrein- heit mit authentischen Gesprächen aus der Datenbank der Plattform. Dabei geht es zunächst darum, deren Inhalt zu erfassen, weshalb sie den Studieren- den als Hördialoge vorgespielt werden. Nach der Klärung unbekannter Wörter oder unverständlicher Passagen wird auf Basis des Transkripts im Kurs disku- tiert, um welche Interaktionssituation es sich handelt, und die Gesprächsein- und -ausstiege farblich markiert. Aus Platzgründen kann hier nur das Tran- skript eines Gesprächs abgedruckt werden:

      Transkript #910


      01

      SL:

      GUten abend;

      02

      CR:

      abend;

      03


      (10.62) ((Waren werden auf das Fließband gelegt))

      04

      CR:

      und den PFANDzettel;

      05

      SL:

      hm DANke,

      06

      SL:

      den KORB (.) der kann nach da hinten,

      07

      CR:

      okee.

      08


      (6.71)

      09

      SL:

      ich EINmal bitte den ausweis sehen,

      10

      CR:

      hm_HM,

      11


      (7.15)

      12

      CR:

      BITte schön.

      13

      SL:

      DANke schön.

      14


      (16.96)


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      20 Siehe auch Kapitel 2 in Birkner et al. (2020) zu Anfang und Ende fokussierter Interaktion.


      15

      SL:

      DREIzehn euro dreiundsechzich macht das bitte;

      16

      SL:

      haben sie ne PAYback karte?

      17

      CR:

      nee-

      18


      (2.14)

      19

      SL:

      hm DANke schön,

      20


      (10.36)

      21

      SL:

      (sechs)unddreißich euro und sieben_n_dreißich cent zuRÜCK,

      22

      SL:

      den beLEG?

      23

      CR:

      ja BITte.

      24

      CR:

      DANke schön.

      25

      SL:

      schönen ABEND noch.

      26

      CR:

      ja EBENso.


      Da verschiedene Interaktionssituationen einander gegenübergestellt werden, erkennen die Lernenden nicht nur die sprachlichen Unterschiede zwischen for- mellen und informellen Ein- und Ausstiegen, sondern sie identifizieren auch die einzelnen Sequenzbestandteile (bspw. bei Beendigungen: Welche/r SprecherIn initiiert den Abschluss des Gesprächs, an welcher sequenziellen Position und in welcher Gesprächsgattung werden Wünsche ausgetauscht, finden sich Verab- schiedungsfloskeln und welche etc.?). So wird den Lernenden nicht nur Wissen um sequenzielle Strukturen vermittelt, sondern sie lernen auch situationsadä- quate Redemittel für Gesprächseröffnungen und -beendigungen in alltäglichen Verkaufssituationen, Beratungssituationen etc. kennen sowie Unterschiede im Register, im Nähe-Distanz-Kontinuum und auf der Höflichkeitsskala.

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      Abbildung 4: Lehreinheit zu Gesprächseinstiegen und -ausstiegen, Plattform Gesprochenes Deutsch


      In einer späteren Übung werden die Lernenden aufgefordert, selbst einen Dia- log für ein ihnen vorgegebenes Szenario zu entwerfen und aufzuführen. Die letzte Übung besteht darin, für ein Gesprächsfragment, das auch angehört wer- den kann, einen situationsangemessenen Gesprächsein- und -ausstieg selbst zu formulieren, um so das erworbene Wissen zur sequenziellen Organisation selbst anzuwenden (vgl. Abbildung 4).

      Neben dieser Lehreinheit finden sich auf der Plattform Gesprochenes Deutsch auch weitere Einheiten, die dazu geeignet sind, um Sequenzialität zum Seminarthema zu machen. So stehen etwa Lehreinheiten zu „Bezahlvorgängen“, „Verabredun- gen treffen“ oder „Wegbeschreibungen“ bereit, um anhand großformatigerer kommunikativer Gattungen21 die sequenzielle Organisation unter interaktional- linguistischer Perspektive im Unterricht zu thematisieren.22

      Diese Lehreinheiten bieten aus fachwissenschaftlicher Perspektive u.a. das Po- tenzial, die dichte Strukturierung der Gespräche in Paarsequenzen (siehe etwa das Einkaufsgespräch oben) sowie ihre Präferenzorganisation (vgl. hierzu u.a. Stukenbrock 2013) zu beleuchten. Formelhaft verfestigte sequenzielle Muster samt ihren prosodischen und syntaktischen Spezifika können herausgearbeitet werden und nach ihrer Funktion in der Sequenz befragt werden. Unter Rückgriff auf das Konzept der Kommunikativen Gattungen (vgl. u.a. Luckmann 1986) kön- nen die Gesprächsausschnitte auch als Grundlage dafür dienen, verschiedene Gattungen institutioneller Service- oder Beratungssituationen hinsichtlich ih- rer sequenziellen Organisation, der durchzuführenden Handlungen und ihrer sprachlichen Ausgestaltung miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise kön- nen die Studierenden exemplarisch an konkreten Beispielen die Kategorien und Methoden interaktionallinguistischen Arbeitens einüben sowie darüber hinaus


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      21 Siehe bspw. auch die Didaktisierungsvorschläge zur kommunikativen Gattung der Stadtführung unter DaF-Perspektive von Costa (2015, 2021).

      22 Eine besonders interessante – und aus Platzgründen leider im vorliegenden Beitrag ver- nachlässigte – Perspektive unter Gesichtspunkten der Sequenzialität (sowie auch unter Zeitlichkeitsgesichtspunkten) bietet der Vergleich mit medial schriftlichen Interaktio- nen, wie sie in der MoCoDa2 in Form von WhatsApp-Kommunikation vorliegen. Da die Kommunikationsbedingungen hier enorme Auswirkungen auf die sequenzielle Struktur der Interaktion und somit auf Sequenzialität als interaktionsstrukturierendem Prinzip haben, liegt in einem solchen Vergleich großes Reflexionspotenzial. Er sollte jedoch in Seminaren erst durchgeführt werden, wenn ein sicheres sequenzanalytisches Arbeiten vorausgesetzt werden kann.


      auch Verbindungen zu anderen Ansätzen (wie dem Gattungskonzept) ziehen, die sich als Analysezugang zu interaktionaler Sprache eignen.

  4. Fazit

    Aus Platzgründen konnten nur zwei typische interaktionallinguistische Gegen- standsbereiche angeschnitten werden. Ähnlich kann etwa für die Bereiche Pro- sodie der interaktionalen Sprache, Multimodalität, Varietäten, interaktionale Schriftlichkeit etc. verfahren werden. Auch hier kann Imo & Lanwer (2019) als sprachwissenschaftliche Basislektüre dienen und mithilfe von Lehreinheiten (noch stehen nicht zu allen Bereichen Einheiten zur Verfügung, sie werden je- doch stetig ausgebaut) können einzelne Phänomene in den Blick genommen werden, die als Schlüssel zu einem reflektierten Umgang mit interaktionaler Sprache im universitären DaF-Unterricht dienen können.

    Dieser Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, exemplarisch zu zeigen, wie die vor- handenen Ressourcen – nämlich eine für AuslandgermanistInnen gut geeig- nete, wissenschaftliche Einführung in die Interaktionale Linguistik, vorhan- dene Interaktionsdaten in kostenlosen und nutzerfreundlich aufgebauten Da- tenbanken sowie leicht zugängliche Lehreinheiten – in ihrem Zusammenspiel genutzt werden können, um interaktionallinguistische Konzepte und ihre kon- kreten Ausprägungen in Gesprächen in den DaF-Unterricht zu integrieren.

    Wie deutlich wurde, können die Interaktionsdaten und Lehreinheiten auch ‚le- diglich‘ zur Vermittlung von Interaktionskompetenz in der Zielsprache Deutsch genutzt werden, ohne dass die Lernenden an eine interaktionallinguistische Analyse herangeführt werden. Die Sichtung aktueller DaF-Lehrwerke hat ge- zeigt, dass diese das Thema ‚gesprochensprachliche Phänomene‘ zwar erkannt, jedoch nicht systematisch aufgearbeitet haben. Führt man die Lernenden an die dahinterliegenden Strukturprinzipien interaktionaler Sprache heran, kann eine solche Systematisierung geleistet werden. Das Potenzial, das sich also aus der abgestimmten Nutzung eines wissenschaftlichen Einführungswerks in die IL, der Datenbanken sowie der Lehreinheiten23 als konkrete Didaktisierungshilfen


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    23 Hier sind sowohl die Lehreinheiten gemeint, die auf der Plattform Gesprochenes Deutsch zur Verfügung stehen, als auch diejenigen, die in den o.g. Sammelbänden zur Didaktisie- rung gesprochener Sprache im DaF-Unterricht vorhanden sind, hier vor allem Günthner et al. (2021), Imo & Moraldo (2015), Moraldo & Missaglia (2013), Sieberg (2013).


    bietet, besteht in der langjährig geforderten Vernetzung von sprachwissen- schaftlicher Forschung, linguistisch fundierter DaF-Didaktik sowie Sprachunter- richt, die auf diesem Wege ein Stück weiter vorangebracht werden kann.

  5. Literatur

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Nathalie Bauer | Isabella Buck

nur dass sie_s WISsen;

Zum sprechhandlungsbezogenen Gebrauch einer Finalkonstruktion

Zusammenfassung: Sprechhandlungsbezogene Finalkonstruktionen wie nur dass Sie wissen stellen Lerner:innen vor eine Herausforderung, da sie – anders als die aus Lernergrammati- ken bekannten Finalsätze – ohne Matrixsatz auftreten. Wie der vorliegende Beitrag aufzeigt, erweist sich die linguistische Auseinandersetzung mit dieser Konstruktion als interessant für den Kontext DaF: Anhand detaillierter sequenzanalytischer Betrachtungen des interak- tiven Gebrauchs dieser Finalkonstruktionen in einem Korpus von Arzt-Patienten-Gesprä- chen aus dem Krankenhaus wird argumentiert, dass diese keineswegs als ‚deviant‘ abzuwer- ten sind. Ärzt:innen können durch die Verwendung dieser Konstruktion die Situationsrele- vanz einer angeführten Information insofern modalisieren, als sie den Patient:innen hiermit signalisieren, dass die vermittelten Wissensbestände – wenn überhaupt – erst zu einem noch unbestimmten künftigen Zeitpunkt von Bedeutung sind. Somit stellen die Finalkonstrukti- onen eine hochfunktionale Ressource für das interaktive Wissensmanagement der Ärzt:in- nen dar. Insgesamt setzt sich der Beitrag zum Ziel, die Relevanz kontextueller Faktoren für den Gebrauch sowie die Interpretation sprachlicher Formate zu demonstrieren und so für ein sprachgebrauchsbasiertes Germanistikstudium im Ausland zu sensibilisieren.

Abstract: Final constructions with reference to speech acts such as nur dass Sie wissen con- front learners with a challenge, since they occur without matrix clauses and thus differ from syntactic structures commonly presented in grammars. However, these constructions prove to be an interesting subject for German as a foreign language. On the basis of detailed se- quential analyses of these final constructions without matrix clauses in doctor-patient in- teractions, it is argued that they are by no means to be devalued as ‚incomplete‘. Rather, they represent a highly functional resource for the management of knowledge in interac- tion by modalizing the situational relevance of a given piece of information. Against this backdrop, the aim of this article is to demonstrate the relevance of contextual factors for the use and interpretation of linguistic formats, and to raise awareness of the relevance of considering syntactic structures from spoken German in language teaching.


  1. Einleitung

    Zur Darstellung des Zwecks oder Ziels einer Handlung steht im Deutschen ein breites Formenspektrum zur Verfügung: Sogenannte „Finalangaben“ (Duden 2009: 784) können beispielsweise mittels einer Präpositionalphrase (etwa zwecks + nominalisiertes Handlungsverb), einer Infinitivkonstruktion mit um … zu oder eines finalen Adverbs wie dafür ausgedrückt werden (Zifonun et al. 1997: 829f.). Eine weitere Möglichkeit zur Realisierung solcher Finalangaben, die im Fokus dieses Aufsatzes stehen soll, stellen Nebensätze dar, die durch Subjunktionen wie damit oder dass eingeleitet werden. Diese Subjunktionen gehören der Klasse der Finalkonnektoren und damit dem „Standard-Grundbestand der traditionel- len semantischen Konnektoren-Klassifikationen“ (Breindl et al. 2014: 1013) an. So werden sie auch im Kontext der Differenzierung adverbialer Nebensätze in Grammatikeinführungen bzw. Lernergrammatiken fast immer, wenn zumeist auch kursorisch, abgehandelt. Die durch diese Konnektoren eingeleiteten Fi- nalsätze werden dabei als prototypische adverbiale Nebensätze thematisiert, die einem, zumeist vorangehenden, Matrixsatz untergeordnet sind (Helbig & Buscha 2013: 612; vgl. auch Imo 2016: 165; Hoffmann 2013: 365). Weitergehend werden sie in Grammatiken des Deutschen als nicht propositionsmodifizierend beschrieben, ihre Funktion besteht vielmehr darin, einen im Matrixsatz darge- stellten Sachverhaltsentwurf in Bezug auf dessen Ziel bzw. Zweck zu spezifizie- ren (Zifonun et al. 1997: 602; Breindl et al. 2014: 1025). Die semantische Relation solcher durch diese und ähnliche Finalkonnektoren verbundenen Haupt- und Nebensätze kann folglich so zusammengefasst werden, dass der Nebensatz den Zweck, der Hauptsatz das Mittel angibt (Eisenberg 2013: 332).

    Betrachtet man Finalsätze im gesprochenen Deutsch, fällt auf, dass Spre- cher:innen diese mitunter anders verwenden als in den Grammatiken be- schrieben, nämlich alleinstehend, d.h. ohne einen übergeordneten Matrixsatz. In einem Korpus medizinischer Gespräche konnte zudem beobachtet werden, dass diese in ganz bestimmten interaktiven Kontexten eingesetzt werden (vgl. Bauer & Buck 2021). In dem vorliegenden Aufsatz soll der Frage nachgegangen werden, welche Funktionen sie dabei erfüllen, wo sie sich doch auf kein Hand-


    lungsverb aus einem Matrixsatz beziehen können. Die beobachteten Verwen- dungsformen matrixsatzloser Finalsätze werden als Finalkonstruktionen1 ana- lysiert, da sie in Kombination mit der Abtönungspartikel nur (Zifonun et al. 1997: 1216ff.) sowie bestimmten Verbalphrasen auftreten, die entweder kogni- tive oder emotive Vorgänge und Zustände bezeichnen. In dieser Form erfüllen sie ganz spezifische interaktionale Funktionen – ohne jedoch ihre finale Seman- tik zu verlieren.

    Diese Finalkonstruktion stellt sich somit gleich in mehrfacher Hinsicht als ein interessanter Gegenstand für die Auslandsgermanistik dar: Zunächst fungiert sie als ein weiteres Beispiel dafür, dass sich von Sprecher:innen verwendete, auf den ersten Blick ‚ungrammatisch‘ erscheinende Strukturen bei systemati- scher Betrachtung als Konstruktionen mit spezifischem Form- und Funktions- spektrum erweisen können. Durch die bestehende funktionale Nähe zu den in den Lernergrammatiken beschriebenen syntaktisch ‚vollständigen‘ Finalgefü- gen erweist sich die vorliegend betrachtete matrixsatzlose Finalkonstruktion darüber hinaus insofern als besonders geeignet, als sie gewissermaßen an einer

    ‚Scharnierstelle‘ im Rahmen der linguistischen Auseinandersetzung mit der Fremdsprache Deutsch an der Hochschule angesiedelt ist: So knüpft ihre Ana- lyse einerseits an die bereits aus dem Sprachunterricht bekannte funktional- grammatische Kategorie der Finalität an; andererseits können zugleich auch weiterführende linguistische Konzepte zur funktionalen Beschreibung sprach- licher Formen, wie beispielsweise das Management von Wissen in der Interak- tion oder die Gattungsspezifik einer Konstruktion, im Kontext ihrer Diskussion im Seminar eingeführt und veranschaulicht werden.


    image

    1 In Anlehnung an ein gebrauchsbasiert-konstruktionsgrammatisches Verständnis von Konstruktionen als musterhaften Verfestigungen (Günthner 2011; Imo 2015) wird hier und im Folgenden mit dem Begriff Konstruktion auf rekurrent auftretende Form-Funk- tions-Paare referiert, die Interagierende für spezifische kommunikative Handlungen nutzen und die nicht-kompositional sind. Dies bedeutet folglich, dass „some aspect of the form or some aspect of the meaning/use is not strictly predictable from the com- ponent parts“ (Goldberg 1996: 68f.).


  2. Zum Gegenstandsbereich

    Das folgende Beispiel zeigt zunächst exemplarisch eine in den Grammatiken als prototypisch beschriebene Verwendung eines finalen, mit dass eingeleite- ten Nebensatzes im gesprochenen Deutsch, der als Kontrastfolie für die vorlie- gend näher zu beschreibende Konstruktion fungieren soll:

    Beispiel 1 (lAuDa_2013)2

    001 SA: naJA;=

    002 =aber ich mein jetzt am WOchenende da muss man schOn mal_n bisschen AUsschla[fen,]

    1. JA: [ja; ]

    2. SA: ja ich mach ja immer so_n RITZ in die rOllo; 005 °hh dass ich dann AUF:(.)wache eher;

    1. JA: ach SO:,

    2. [JA ja; ]

    3. → SA: [also dAss ich] dann überHAUPT äh aufwache,(-) 009 JA: ja;

    In diesem Ausschnitt unterhalten sich zwei Freundinnen über ihre Schlafge- wohnheiten. Unmittelbar vor diesem Auszug konstatiert Sprecherin JA, man solle nach dem Wachwerden direkt aufstehen, um fit in den Tag zu starten. Mittels der resümierenden und zugleich Skepsis markierenden Antwortparti- kel „naJA“ in Z. 001 (vgl. Golato 2018) sowie des adversativen Konnektors

    „aber“ (Z.002) projiziert SA den Anschluss eines inhaltlich nur eingeschränkt mit dem Vorgängerturn konvergenten und „problematisierenden, […] durch Aspektverschiebung überholenden“ Beitrags (Zifonun et al. 1997: 376). Trotz dieser Gegenpositionierung pflichtet JA ihr unmittelbar mit einem überlap- penden und die Sequenz zugleich schließenden „ja;“ (Z. 003) bei. SA erklärt so- dann eine weitere ihrer Schlafgewohnheiten, die Jalousien nicht ganz zu schließen (Z. 004). In der folgenden Intonationsphrase expandiert sie diese Darstellung um einen mit der Subjunktion dass eingeleiteten Finalnebensatz:

    „dass ich dann AUF:(.)wache eher;“ (Z.005). Dessen Inhalt wird in Z. 008, einge-


    image

    2 Bei der lAuDa handelt es sich um die Linguistische Audiodatenbank des Germanisti- schen Instituts der Universität Münster, die unter der Leitung von Susanne Günthner aufgebaut wurde (https://lauda-ms.lingdata.de/?s=11).


    leitet durch den Reformulierungsmarker „also“ (Blühdorn et al. 2017: 24), mit- tels einer weiteren Finalkonstruktion präzisiert: „dass ich dann überHAUPT äh aufwache“. JA dokumentiert ihr Verstehen bezüglich der Ausführungen ihrer Freundin durch verschiedene Antwortpartikeln und Erkenntnisprozessmarker (Z. 006, 007, 010).

    Die semantische Relation der beiden mit der subordinierenden Konjunktion dass eingeleiteten Nebensätze zum Matrixsatz in Z. 004 ist insofern als final zu charakterisieren, als die beiden dass-Sätze das Ziel angeben, auf das die im Ver- balkomplex des übergeordneten Satzes bezeichnete Tätigkeit („Ritzen in die Rollos machen“) ausgerichtet ist (vgl. Dürscheid 2010: 60): Zum Zweck des (bes- seren) Aufwachens werden die Jalousien nicht ganz geschlossen. Die finale An- gabe kann folglich mit der Beantwortung von Fragen wie Wozu/Wofür/Zu wel- chem Zweck? oder auch In welcher Absicht? (vgl. Duden-Grammatik 2009: 785) pa- raphrasiert werden.3

    Betrachtet man solche Finalsätze nun in dem spezifischen institutionellen In- teraktionskontext Krankenhaus fällt auf, dass der Bezugspunkt dieses Wozu? jedoch nicht immer eine durch ein Matrixsatzverb ausgedrückte Handlung darstellen muss. Ein Beispiel hierfür findet sich im folgenden Gesprächsaus- schnitt aus einer Arzt-Patienten-Interaktion, in der die Ärztin (ARw) ihrer Pa- tientin (PAw) und deren Angehöriger (ANw) erklärt, dass Erstere für die nächs- ten Tage ein neues Medikament in Form von Tröpfchen bekommen soll:

    Beispiel 2 (Palliativ_06_02_A_20180627)4


    157

    ARw:

    un:d-

    158


    ich HAB-

    159


    äh:-

    160


    die frau doktor hÜbner gebeten dass sie ihnen



    image

    3 Wie Zifonun et al. (1997: 2318) konstatieren, muss Finalität jedoch nicht „[…] immer direkte Handlungsfinalität sein“, d.h. nicht immer enthält der Matrixsatz ein Hand- lungsverb. Als Beispiel wäre ein Satz wie „Der Schlüssel liegt auf der Kommode, damit ich ihn nicht vergesse.“ zu nennen. In einem solchen Zusammenhang sei anzunehmen,

    „daß der bezeichnete Vorgang, Zustand usw. aufgrund einer Handlung zustande ge- kommen ist, deren – indirekter – Zweck eben der vom Nebensatz bezeichnete Sachver- halt ist.“ (Zifonun et al. 1997: 2318; vgl. auch Breindl et al. 2014: 1025).

    4 Die Daten stammen aus dem Forschungsprojekt „Kommunikation in der Palliativmedi- zin: Pflegerisches und ärztliches Sprechen mit PalliativpatientInnen“ (s. Abschnitt 4). Sie sind nicht frei zugänglich.


    auch nochmal TRÖPFchen auf[schreibt,]

    1. PAw: [hm HM, ]

    2. ARw: °h ich (.) geh davon aus die werden se nur n_paar tAge BRAUchen.

    3. PAw: hm_HM, (-)

    4. → ARw: nur dass sie sich nich wUndern weil was NEU isch; (--)

    5. PAw: ich WUNder mich nich;

    6. ANw: <<lachend> aHA,>

    7. ARw: (.) ja ich erKLÄR_S ihnen nur;


    Zu Beginn dieses Ausschnitts erklärt die Ärztin ihrer Patientin nach mehreren Neuansätzen (Z. 157–159) die neue Medikation, die ihr die diensthabende Sta- tionsärztin, Frau Dr. Hübner, aufschreiben soll. Nachdem die Patientin diese Information mit einem überlappenden „hm_HM,“ (Z. 161) quittiert, führt die Ärztin fort, dass die Tröpfchen nicht lange eingenommen werden müssen, wo- bei sie diese Einschätzung durch das vorangestellte epistemische Verb „ausge- hen“ als eine persönliche rahmt und somit in ihrer Gültigkeit beschränkt. Die Patientin reagiert abermals mit einem Rückmeldesignal (Z. 163). Daraufhin äu- ßert die Ärztin einen durch die Abtönungspartikel nur eingeleiteten dass-Satz:

    „nur dass sie sich nich wUndern weil was NEU isch;“ (Z. 164). Wenngleich die- ses Beispiel dem ersten in seiner finalen Lesart zunächst recht ähnlich er- scheint, lässt sich ein gewichtiger Unterschied beobachten: Der Finalsatz ist hier keinem Matrixsatz untergeordnet, sondern steht allein. Dabei weist er zwar auch eine finale Semantik auf – doch betrifft das angegebene Ziel, einer möglichen späteren Verwunderung der Patientin vorzubeugen, vorliegend nicht eine in einem vorherigen Matrixsatz explizierte Tätigkeit, sondern viel- mehr das Tätigen der Äußerung selbst: Der Finalsatz bezieht sich auf die Äuße- rung der Information, die sprachliche Handlung des Informierens an sich. Er ließe sich also wie folgt durch die Ergänzung um einen Matrixsatz mit verbum dicendi paraphrasieren: „Ich sage Ihnen das, dass bzw. damit Sie sich nicht wun- dern, weil was neu ist.“ Daher kann er als sprechhandlungsbezogen5 charakte- risiert werden.



    image

    5 Dieser Terminus wurde in Analogie zum Begriff der sprechaktbezogenen weil-Sätze gewählt (Günthner 1993: 40ff.).


    Auch Zifonun et al. (1997: 833) beobachten solche Vorkommen von Finalsätzen, die keine Proposition modifizieren, gehen auf deren funktionale und sequen- zielle Spezifik jedoch nicht weiter ein. Die Frage, die sich unmittelbar an diese Beobachtung anschließt, ist aber: Wozu und in welchen Kontexten gebrauchen Sprecher:innen des Deutschen überhaupt diese zunächst doch recht seltsam anmutende matrixsatzlose Finalkonstruktion? In welchen Zusammenhängen ist es für sie relevant, den Zweck, das Ziel oder, anders formuliert, das Wozu ihres sprachlichen Handelns durch solche sprechhandlungsbezogenen Final- konstruktionen zu explizieren? Diese Fragen stehen im Fokus des vorliegenden Aufsatzes, dessen Ziel es ist, die Relevanz kontextueller Faktoren für den Ge- brauch sowie die Interpretation sprachlicher Formen aufzuzeigen und so für einen sprachgebrauchsbasierten Ansatz in der Auslandsgermanistik zu sensi- bilisieren. Hierfür werden die Verwendungsweisen der soeben thematisierten, zunächst ‚regelwidrig‘ erscheinenden Finalkonstruktionen in Krankenhausin- teraktionen rekonstruiert.

    Dazu werden Gespräche, die in der Onkologie und der Palliativmedizin geführt wurden, gesprächsanalytisch untersucht. Auf den Kontext dieser Gespräche wird in Abschnitt 4 eingegangen, nachdem zuvor eine Abgrenzung der sprech- handlungsbezogenen Finalkonstruktionen mit dass von bisherigen grammati- schen Beschreibungen (insubordinierter) dass-Sätze vorgenommen wurde (Ab- schnitt 3.1). Im Anschluss an eine kurze Reflexion des für die funktionale Be- schreibung der vorliegenden Konstruktion zentralen Aspekts des interaktio- nalen Wissensmanagements (Abschnitt 3.2) werden zwei prototypische Ver- wendungen der Konstruktion in den vorliegenden Daten anhand der sequenz- analytischen Rekonstruktion von zwei weiteren Beispielausschnitten exemp- larisch aufgezeigt (Abschnitt 5). Im Fazit sollen die Ergebnisse der Untersu- chung schließlich zusammengeführt und im Hinblick auf ihre Relevanz und Umsetzung für das Germanistikstudium im Ausland reflektiert werden (Ab- schnitt 6).

  3. Forschungsstand

    Nachdem der Gegenstandsbereich dieses Beitrags in der Einleitung bereits grob skizziert und auf die wesentlichen Merkmale der hier betrachteten sprechhandlungsbezogenen Finalkonstruktion eingegangen wurde, gibt der folgende Forschungsstand zunächst einen Überblick über bisherige Arbeiten


    zu freistehenden bzw. pseudo-eingebetteten dass-Konstruktionen (Abschnitt 2.1). Da die Finalkonstruktion in diesem Beitrag hinsichtlich ihrer pragmati- schen Funktion beschrieben wird, Patient:innen Wissensangebote für mögli- che Zukunftsszenarien zu unterbreiten, wird in einem zweiten Teil (Abschnitt 2.2) außerdem das zugrunde gelegte Verständnis von Wissen in der Interaktion expliziert.

      1. Freistehende und pseudo-eingebettete dass-Konstruktionen

        Die hier im Zentrum des Interesses stehenden Finalkonstruktionen mit dass wei- sen auf den ersten Blick Ähnlichkeiten zu solchen alleinstehenden dass-Sätzen auf, die bereits als „isolierte“ (Buscha 1976: 274) oder „unintegrierte“ bzw. „freie“ Nebensätze (Reis 1997: 135) beschrieben worden sind. Diese zeichnen sich neben ihrer syntaktischen Unabhängigkeit auch auf der semantisch-pragmatischen Ebene insofern durch Selbstständigkeit aus, als die in ihnen enthaltene Proposi- tion unabhängig von einem anderen Syntagma assertierbar ist (Oppenrieder 1991: 177). Diesen alleinstehenden dass-Syntagmen wird ein autarkes seman- tisch-pragmatisches Funktionsspektrum zugestanden, das Sprechhandlungen wie Exklamativ- („Dass auch immer montags alles schiefläuft“), Wunsch- („Dass bloß morgen die Sonne scheinen möge“) und Imperativsätze („Dass Du ja pünkt- lich kommst“) umfasst (Altmann 1987: 36ff.). Dass die Gebrauchsweisen solcher isolierten dass-Konstruktionen jedoch weit über diesen eng gefassten, zudem al- lein anhand von (konstruierten) schriftsprachlichen Belegen umrissenen Be- reich hinausgehen, verdeutlicht Günthner (2013). Aus einer interaktionallingu- istisch-konstruktionsgrammatischen Perspektive zeigt sie anhand einer Vielzahl verschiedener dass-Konstruktionen in Alltagsinteraktionen auf, dass die „gän- gige Dichotomie standardsprachlicher Annahmen von Haupt- und Nebensatz in Frage“ zu stellen ist (Günthner 2013: 228; vgl. auch Auer 2009) und es sich bei den normgrammatisch nicht fassbaren, isolierten dass-Konstruktionen keineswegs um deviante Strukturen handelt. Diese bilden stattdessen funktionale Gebilde, die als Ressourcen zur Realisierung spezifischer kommunikativer Aufgaben ein- gesetzt werden (Günthner 2014: 191).

        Trotz der zunächst auf der sprachlichen Oberfläche auftretenden formalen Ähnlichkeit dieser freistehenden dass-Sätze mit den im vorliegenden Beitrag behandelten dass-Syntagmen ergeben sich bei näherer Betrachtung zwei ge- wichtige Unterschiede: Zum einen handelt es sich bei den bislang behandelten


        freistehenden dass-Sätzen um Inhaltssätze, d. h. „mit dem entsprechenden Satz [wird] nur ein Inhalt transportiert […] und nicht gleichzeitig ein spezifi- sches semantisches Verhältnis“ (Eisenberg 2013: 315). Im Gegensatz dazu ver- fügt die Konjunktion dass in den vorliegenden alleinstehenden Verbletztsätzen über eine finale Semantik, womit keine Inhaltssätze, sondern eben Finalkon- struktionen vorliegen.

        Zum anderen treten die in diesem Beitrag zu analysierenden dass-Sätze nicht vollständig isoliert auf, sondern werden zumindest von der Abtönungspartikel nur, zuweilen auch von aber eingebettet. Schlobinski (1992: 205ff.) setzt hierfür den zwischen eingebetteten und nicht eingebetteten dass-Sätzen stehenden Typ der pseudo-eingebetteten dass-Sätze an, in denen einleitende Partikeln o- der Interjektionen als eine Art ‚Matrixelement‘ fungieren. Vorliegend soll die dem dass-Satz vorangestellte Partikel bzw. Konjunktion jedoch nicht als Ersatz für einen Matrixsatz, sondern vielmehr als integraler Bestandteil der Finalkon- struktion betrachtet werden.

        Zusammenfassend lässt sich in Bezug auf die hier zu untersuchende Finalkon- struktion Folgendes festhalten: Wenngleich diese prima facie zwar als subordiniert erscheinen, da sie die typischen syntaktischen Merkmale eines subordinierten Satzes wie einleitende Konjunktion in linker Satzklammer und Verbendstellung aufweisen, handelt es sich um sowohl prosodisch als auch semantisch-pragma- tisch insubordinierte Strukturen (vgl. Evans 2007: 367).

      2. Interaktives Wissensmanagement

    Die Vermittlung und Aushandlung von Wissen spielt sowohl in informellen Ge- sprächen als insbesondere auch in Interaktionen zwischen Vertreter:innen ver- schiedenster Institutionen und deren Klient:innen eine omnipräsente Rolle (vgl. Groß & Harren 2016: 7). Aufgrund der „Intransparenz des Fremdbewusstseins“ (Bergmann & Quasthoff 2010: 22) lässt sich Wissen als solches jedoch nicht un- vermittelt beobachten, sodass kaum Aussagen über den de facto vorhandenen Wissensbestand von Individuen getroffen werden können. Dieses methodologi- sche Problem kann aus der sozialkonstruktivistisch-gesprächsanalytischen Sichtweise, der sich dieser Beitrag verpflichtet sieht, allein durch einen Perspek- tivwechsel gelöst werden: Wissen wird innerhalb dieses Paradigmas nicht als mentales Konstrukt verstanden, sondern als dynamische, sich im interaktiona- len Raum zwischen den Gesprächspartner:innen konstituierende Größe. Darauf


    aufbauend wird untersucht, wie die Interagierenden selbst Wissensbestände re- levant setzen und sich in ihrem Handeln daran orientieren (vgl. Deppermann 2018: 106f.).

    In Bezug auf medizinische Interaktionen wird traditionellerweise die aus einer unterschiedlich gelagerten Wissensverteilung zwischen den medizinischen Expert:innen und Laien resultierende epistemische Asymmetrie diskutiert, die zwischen Ärzt:innen und Patient:innen gleich in zweifacher Hinsicht vorliegt (Drew 1991: 22; Gülich 1999): Während die Ärzt:innen bezüglich fachspezifi- scher Wissensbestände üblicherweise wissender sind als die Patient:innen, ver- fügen Letztere über mehr Erfahrungswissen hinsichtlich ihres Körpers, ihrer Krankheit und deren Auswirkungen auf ihr Leben. Solche angenommenen Wis- sensasymmetrien werden jedoch in der konversationsanalytischen Forschung keineswegs als a priori festgelegt betrachtet, sondern lokal anhand des sequen- ziellen Verlaufs der Interaktion nachgezeichnet (Maynard 1991). Analytisch werden dabei zwei Ebenen differenziert, die die Relevantsetzung dieser Wis- sensbestände betreffen: Der Begriff epistemic stance verweist auf die situative, lokal emergierende epistemische Positionierung einer Gesprächsteilnehmerin, wohingegen epistemic status auf das einer Person unabhängig von einem kon- kreten Wissensdisplay von ihren Interaktionspartner:innen zugeschriebene Wissen Bezug nimmt (Heritage 2013: 376).

  4. Datengrundlage

    Die der Analyse zugrundliegenden Daten entstammen zum einen dem Projekt

    „Von der Pathologie zum Patienten: Optimierung von Wissenstransfer und Verstehenssicherung in der Onkologie zur Verbesserung der Patientensicher- heit“ (Bentz et al. 2016). Das Projektkorpus setzt sich aus 56 onkologischen Auf- klärungsgesprächen zusammen, die in den Jahren 2014 und 2015 am Städti- schen Klinikum Karlsruhe erhoben wurden. Dabei handelt es sich um medizi- nische Interaktionen, in denen Patient:innen nach erfolgter Gewebeuntersu- chung erstmalig mit ihrer Krebsdiagnose konfrontiert werden. Die Gespräche wurden von den Oberärzt:innen der entsprechenden Stationen geführt. Deren zentrale Aufgabe in diesen Gesprächen ist, einerseits die Diagnose zu vermit- teln, andererseits den Therapieplan mit den Patient:innen (und ggf. deren An- gehörigen) zu besprechen.


    Zum anderen wurden Daten aus dem Projekt „Kommunikation in der Palliativ- medizin: Pflegerisches und ärztliches Sprechen mit PalliativpatientInnen“ ver- wendet. Das für diesen Beitrag hieraus zusammengestellte Subkorpus umfasst 71 Visitengespräche zwischen Ärzt:innen und Patient:innen, die in den Jahren 2018 und 2019 auf der Palliativstation des Städtischen Klinikums Karlsruhe auf- gezeichnet wurden. Beim Großteil der Gespräche handelt es sich um triadische Interaktionen zwischen der/dem ÄrztIn, der/dem PatientIn und dessen/deren EhepartnerIn im Rahmen der täglichen Visite, die von den Ärzt:innen – nach einer entsprechenden Aufklärung und Einwilligung der Patient:innen und An- gehörigen – mittels eines an die Kitteltasche gesteckten Aufnahmegerätes auf- gezeichnet wurden. Die in den Visiten besprochenen Themen sind vielfältig und reichen von der Planung der weiteren Versorgung (Hospiz, Pflegeheim, Entlassung nach Hause) über die Besprechung der Medikation hin zur Thema- tisierung des Eintritts der Sterbephase und dem damit verbundenen psy- chisch-emotionalen Erleben (vgl. auch Lindtner-Rudolph & Bardenheuer 2015: 249). Alle Gespräche wurden nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert.

  5. Sprechhandlungsbezogene Finalkonstruktionen in medizinischen Interaktionen

    Der Untersuchung liegen insgesamt 20 Belege für die nur dass Sie-Konstruktion aus beiden Korpora zugrunde. Neben der optionalen Abtönungspartikel nur6 stellen die final gebrauchte Konjunktion dass sowie das Höflichkeitspronomen Sie feste Bestandteile der hier im Fokus stehenden Konstruktion dar. Das je- weils verwendete Verb variiert jedoch: Mit insgesamt neun Belegen mit wissen, fünf Belegen mit der Perfektform gehört haben und zwei Belegen mit der festen Wendung Bescheid wissen tritt die Konstruktion in den vorliegenden Daten am häufigsten mit mentalen Verben auf. Darüber hinaus wird die Konstruktion aber auch mit emotiven Verbalphrasen wie sich wundern oder enttäuscht sein gebildet. Häufig erscheinen die im Fokus dieser Untersuchung stehenden Fi- nalkonstruktionen in Kombination mit Abtönungspartikeln wie schon, mal und halt. Im folgenden analytischen Teil rücken zunächst die Konstruktionen mit



    image

    6 Interessanterweise tritt die prototypische finale Konjunktion damit im Korpus an kei- ner Stelle in Kombination mit der Abtönungspartikel nur auf. Anstelle von nur findet sich in den vorliegenden Daten zuweilen auch der adversative Konnektor aber.


    mentalen Verbalphrasen in den Fokus (Abschnitt 5.1), ehe in Abschnitt 5.2 so- dann vergleichend auf die Konstruktionen mit emotiven Verbalphrasen einge- gangen wird.

      1. Kognitiv ausgerichtete Finalkonstruktionen

        Der untenstehende Gesprächsausschnitt entstammt einem Visitengespräch mit einer Patientin (PAw), die unter systemischer Amyloidose leidet. Es han- delt sich dabei um eine zumeist tödlich verlaufende Krankheit, bei der es zu Ablagerungen von Eiweiß im Körper kommt. Im vorliegenden Gespräch be- spricht die Ärztin (ARw) mit der Patientin nun die Maßnahmen gegen deren Ödeme (Wassereinlagerungen), die eine typische Beschwerdeform bei einer Amyloidose darstellen.

        Beispiel 3 (Palliativ_422_07_A_20190319)

        1. ARw: sie haben nach wie vor trotz der ernÄhrung über die VEne,

        2. °h gAnz schlEchte EIweißwerte im [blut;>] 071 ANm: [hm HM,]

        1. ARw: °h und das liegt (-) trOtzdem an ner MANgelernährung,

        2. °h und des HINdert aber den körper auch n bisschen darAn,

        3. des\

        4. die flüssigkeit gut mobiliSIEren zu können;

        5. sodass wir jetzt AUch für n paar tage das eiweiß erSETzen würden?

        6. ANm: [hm HM,]

        7. ARw: [°hh ] und gleichzeitig mit nem wassertreibenden mIttel (.) NACHhelfen,

        8. um diese flüssigkeit eben schön zu mobiliSIEren; 080 °hh kAnn aber sein dass sie jetzt häufig WASser

        lassen müssen; 081 ANm: hm HM,

        082 ARw: gä? (--)

        1. PAw: hm HM,

        2. ARw: gut;


        3. → nur dass sie_s WISsen;

        086 [<<p> ne?> ]

        087 ANm: [<<p> oKEE,>] (-)

        088 ARw: von den SCHMERzen [her, ] 089 PAw: [BESser;]

        Zunächst führt die Ärztin eine Erklärung für die Ödeme der Patientin an: Obwohl die Patientin bereits zusätzlich zur oral aufgenommenen Ernährung auch pa- renteral mit Nährstoffen versorgt wird, sind ihre Eiweißwerte ‚ganz schlecht‘ (Z. 070), worin die Ärztin die Ursache für die mangelnde Mobilisierung der Körper- flüssigkeit und somit für die Wassereinlagerungen sieht. Daran anschließend empfiehlt die Ärztin eine spezifische Maßnahme: „sodass wir jetzt AUch für n paar tage das eiweiß erSETzen würden? °hh und gleichzeitig mit nem wasser- treibenden mIttel (.) NACHhelfen,“ (Z. 076, 078). Der Gebrauch des Konjunktivs kontextualisiert hierbei, „dass die Zustimmung […] der Patientin noch nicht vor- liegt und verweis[t] auf das stets eingeschränkte […] Recht“ der Ärztin, die Ent- scheidung über die medizinisch indizierten Maßnahmen im Alleingang zu tref- fen (Groß 2018: 336).7 Schließlich führt die Ärztin in einem Finalsatz pointiert den erwünschten Nutzen der empfohlenen Änderungen an und liefert so einen auf fachmedizinischem Wissen basierenden account für ihre Empfehlung (vgl. Angell & Bolden 2015: 47): „um diese flüssigkeit eben schön zu mobiliSIEren;“ (Z. 079).

        Im Folgenden nennt die Ärztin eine potenzielle Nebenwirkung des wassertrei- benden Medikamentes, das sie der Patientin verabreichen möchte: Es könne sein, dass sie dadurch fortan häufig zur Toilette gehen müsse. Mittels des Mat- rixsatzes „kAnn aber sein“ (Z. 080), bei dem eine uneigentliche Verbspitzen- stellung vorliegt (vgl. Auer 1993) und der gemäß Fauconnier (1994: 16) als space builder fungiert, entwirft die Ärztin dabei ein hypothetisches Zukunftsszenario. Zu diesem baut sie durch den epistemischen Gebrauch des Modalverbs ‚kann‘ insofern eine epistemische Distanz (epistemic distance; Fauconnier 1997: 93) auf, als sie sich in Bezug auf das Eintreten des Szenarios als nicht sicher wissend positioniert. Zwar muss dieses nicht zwangsläufig zu einem realen Setting der



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        7 Vgl. Groß (2018) und Stivers et al. (2018) zu verschiedenen Praktiken ärztlicher Thera- pieempfehlungen.


        Zukunft werden; die Ärztin klärt die Patientin jedoch trotzdem über das poten- ziell zu einer realen Welt werdende Szenario und somit über die potenzielle Begleiterscheinung des Medikamentes auf.8

        Da lediglich der Sohn der Patientin, nicht jedoch die Patientin selbst, auf die Darlegung einer eventuellen Nebenwirkung reagiert, setzt die Ärztin mittels des alleinstehenden, süddeutschen question tags „gä?“ (Z. 082) auch vonseiten der Patientin eine Reaktion relevant9 (vgl. König 2017: 250f.). Nachdem die Pa- tientin sodann in Form eines minimalen Rückmeldesignals (Z. 083) die einge- forderte Ratifikation der empfohlenen medikamentösen Maßnahme lieferte, markiert die Ärztin die vorangehende Sequenz durch die Gliederungspartikel

        „gut;“ (Z. 084) als prinzipiell abgeschlossen (vgl. Arens i. E.). Im Folgenden kommt es jedoch zu einer Expansion der Sequenz, indem die Ärztin die voran- gehend angeführte Information zum potenziell verstärkten Wasserlassen ret- rospektiv – über die vorherige epistemische Rahmung durch das Modalverb kann hinaus – in ihrer Situationsrelevanz modalisiert: „nur dass sie_s WISsen;“ (Z. 085). Durch die als eigenständige Intonationsphrase realisierte nur dass Sie- Konstruktion signalisiert die Ärztin, dass der Hinweis auf die potenzielle Ne- benwirkung in der aktuellen Situation nicht unmittelbar von Bedeutung ist, sondern allein in dem in ungewisser Zukunft liegenden hypothetischen Szena- rio wichtig sein könnte. Die Finalkonstruktion ist dabei insofern als sprech- handlungsbezogen zu charakterisieren, als die Ärztin mit ihr explizit den Zweck ihrer vorherigen Äußerungen ausweist, der lediglich in einer ‚präven- tiven‘ Wissensvermittlung besteht. Sollte der Fall eintreten, dass die Patientin verstärkt Wasser lassen muss, kann sie sich an diese Information zurückerin- nern und einen kausalen Zusammenhang zwischen der Gabe des wassertrei- benden Mittels und ihrem gesteigerten Urinvolumen herstellen.

        Zugleich handelt es sich bei der beschriebenen Finalkonstruktion auch um eine Ressource zur Beendigung der vorangehenden Sequenz: Die Thematisierung der Ursachen für die Ödeme sowie die Empfehlung einer Gegenmaßnahme


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        8 Ehmer (2011: 57) spricht in diesem Zusammenhang auch vom „modalen Status“ des Sprechers/der Sprecherin: „Unter modalem Status soll […] verstanden werden, welche Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit die Sprecher einem mentalen Raum in Bezug auf den Reality Space zuschreiben.“

        9 Es ist davon auszugehen, dass die Ärztin die Patientin hier durch ihr Blickverhalten als Adressatin auswählt.


        wird hiermit abgeschlossen, sodass die Interaktionspartnerinnen sich im Fol- genden einem anderen Symptom, den Schmerzen der Patientin, zuwenden können. Somit fungiert die Finalkonstruktion auch sequenzschließend.

      2. Emotiv ausgerichtete Finalkonstruktionen

    In Abgrenzung zu den bisherigen Beobachtungen sollen nun solche sprechhand- lungsbezogenen Finalkonstruktionen in den Fokus rücken, die mit emotiven Verben bzw. Verbalphrasen gebildet werden; anhand eines Beispiels sollen ihre sequenziellen und funktionalen Spezifika exemplarisch aufgezeigt werden.

    Hierfür wird ein Ausschnitt aus einem Gespräch betrachtet, in dem der Patient (PAm) im Beisein seiner Lebensgefährtin die Diagnose eines Lymphoms, d. h. einer Krebserkrankung im Bereich des Lymphgewebes erhält. Nach der Erklä- rung des Arztes (ARm), dass diese Erkrankung zu den sogenannten Non-Hodg- kin-Lymphomen zählt, besprechen sie die von ärztlicher Seite empfohlene Chemo- und Antikörpertherapie. Dabei betont der Arzt dezidiert, dass eine vollständige Heilung nicht das Ziel der Therapie ist.

    Beispiel 4 (Onkologie_019-01_191214) 019 ARm: °h unser ZIEL ist, 020 die KRA:NKheit; (---)

    1. in SCHACH zu halten; (2.5)

    2. aber der ansatz ist !NICHT!,

    3. die für immer und ewig aus dem körper zu ent[FERnen. ]

    024 PAm: [<<p> ja;>]

    025 ARm: was HEIlung bedeutet; 026 PAm: ja;

    027 ARm: ja? (--)

    028 wir sind froh wenn es komplEtt verSCHWINdet, (--) 029 sie würden aber TROTZdem anschließend,

    030 in REgelmäßigen (-) ABständen nachgesorgt werden? (1.3)

    031 °hh und, (1.2)

    032 MEIStens is es so,=

    033 =dass die krAnkheit !IR!gendwann mal wieder kommt; 034 ANw: hm_HM;


    035

    ARm:

    ja?


    036

    PAm:

    [hm_HM,

    ]

    037


    ARm:

    [das kann scho]n SEIN;

    038


    PAm:

    [ja; ]

    039


    ANw:

    [kann] schon SEIN.

    040



    hm_HM;

    041

    ARm:

    nur dass sie (-) nicht entTÄUSCHT sind, (-)

    042



    wenn es jetzt WEGgeht,

    043



    und Irgendwann später KOMMT_S wieder,

    044



    und sie dann SA:gen,

    045



    warUm ist das bei mir wieder geKOMmen? (1.3)

    046



    °h das ist NICHTS ungewöhnliches; (--)

    047



    unser ZIEL ist es,

    048



    ihnen lebensZEIT,

    049



    lebensqualiTÄT, (--)

    050



    krankheitsFREIe zeit zu [geben;]

    051


    PAm:

    [hm_HM;]


    Mit der Projektorkonstruktion „unser ZIEL ist“ (Günthner 2008) zu Beginn des vorliegenden Ausschnitts verdeutlicht der Arzt das Ziel der therapeutischen Maßnahmen, die Erkrankung des Patienten „in Schach zu halten“ (Z. 021). Nach einer 2.5-sekündigen Gesprächspause expliziert er seine metaphorische Äuße- rung ex negativo dahingehend, dass es sich bei der Therapie nicht um ein kurati- ves Verfahren handelt (Z. 022–023) und eine „HEIlung“ (Z. 025) folglich nicht anvisiert wird, wobei die Negationspartikel „nicht“ (Z.022) prosodisch stark her- vorgehoben ist. Der Patient liefert Rückmeldesignale zu den Ausführungen des Arztes (Z. 024, 026), der darauf zunächst mit einem verständnissichernden „ja?“ (Z. 027) reagiert, ehe er schließlich zu einer Elaboration des Therapieziels und der Möglichkeit eines Rezidivs ansetzt (Z. 028–033). Durch das prosodisch mar- kierte Indefinitadverb „!IR!gendwann“ (Z. 033) verortet der Arzt einen mögli- chen Wiederauftretenszeitpunkt jedoch auch hier in einem ungewissen in der Zukunft liegenden Zeitraum und baut damit nicht nur temporale, sondern auch epistemische Distanz zu dem mentalen Raum auf (Fauconnier 1997: 192, vgl. Bei- spiel 3). Es folgt eine Sequenz der Verstehensdarstellung und -sicherung (Z. 034–


    038), die in einem „confirmatory repeat“ (Schegloff 1996) der ärztlichen Zusam- menfassung „das kann schon SEIN“ (Z. 037) durch die Lebensgefährtin in Z. 039 kulminiert.

    Im Anschluss daran folgt schließlich die im Fokus des Interesses stehende Kon- struktion „nur dass sie (-) nicht entTÄUSCHT sind“ (Z. 041) als eigenständige Intonationsphrase, mit der der Arzt auch hier einen account für seine vorange- hende Wissensvermittlung liefert. Durch die negierte Konstruktion rahmt er die übermittelten Informationen retrospektiv als eine Maßnahme zur Präven- tion möglichen negativen Erlebens durch den Patienten: Die Aufklärung über ein potenzielles Wiederauftreten der Krankheit soll diesen auf das Szenario ei- nes Rückfalls vorbereiten und ihn so vor einer möglichen Enttäuschung be- wahren. Die Finalkonstruktion kann also auch hier insofern als sprechhand- lungsbezogen charakterisiert werden, als durch sie der Zweck bzw. das Ziel der zuvor getätigten Äußerungen expliziert wird. Damit geht eine Zurückstufung der situativen Relevanz der vermittelten Informationen für das Hier-und-Jetzt des onkologischen Aufklärungsgesprächs einher: Mit dem Konditionalgefüge (Z. 041–045), deren Apodosis die Finalstruktur selbst darstellt, skizziert der Arzt einen außerhalb des reality space der laufenden Interaktion liegenden mentalen Raum, innerhalb dessen seine Ausführungen für den Patienten po- tenziell bedeutsam sind.

    Sowohl in Bezug auf die temporale als auch die deiktische Ausgestaltung des Konditionals wird auch hier die Abgrenzung des Hier-und-Jetzt vom skizzier- ten mentalen Raum deutlich: Zunächst wird der mentale Raum durch die in der Protasis erneut verwendete indefinite Temporalangabe „Irgendwann später“ (Z. 043, s. auch Z. 040) im Gegensatz zum „jetzt“ (Z. 042) der aktuellen Thera- piebesprechung in einer ungewissen Zukunft verortet (vgl. Beispiel 3). Mit der durch das verbum dicendi „sagen“ (Z. 044) eingeleiteten animierten Rede, die durch das Temporaladverb „dann“ (Z. 044) in dem soeben eröffneten konditi- onalen mentalen Raum verortet wird, erfolgt schließlich auch eine deiktische Abgrenzung vom Hier-und-Jetzt der laufenden Interaktion: Die ätiologische Frage nach dem „warUm“ (Z. 045) eines möglicherweise auftretenden Rezidivs formuliert der Arzt aus der Perspektive seines Patienten und verlässt damit die hic-nunc-ego-Origo.

    Mit der folgenden normalisierenden Stellungnahme spricht der Arzt wieder als medizinischer Experte und bewertet das soeben skizzierte Szenario als „NICHTS


    ungewöhnliches“ (Z. 046). Die Wissensvermittlung sowie deren Relevanzmoda- lisierung durch die Finalkonstruktion enden schließlich mit einer Reformulie- rung der eingangs bereits verwendeten Projektorkonstruktion „unser ZIEL ist es“ (Z. 047), deren B-Teil in Form einer von Selting (2007) als Listenkonstruktion beschriebenen Drei-Komponenten-Struktur erfolgt: „ihnen lebensZEIT, lebens- qualiTÄT, (--) krankheitsFREIe zeit zu geben“ (Z. 048–050). Auch hier steht die Finalkonstruktion somit im Kontext eines Themenabschlusses.

    Wie auch in dem zuvor analysierten Beispiel wird deutlich, dass die sprech- handlungsbezogene Finalkonstruktion sowohl als account für vorherige Wis- sensvermittlungen sowie auch als retrospektive Modalisierung der unmittel- baren Situationsrelevanz der thematisierten Informationen fungiert. Dieses Beispiel unterscheidet sich jedoch insofern von dem zuvor analysierten, als es nicht allein um die Relevanz des Wissens als solchem (wie das Auftreten mög- licher Nebenwirkungen in Beispiel 3) für den konstruierten mentalen Raum geht, sondern um eine affektive Reaktion auf dessen (mögliches) Eintreten (vgl. auch Beispiel 2): Das Wissen um ein mögliches Rezidiv wird vorliegend vom Arzt als eine Art Präventionsmaßnahme übermittelt, um einem mögli- chen negativen Erleben, einer unerwarteten Enttäuschung durch den Patien- ten vorzubeugen. In diesem Zusammenhang können die sprechhandlungsbe- zogenen Finalkonstruktionen mit emotivem Verb – die in den untersuchten Daten im Übrigen stets mit der negierten Zuschreibung emotionalen Erlebens erfolgen (so auch in Beispiel 2 „nur dass Sie sich nicht wundern“) – als eine prospektiv operierende Ressource zur Anzeige von Empathie im Sinne einer verstehenden Perspektivübernahme charakterisiert werden.

  6. Fazit

    Ausgehend von der Beobachtung, dass im gesprochenen Deutsch scheinbar

    ‚normwidrige‘ Finalkonstruktionen auftreten, die keinen übergeordneten Mat- rixsatz aufweisen, lag der Fokus der Sequenzanalysen des vorliegenden Bei- trags auf den systematischen Verwendungsweisen sowie dem interaktiven Kontext der hochfunktionalen – und somit keineswegs ‚defizitären‘ – sprech- handlungsbezogen Finalkonstruktion nur dass Sie X. Im Folgenden werden die gewonnen Erkenntnisse abschließend zusammengefasst und deren didakti- scher Nutzen für das Germanistikstudium an ausländischen Hochschulen her- ausgestellt.


    Finalkonnektoren wie der in der beschriebenen Konstruktion enthaltene Kon- nektor dass stellen zweifelsohne eine „harte Nuss“ für Lerner:innen des Deut- schen dar. Für deren adäquate Verwendung sind nicht nur syntaktische und se- mantische Spezifika, sondern ebenso diverse „pragmatische Beschränkungen“ (Breindl 2004: 428) zu berücksichtigen: Davon abgesehen, dass dass nicht nur zur Einleitung von Finalsätzen, sondern gleichermaßen auch zur Einleitung reiner

    „Inhaltssätze“ (Eisenberg 2013: 315) verwendet wird, leitet der Konnektor nicht zwangsläufig überhaupt einen Nebensatz ein, dem ein Matrixsatz vorangeht bzw. folgt. Dennoch tritt der Konnektor auch in solchen, normgrammatisch nicht fassbaren Fällen systematisch als integraler Bestandteil einer Konstruk- tion mit spezifischem Form-Funktionsspektrum auf, wie die hier angestellten sequenzanalytischen Betrachtungen derselben zeigten.

    So wurde herausgearbeitet, dass die wesentliche Funktion der von Ärzt:innen gebrauchten sprechhandlungsbezogenen Finalkonstruktion im interaktiven Management des von ihnen vermittelten Wissens besteht: Informationen wer- den retrospektiv 10 in ihrer Situationsrelevanz modalisiert, insofern als die Ärzt:innen mittels dieser Konstruktion kontextualisieren, dass die angeführ- ten Wissensbestände nicht im Hier-und-Jetzt von Bedeutung sind. Stattdessen werden die Informationen – wenn überhaupt – erst in einem hypothetischen Zukunftsszenario wichtig, bezüglich dessen Eintreten die Ärzt:innen jedoch eine epistemische Distanz etablieren. Ist ein emotives Verb oder Adjektiv in die Konstruktion eingebettet (sich wundern, enttäuscht sein etc.), wird zudem ausge- drückt, dass die jeweiligen Bezugsäußerungen dazu dienen sollen, einem mög- lichen künftigen negativen Erleben vorzubeugen. Unabhängig davon, ob eine kognitiv oder eine emotiv ausgerichtete Finalkonstruktion vorliegt, bezieht sich der darin angegebene Zweck auf das Tätigen der Sprechhandlung selbst und nicht, wie Grammatiken hinsichtlich Finalsätzen anführen, auf die in ei- nem Matrixsatz angeführte Tätigkeit. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass die Konstruktion häufig keinen singulären ‚Satz‘ als Bezugspunkt hat, sondern sich auf ganze Diskurssegmente und somit komplexe Sprech- handlungen bezieht.

    Zusammenfassend betrachtet stellt die sprechaktbezogene Finalkonstruktion in der betrachteten Gattung des Arzt-Patienten-Gesprächs also eine verfestigte


    image

    10 Vgl. Bauer & Buck (2021) für ein Beispiel, in dem Informationen demgegenüber prospek- tiv modalisiert werden.


    Lösung für das kommunikative Problem dar, den Zeitraum bzw. ein (mögli- ches) Szenario auszuweisen, zu dem Patient:innen das von Ärzt:innen vermit- telte Wissen benötigen. Somit ist diese Konstruktion präzise auf eine spezifi- sche kommunikative Aufgabe der Institution Krankenhaus zugeschnitten.

    Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun für die Behandlung solcher Form- Funktions-Paare in der Hochschullehre der Auslandsgermanistik ziehen? Zu- nächst sollten Lernende zum Zwecke einer Distanzierung vom „written lan- guage bias“ (Linell 2005) immer wieder damit konfrontiert werden, dass Phä- nomene der gesprochenen Sprache, die zunächst als „Performanzentgleisung“ (Günthner & Imo 2006: 2) erscheinen, mitnichten ‚falsch‘ sind, sondern hoch- funktionale interaktive Ressourcen darstellen können. Die vorliegend unter- suchte Konstruktion erweist sich dabei insofern als besonders geeignet für Lehrveranstaltungen in der Auslandsgermanistik, als sie in ihrer zentralen Funktionalität zunächst (i) unmittelbar an die bereits aus dem Fremdsprachen- unterricht bekannte Kategorie der Finalität anschließt. Darauf aufbauend (ii) können im Rahmen der Beschäftigung mit der vorliegenden Konstruktion an- hand authentischer Gesprächsdaten weiterführende gesprächslinguistisch re- levante Konzepte wie das Management von Wissen in der Interaktion thema- tisiert und veranschaulicht werden. Außerdem (iii) lässt sich durch die Be- schäftigung mit den hier analysierten sprechhandlungsbezogenen Finalkon- struktionen auch der Stellenwert kontextueller Faktoren für den Gebrauch so- wie die Interpretation sprachlicher Formate demonstrieren: Fortgeschrittene Studierende der Auslandsgermanistik sollten im Kontext der Vermittlung von Wissen über grammatische Konstruktionen nicht allein dazu befähigt werden, syntaktische Muster des gesprochenen Deutsch zu erkennen und deren funk- tionale Spezifika zu beschreiben. Sie sollten darüber hinaus auch in die Lage versetzt werden, ein Verständnis für das reflexive Verhältnis zwischen Kon- struktionen und kommunikativen Gattungen entwickeln, um so die Einbettung von Konstruktionen in spezifische Verwendungskontexte der alltäglichen kommunikativen Praxis zu erfassen. Allein eine dergestalt ausgerichtete Di- daktik vermag der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sprachliches Wissen weit mehr als „just a set of abstract rules and a lexicon“ umfasst – „it also includes knowledge of sedimented constructions and their usage in particular genres“ (Günthner 2011: 210).


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Katharina König | Lijie Duan

Mündlichkeit im Posting-Format

Praktiken der dialogischen Kommunikation über

Sprachnachrichten per WhatsApp und WeChat im DaF- Unterricht

Zusammenfassung: Nimmt man Forderungen nach einer ‚sprachrealistischen‘ Mündlich- keitsdidaktik im Kontext DaF ernst, so sollten auch weit verbreitete mediatisierte Formen gesprochener Sprache – wie etwa über mobile Messenger verschickte Sprachnachrichten – in den Blick genommen werden. Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, Praktiken der sprachlich-sequenziellen Gestaltung von Sprachnachrichten zu kontrastieren, die deutsche und chinesische NutzerInnen in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Affordan- zen der Messaging-Apps WhatsApp und WeChat entwickelt haben. Die vergleichenden em- pirischen Analysen zeigen, dass deutsche NutzerInnen Audio-Postings vornehmlich im pri- vaten Rahmen versenden und die Nachrichten oftmals als ‚verdichtete‘ Postings gestalten, in denen mehrere Themen- oder Aktivitätsstränge verfolgt werden. In den chinesischen Da- ten hebt sich die institutionelle Nutzungspraktik, bei der DozentInnen Studierenden meh- rere längere Sprachnachrichten in direkter Folge schicken, von sehr kurzen Audio-Postings im privaten Kontext ab. Die aufgezeigten Differenzen lassen sich nur in Teilen durch die unterschiedlichen Plattform-Affordanzen erklären. Vielmehr müssen die beschriebenen Praktiken in einem kulturlinguistischen Zugang reflektiert und zum Gegenstand einer dif- ferenzierten medienlinguistischen Betrachtung im Kontext DaF gemacht werden.

Abstract: Following demands for the use of authentic oral data in German as a foreign lan- guage classes, widely available forms of mediated spoken language – such as voice messages recorded and sent via mobile messaging app – should also be taken into account. The paper aims at a contrastive analysis of linguistic and sequential practices users have developed in their appropriation of the affordances that messengers such as WhatsApp and WeChat pro- vide. The comparative analyses of German and Chinese voice messages show that German users tend to send voice messages in private settings. They design the audio postings as ‘dense’ packages in which they deal with several lines of talk. Chinese voice messages differ in their sequential design: Institutional voice messages (sent from lecturers to their stu- dents) are characterised by a row of lengthy postings that contrast with very short voice messages in private contexts. These differences can only partly be attributed to the diverg- ing affordances of the messenger platforms. Rather, the practices have to be interpreted in a cultural-linguistic approach; in the foreign language classroom they should be contextu- alised in a media linguistic reflection.


  1. Formen von Mündlichkeit

    In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Studien Möglichkeiten der In- tegration authentischer Mündlichkeit in den Deutsch-als-Fremdsprache-Un- terricht aufgezeigt (Günthner et al. 2021; Imo & Moraldo 2015; Reeg et al. 2012; Schramm 2017). Um Lernende adäquat auf die Anforderungen mündlicher Kom- munikation vorzubereiten, sollte die Vermittlung von Sprach(reflexions)kom- petenzen nicht ausschließlich auf einen schriftsprachlichen Standard ausge- richtet sein, sondern ebenfalls in der Mündlichkeit verankerte Gebrauchsmus- ter umfassen (vgl. Bauer/Buck, Lanwer/Schopf, Weidner in diesem Heft). Bis- lang fokussieren Studien zu gesprochener Sprache im Kontext DaF zumeist Ge- spräche, die unter den Bedingungen von zeitlicher und oft auch räumlicher Ko- Präsenz stattfinden (Telefonate oder face-to-face-Gespräche), als prototypische Formen mündlicher Interaktion.

    In der digitalen Kommunikation über Messaging Apps finden sich mit Sprach- nachrichten (auch Sprachmemo oder Sprachnotiz genannt) neue Formate des mündlichen Austauschs, die im kommunikativen Alltag vieler NutzerInnen eine zentrale Rolle einnehmen und daher ebenfalls zum Reflexionsgegenstand im Kontext DaF gemacht werden sollten (König 2021a). Auch wenn Sprach- nachrichten in enger zeitlicher Folge ausgetauscht werden können (König & Hector 2019), findet zu keinem Zeitpunkt eine synchrone wechselseitige Koor- dination der Interagierenden statt. Die mündlichen Kommunikate werden im Posting-Format, also en bloc (Beißwenger 2016), versendet. Sie stellen Pro- dukte eines bereits abgeschlossenen Aufnahmeprozesses dar. Der dialogische Austausch über Sprachnachrichten ist also geprägt durch die spezifischen Af- fordanzen der Messenger-Kommunikation.

    Mit der zunehmenden Verbreitung von Smartphones und dem mobilen Internet nimmt digitale Kommunikation über Messaging-Apps weltweit einen immer zentraleren Stellenwert in der Alltagskommunikation ein. Unterschiede zwi- schen einzelnen Ländern zeigen sich u.a. darin, welche Plattformen zum Einsatz kommen: Während in Deutschland WhatsApp zu den Plattformen mit der wei- testen Verbreitung zählt, ist in China WeChat die wichtigste Anwendung für den mobilen Nachrichtenversand. In Bezug auf die Erstellung und den Versand von Sprachnachrichten weisen die Plattformen grundlegende Unterschiede auf. Während es für die Produktion von Sprachnachrichten über WhatsApp etwa


    keine (relevante) Längenrestriktion gibt, sind bei WeChat Sprachnachrichten auf eine Gesamtdauer von 60 Sekunden beschränkt. Die kommunikativen Rah- menbedingungen für Audio-Postings divergieren also stark. Der vorliegende Beitrag kontrastiert Praktiken der dialogischen Kommunikation über Sprach- nachrichten, die deutsche und chinesische NutzerInnen in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Affordanzen von WhatsApp und WeChat entwickelt haben. Zugleich eröffnet die Analyse einen kulturlinguistischen Zugang zur Rolle von Sprachnachrichten in privater und institutioneller Kommunikation.

    Im folgenden Abschnitt werden zunächst die technischen Voraussetzungen vorgestellt, unter denen bei WhatsApp und WeChat Sprachnachrichten produ- ziert, versendet und rezipiert werden können. Der dritte Abschnitt zeigt an- hand von authentischen Dialogsequenzen exemplarisch auf, welche kommu- nikativen Praktiken sich bei der Sequenzierung und der sprachlichen Gestal- tung von Sprachnachrichten in deutschen und chinesischen Messenger-Chats ausgebildet haben. Der Vergleich verdeutlicht, dass sich die herausgestellten Differenzen nicht allein auf die messenger-spezifischen Affordanzen zurück- führen lassen, sondern auch im Lichte unterschiedlicher Konzeptualisierun- gen von Kommunikation über Sprachnachrichten betrachtet werden müssen. Im abschließenden Ausblick werden Anwendungskontexte für den DaF-Unter- richt skizziert.

  2. Affordanzen: Produktion und Versand von Audio-Postings bei WhatsApp und WeChat

    In der digitalen Kommunikation bilden sich sprachlich-kommunikative Prak- tiken in Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Angebotscharakter von Kom- munikationsformen bzw. -plattformen aus (Beißwenger 2020). Die Chat-Module der derzeit verfügbaren Messaging-Apps (z.B. WhatsApp, WeChat, Line, Signal, Threema) sind in ihrem Aufbau sehr ähnlich angelegt. Nachrichten (dies um- fasst verschiedenen Postings-Typen wie etwa Text-, Bild-, Video- oder Sprach- nachrichten) werden in einem fortlaufenden und scrollbaren Bildschirmpro- tokoll angezeigt, wobei eigene und fremde Nachrichten voneinander abgesetzt werden.1


    image

    1 Für eine ausführliche Beschreibung der visuell-flächigen Strukturierung des Bild- schirmprotokolls und der Rahmenbedingungen für die zeitliche Koordination von Bei- trägen in der Messenger-Kommunikation sei auf Beißwenger (2020) verwiesen.


    Studien zu Messenger-Kommunikation zeigen, dass NutzerInnen sich die von den Plattformen bereitgestellten semiotische Ressourcen auf spezifische Weise im Rahmen von kommunikativen Praktiken aneignen. So deuten SchreiberIn- nen etwa das visuelle Arrangement einzelner Nachrichten auf dem Bildschirm- protokoll für ihre kommunikativen Zwecke aus: Dadurch, dass separat ver- schickte „Zeichenportionen“ auf dem Bildschirm als abgegrenzte Blase darge- stellt werden, verringert sich etwa die Notwendigkeit, das Ende einer Text- nachricht durch Satzschlusszeichen zu markieren. Posting-finale Interpunk- tion kann dann als stance-Marker re-interpretiert werden (Androutsopoulos & Busch 2021). Die „Portionierung“ bzw. Aufteilung von Beiträgen auf verschie- dene Einzelpostings (so genanntes chunking) wird dazu genutzt, separate Hand- lungsschritte oder Themenabschnitte sichtbar voneinander abzugrenzen (Imo 2015; König 2015; 2019b, Virtanen et al. 2021; Wyss & Hug 2016). Als weitere semiotische Ressource werden Emojis in der digitalen Kommunikation ver- wendet, um etwa verschiedene Interaktionsmodalitäten zu kontextualisieren (Beißwenger & Pappert 2019; Gibson et al. 2018). Auch der Wechsel zwischen verschiedenen Schriftsystemen, etwa zwischen chinesischen Zeichen und der alphabetischen Umschrift Pinyin – kann funktional motiviert sein (Ma 2016).

    Das Angebot und die Ausdeutung semiotischer Ressourcen stehen in einem re- flexiven Verhältnis zueinander. Die Nutzungspraxis kann auf die Entwicklung der Plattformarchitektur zurückwirken. Die Implementierung einer „Feststell- taste“ zur Daueraufnahme von Sprachnachrichten bei WhatsApp reagiert auf den Bedarf der NutzerInnen, längere Audio-Postings aufnehmen zu können (vgl. Abschnitt 2.1). Die Möglichkeit, sich auf der Chatoberfläche bei WeChat automatisiert erstellte Transkripte von Sprachnachrichten anzeigen zu lassen (vgl. Abschnitt 2.2), hat sich aus dem Bedarf ergeben, den Inhalt der Nachrich- ten auch in Situationen erfassen zu können, in denen ein Anhören der Nach- richt nicht möglich ist (etwa in Seminaren oder Arbeitssitzungen). Kommuni- kations(platt)formen stellen also einen Möglichkeitsraum bereit, in dem sich im Wechselverhältnis von medialer Prägung und konkreter Nutzungspraxis sprachlich-kommunikative Praktiken ausbilden und sedimentieren.

    Wenig erforscht ist bislang, wie sich Unterschiede zwischen den Messaging- Systemen auf die Organisation und die sprachliche Gestaltung von Nachrichten auswirken. In den folgenden Abschnitten werden daher Besonderheiten der Messenger WhatsApp und WeChat dargelegt. Die Ausführungen fokussieren


    sich auf die bereitgestellten Möglichkeiten zur Produktion, den Versand, die Darstellung und Rezeption von Sprachnachrichten.

    1. WhatsApp: Sprachnachrichten (fast) ohne Limit

      Laut der Online-Studie von ARD und ZDF2 war WhatsApp 2021 in Deutschland die am meisten genutzte Social-Media-Anwendung. Unter den 14-19-jährigen gehört WhatsApp zu den beliebtesten Handy-Apps.3 Eine im Auftrag der Gesell- schaft für Deutsche Sprache erstellte forsa-Umfrage belegt zudem die wachsende Beliebtheit von Sprachnachrichten (Schlobinski & Siever 2018: 6f.), da sie mit geringem Aufwand schnell und unkompliziert produziert werden können.

      Das Aufnahmefeature ist bei WhatsApp direkt über die Chatoberfläche aufruf- bar. Die Aufzeichnung des Audiosignals über das integrierte Handymikrophon4 beginnt, sobald der unten rechts permanent angezeigte Aufnahmebutton län- gere Zeit gedrückt wird. Durch ein Ziehen des Icons nach oben lässt sich eine Daueraufnahme aktivieren, ohne dass der Aufnahmebutton gedrückt gehalten werden muss. Bei WhatsApp besteht keine relevante Limitierung der Aufnah- melänge.5 Während einer Aufnahme wird die aktuelle Aufnahmedauer am un- teren Bildschirmrand angezeigt. Verschickt werden die Nachrichten entweder, wenn der Aufnahmebutton losgelassen wird oder wenn NutzerInnen auf das Senden-Icon tippen. Seit kurzem besteht zudem die Möglichkeit, die Aufnahme zu pausieren und die Nachrichten vor dem Verschicken nochmals anzuhören. Zwar ist ein vorheriges Redigieren nicht möglich, die Gesamtaufnahme kann aber verworfen werden.

      Sprachnachrichten werden in der Regel automatisch heruntergeladen und als interaktives Abspielmodul in das fortlaufende Dialogprotokoll eingebettet, wo- bei die Darstellung wie auch bei den anderen nutzergenerierten Nachrichten zwischen Eigen- und Fremdpostings variiert (vgl. Abbildung 1). Jedes Audio-


      image

      2 Online abrufbar unter: https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/social-media-und-mess enger/messenger/ (letzter Abruf 01.09.2022).

      3 So wurde der Messenger bei der JIM-Studie 2021 in allen Altersstufen als wichtigste App benannt. Online abrufbar unter: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/ 2021/JIM-Studie_2021_barrierefrei.pdf (letzter Abruf 01.09.2022).

      4 Etwaige Umgebungsgeräusche werden so mit eingefangen und könnten auch Bestand- teil der Praktik einer auditiven „Aufführung“ werden (vgl. König & Hector 2017).

      5 Begrenzungen können aber etwa durch das Speichervolumen des Smartphones gege- ben sein.


      Posting wird mit weiteren Meta-Informationen versehen (z.B. Zeitsigle, An- zeige der Nachrichtendauer, Sendestatus). Ferner erhalten die NutzerInnen In- formationen über den Abspielstatus: Bei Nachrichten, die noch nicht angehört wurden, werden Mikrophon-Symbol und Fortschrittsanzeiger grün darge- stellt. Sobald eine Nachricht angehört wurde, wechselt die Farbe auf blau.


      image


      Abbildung 1: WhatsApp-Bildschirmprotokoll eines dyadischen Chats mit Text- und Sprachnachrich-

      ten (Montage, hier noch ohne Option, Aufnahme vor Versenden abzuhören)


      Die Ausgabe des Audiosignals erfolgt entweder über den Handylautsprecher oder die Hörmuschel, wenn das Gerät ans Ohr gehalten wird. Die Wiedergabe kann pausiert werden; ebenso kann man über den Fortschrittsanzeiger an be- stimmte Stellen der Aufnahme springen. Zwar gibt es Apps, mit denen automa- tisiert Transkriptionen von Sprachnachrichten generiert werden können (etwa:


      Audio-to-Text, Textify, Transcriber). Diese Verschriftungen werden jedoch nicht di- rekt auf der Chatoberfläche angezeigt, sondern lassen sich nur in separatem Fenster öffnen. Innerhalb der App müssen Sprachnachrichten also stets abge- spielt werden. Neuere App-Versionen ermöglichen eine Wiedergabe in andert- halbfacher oder doppelter Geschwindigkeit und reagieren damit wiederum auf Bedarfe der NutzerInnen (siehe oben). Mehrere in Folge verschickte Sprach- nachrichten werden automatisch nacheinander abgespielt, solange die Wieder- gabe nicht pausiert wird. Beim Übergang zwischen zwei Nachrichten ertönt dann ein kurzer Signalton.

      Insgesamt ist die Messenger-App also durch die Nicht-Limitierung der Aufnah- medauer, die Feststelltaste bei der Aufnahme und die Möglichkeiten, die Auf- nahme wie auch Wiedergabe zu pausieren oder zu einem bestimmten Zeit- punkt der Aufnahme zu springen, auf längere Audio-Postings zugeschnitten. Zugleich steht die mündliche Repräsentation im Fokus, eine automatische Transkription von Sprachnachrichten ist innerhalb der App nicht möglich.

    2. WeChat: Sprachnachrichten mit Countdown

      WeChat ( 微信, wēixìn, ‚winzige Nachricht‘) ist eine der wichtigsten Smart- phone-Apps in der Volksrepublik China.6 Die multifunktionale Plattform bietet neben dem Chat-Modul zahlreiche weitere Features, die die zentrale Bedeu- tung der App für die Alltagsorganisation dokumentieren: NutzerInnen posten Statusupdates auf einer „Momente“-Pinnwand, sie kaufen Kinotickets oder zahlen ihre Wasser- und Stromrechnung über die App. Bislang liegen nur we- nige linguistische Arbeiten zur digitalen Kommunikation über den Messenger vor: Die Studien von Zhou et al. (2017), Gibson et al. (2018) und Szurawitzki (2019) befassen sich mit Besonderheiten der Emoji-Verwendung bei WeChat. Cui (2016) legt eine Interview-Studie zu Nutzungsgewohnheiten von Studie- renden aus Hong Kong vor. Günthner (2018) untersucht die Verwendung von Praktiken der Selbstreferenzierung. Szurawitzki (2020) zeichnet auf Basis einer Online-Umfrage die Sprachnutzungspräferenzen von in China lebenden Deut- schen nach.


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      6 Im Jahr 2020 waren chinesische NutzerInnen im Schnitt 29,2 Stunden pro Monat mit der App online (Quelle: https://www.messengerpeople.com/de/nutzerzahlen-messen ger-weltweit/#China).


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      Abbildung 2: Anzeige während der Aufnahme einer Sprachnachricht bei WeChat


      Auch wenn es sich bei WhatsApp und WeChat um in ihrer grundlegenden Ar- chitektur sehr ähnliche Messaging-Apps handelt, so zeigen sich gerade bei der Kommunikation über Sprachnachrichten zahlreiche Unterschiede, die die Nut- zungspraxis prägen können und daher hier kurz beschrieben werden sollen.7 Wie auch bei WhatsApp können Audio-Posting direkt über die Chatoberfläche erstellt werden.8 Während einer aktiven Aufnahme wird das Bildschirmproto- koll ausgegraut; in der Mitte des Bildschirms wird eine Sprechblase angezeigt, in der ein stilisiertes Oszillogramm ausschlägt, sobald die Nachricht eingespro- chen wird (siehe Abbildung 2, links). Durch die entsprechenden Schaltflächen kann die Aufnahme verworfen werden oder man kann sich das Eingesprochene als Text ausgeben lassen, bei Bedarf noch editieren und dann als Text-Posting verschicken. Die AdressatInnen erhalten am oberen Bildschirmrand Live-In- formationen darüber, dass ihre Dialogpartnerin eine Nachricht produziert, je- doch keine Angabe über den Postings-Typus.


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      7 Alle Ausführungen beziehen sich auf die Funktionen der chinesischen WeChat-App im Er- hebungszeitraum, die sich in ihrem Funktionsumfang deutlich von der auch in Deutsch- land verfügbaren Programmversion unterscheidet.

      8 Hierfür tippt man auf das Aufnahmesymbol am linken Rand des Moduls zur Posting- Produktion und hält dann die mittlere Schaltfläche 按住 说话 àn zhù shuōhuà (‚halten und sprechen‘) gedrückt.


      Auf dem Bildschirmprotokoll werden Audio-Postings mit Angabe ihrer Dauer in Sekunden angezeigt (vgl. Abbildung 3). Die Ausdehnung des Abspielmoduls unterscheidet sich je nach Länge der versendeten Sprachnachricht (erkennbar etwa in Abbildung 5). Zeitstempel werden nur dann separat im Verlaufsproto- koll aufgeführt, wenn mehr als eine Minute zwischen aufeinander folgenden Nachrichten vergangen ist.


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      Abbildung 3: WeChat-Bildschirmprotokoll eines dyadischen Chats mit Text- und Sprachnachrichten

      (Montage)


      Fremde Sprachnachrichten, die noch nicht abgehört wurden, werden mit ei- nem roten Punkt markiert. NutzerInnen erhalten jedoch keine Informationen darüber, ob die von ihnen verschickten Sprachnachrichten bereits abgehört wurden. Zudem ermöglicht die App die automatisierte Transkription von ein-


      gegangenen Sprachnachrichten. Hierfür tippt man auf die betreffende Nach- richt und wählt aus dem nun angezeigten Menü die Funktion (wén ‚Text‘) aus.

      Die Wiedergabe von Audio-Postings wird durch ein einfaches Antippen gestar- tet und gestoppt. Hält man den Finger lang auf der Nachricht, kann ausgewählt werden, über welchen Lautsprecher sie ausgegeben werden soll. Mehrere hin- tereinander verschickte Sprachnachrichten werden beim ersten Anhören au- tomatisch nacheinander abgespielt. Zudem ertönt ein kurzer und leiser Piep- ton, der die einzelnen Postings hörbar voneinander abgrenzt. Während der Wiedergabe blinkt das Schallsymbol in der Nachrichtenblase auf, sodass er- kennbar ist, welches Audio-Posting gerade abgespielt wird. Ein Audio-Posting kann immer nur von Beginn an wiedergegeben werden; ein zwischenzeitliches Pausieren war zum Zeitpunkt der Datenerhebung nicht möglich.9 Auch ein Na- vigieren zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer Sprachnachricht ist anders als bei WhatsApp nicht möglich.

      Die kurze Beschreibung der technischen Rahmenbedingungen verdeutlicht, dass WeChat – im Gegensatz zu WhatsApp – nicht für lange Audio-Postings aus- gelegt ist: Nicht nur setzt WeChat eine zeitliche Begrenzung für die maximale Gesamtdauer einer Sprachnachricht. Auch die Möglichkeiten zur Navigation innerhalb von Audio-Postings (Pausieren, Springen) sind begrenzt. Ferner ist die Wiedergabe von Audio-Postings bei WeChat darauf ausgerichtet, dass die Nachrichten als Ganzes angehört werden (sollte man sich nicht dazu entschlie- ßen, die Nachricht in einen Text zu transponieren).

  3. Kommunikative Praktiken zur Sequenzierung und sprachlichen Gestaltung von Audio-Postings

    Die folgenden Abschnitte stellen anhand exemplarischer Datenbeispiele Prakti- ken gegenüber, die sich in der deutschen und chinesischen Sprachnachrichten- Kommunikation über WhatsApp und WeChat entwickelt haben. Anschließend wird diskutiert, inwieweit die Unterschiede aus der Auseinandersetzung mit den


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    9 Wurde das Abspielen einer Nachricht einmal gestoppt, begann die Wiedergabe nach nochmaligem Antippen des Nachrichtenfeldes wieder von vorn. Mittlerweile (10/2022) ermöglicht WeChat ein zwischenzeitliches Pausieren und die Wiederaufnahme der Wiedergabe.


    in Abschnitt 2 beschriebenen divergierenden Affordanzen hervorgehen oder in- wieweit sie auf Besonderheiten in der Konzeptualisierung von Messenger-Kom- munikation mit Audio-Postings verweisen.

    1. WhatsApp-Sprachnachrichten als „verdichtete Pakete“

      Die im Folgenden präsentierten Befunde basieren auf einem deutschsprachi- gen Korpus von 479 Audio-Postings, die im Rahmen des Projekts „Transmodale Messenger-Chats“ erhoben wurden.10 Sie sind zwischen 2016 und 2020 in dya- dischen Chats oder Gruppenchats über den Messenger WhatsApp verschickt worden. Alle Nachrichten liegen in ihrer sequenziellen Einbettung in einen Chatverlauf vor.11

      Die Daten stammen überwiegend von studentischen NutzerInnen. Der Großteil der Nachrichten ist im Kontext privater Kommunikation situiert. Die Nutze- rInnen erzählen sich von ihrem Alltag oder besonderen Erlebnissen, sie planen ein Treffen oder organisieren ein Geburtstagsgeschenk. Immer wieder werden auch Studienangelegenheiten diskutiert. Man bespricht gemeinsam Seminar- aufgaben, plant die anfallenden Arbeitsschritte in einer Referatsgruppe oder tauscht sich über den Stand der Bachelor-Arbeit aus. Meist mischen sich diese institutionellen Belange mit privaten Themen. Da in Deutschland die Kommu- nikation mit Lehrenden über mobile Messenger weitgehend unüblich ist, sind in den Daten keine Dialoge zwischen Studierenden und Lehrenden belegt.

    2. Praktiken der Sequenzierung: Anspruch auf Vollständigkeit

      In der Regel wechseln sich Sprachnachrichten in einer Zug-um-Zug-Abfolge mit Nachrichten anderer NutzerInnen ab (A–B–A–B, siehe auch König & Hector 2019 für eine erste quantitative Auswertung von Einbettungsprofilen). Chunking, also das Aufteilen längerer Dialogbeiträge auf mehrere Einzelpostings, wie es für die Messenger-Kommunikation über Textnachrichten als typisch beschrieben wird (Imo 2015; König 2015; Wyss & Hug 2016), kommt bei Sprachnachrichten in den


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      10 Das Projekt unter der Leitung von Dr. Katharina König untersucht die Sprachhandlungsko- ordination in Text-, Bild- und Audio-Postings, die über den Messenger WhatsApp ausge- tauscht werden. Weitere Informationen finden sich unter: https://www.uni-muenster.de/ Germanistik/Projekte/WhatsApp/index.html.

      11 Die Audio-Postings sind nach dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem aufbe- reitet (Selting et al. 2009), bei Namens- und Ortsangaben handelt es sich um Pseudonyme.


      hier ausgewerteten Daten nur vereinzelt vor. In etwa 10 % werden Audio-Pos- tings um weitere Audio-Nachrichten der gleichen Nutzerin/des gleichen Nut- zers inkrementell erweitert. Sequenzen, in denen mehr als zwei Sprachnach- richten der gleichen Nutzerin/des gleichen Nutzers unmittelbar hintereinander verschickt werden, sind in nur fünf Fällen belegt. Sprachnachrichten werden in den untersuchten Daten also in der Regel so gestaltet, dass sie einen vollständi- gen kommunikativen Zug darstellen.

      Sprachnachrichten, die direkt auf ein Audio-Posting der gleichen Nutzerin/des gleichen Nutzers folgen, sind meist explizit als nicht intendierte Zusätze ge- rahmt, wie der folgende Dialogausschnitt illustriert. Auf das erste über zwei Minuten lange Audio-Posting, in dem Anni ihrer Mitbewohnerin Sabine von den Erlebnissen ihrer letzten zwei Urlaubswochen und ihren Tagesplänen be- richtet, folgt in 16 Minuten Abstand eine weitere Sprachnachricht. Die Fol- genachricht ist mit nur 38 Sekunden kürzer gehalten und befasst sich aus- schließlich mit dem in der Zwischenzeit gelösten Warmwasserproblem in der Wohngemeinschaft.

      Beispiel 1 DUCMC-02SAAN03

      #1 Anni (13.08.2018, 12:42), 2:37 Min. Länge

      Inhalt: Anni ist zurück in der WG, erzählt von ihren letzten zwei Wochen, ihrem aktuellen Gesundheitszustand, der Planung eines gemeinsamen Abends mit Sabine, berichtet zudem, dass sie noch einkaufen muss, entschuldigt sich für ihre stinkende Wä- sche in der WG, Aufforderung an Sabine, sich zu melden12


      #2 Anni (13.08.2018 12:58), 0:38 Min. Länge

      001 B: (0.7) ähm:: kleiner NACHtrag noch, 002 äh:m ich habe gerade geMERKT-

      003 also: (0.1) dass das wasser ja wieder WARM ist, 004 (0.5) tut mir MEga leid-=

      005 =dass ich mich da: irgendwie gar nicht mehr so nach erKUNdigt habe-

      006 oder irgendwie °hhh ähm auch (0.1) drum geKÜMmert hab, 007 ÄHM;

      008 das war so richtig out of SIGHT out of mInd.



      image

      12 Vgl. König 2021a für eine Analyse der ersten Sprachnachricht.


      1. (0.8) a:be:r du SCHEINST-

      2. also ich weiß nicht ob du irgendwie nochmal den typ ANgerufen hast-

      3. oder ob es sich von SELber gerEgelt hat-

      4. auf jeden fall °hh wenn du da irgendwas unterNOMmen hast-

      5. DANkeschön;

      6. (0.9) äh:m: ja und (0.1) kannst mir ja mal irgendwie (0.8) kurzes UPdate geben,

      7. ob da irgendwas pasSIERT ist. 016 °hhh ähm JOA.

      1. alRIGHty;

      2. das WAR_S schon.


      Die zweite Sprachnachricht wird von Anni eingangs explizit als „kleiner NACH- trag“ (001) charakterisiert. Die Sprecherin behandelt die Nachricht damit wie ein Addendum, das das vorherige Posting ergänzt, selbst aber kein neues kom- munikatives Projekt eröffnet. Auch die abschließende Formel „das WAR_s schon“ (018) unterstreicht diese Konzeptualisierung als kurzer Nachtrag.

      Ferner finden sich in den untersuchten Daten zwei direkt aufeinanderfolgende Nachrichten der gleichen Nutzerin/des gleichen Nutzers, wenn sich in der Zwischenzeit die Voraussetzungen für die Inhalte der ersten Nachricht geän- dert haben. Beispiel 2 entstammt aus einem Dialog zwischen den Freundinnen Alisa und Beate, die einen gemeinsamen Ausflug nach Paris planen.

      Beispiel 2 KTSKS-02ALBE01

      #1 Alisa (12.04.2018 19:18), 0:22 Min. Länge – Ausschnitt Ende


      006

      A:

      ah und dann wollt ich noch GUCken-

      007


      wie das wetter in paRIS wird,

      008


      weil ich hab grade überLEGT-

      009


      wie is das wohl wenns REGnet;

      010


      (0.8) weil (0.1) ich mir halt grad DACHte-

      011


      (0.2) das is ja DOOF-

      012


      wenn wir richtig NASS werden.

      013


      (0.1) oder nimmst du ne REgenjacke mit?


      #2 Alisa (12.04.2018 19:19), 0:09 Min. Länge – vollständig 001 A: okay NEE;=

      002 =ich seh grad-

      1. dass halt FREItag soll_s halt regnen,

      2. °h und die resttage soll_s übelst GEIL sein;

      3. mit NULL prozent niederschlagswahrscheinlichkeit- 006 oder (0.1) ZEHN prozent.

      007 (0.4) also übelst ^GEI:L;


      Alisa nimmt in ihrer zweiten Sprachnachricht eine Korrektur ihrer vorherigen Einschätzung der Wetterlage vor, die sich daraus ergibt, dass sie in der Zeit nach Absenden der ersten Sprachnachricht die Vorhersage für die Urlaubstage aufgerufen hat. Die Aktualisierung ihres Kenntnisstands wird als Anlass für die inkrementelle Erweiterung präsentiert. Auch hier ist die Nachtragsnachricht mit neun Sekunden Dauer markiert kürzer als das erste Audio-Posting.

      Unvorhergesehene Unterbrechungen oder zwischenzeitliche Neuerungen, die eine Korrektur der Angaben in der ersten Nachricht notwendig machen, kön- nen ebenso Anlass für eine direkte Folgenachricht sein wie das Nachschieben von Inhalten, die bei der initialen Nachricht vergessen wurden. Durch ihre me- takommunikative Rahmung behandeln die NutzerInnen die Erweiterungen je- weils als kommentarbedürftig. Sie dokumentieren damit zugleich ihren An- spruch, dass einzelne Audio-Postings möglichst „vollständig“ sein sollten.

    3. Sprachliche Organisation von „verdichteten“ Sprachnachrichten

      Anders als WeChat beschränkt der WhatsApp-Messenger die Aufnahmelänge von Audio-Postings nicht. Außerhalb der von Normen der sozialen Erwartbar- keit werden den NutzerInnen somit keine Grenzen gesetzt. Die meisten der im Korpus belegten Sprachnachrichten sind kürzer als eine Minute (383/479, Ø 44 Sek.). In dem Korpus sind aber auch 96 Nachrichten enthalten, deren Gesamt- laufzeit mehr als eine Minute beträgt.13 Bei den folgenden Analysen soll der Frage nachgegangen werden, wie Sprachnachrichten gestaltet werden, bei de- nen die NutzerInnen zwar die Möglichkeit haben, die Aufnahmedauer über eine Anzeige auf dem Bildschirm zu kontrollieren (vgl. Abschnitt 2.1), sie aber



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      13 Die meisten dieser Nachrichten haben eine Gesamtdauer von bis zu zwei Minuten. Die längste in dem Korpus belegte Sprachnachricht erstreckt sich auf 9 Minuten und 20 Sekunden.


      selbst bestimmen können, wann sie die Aufnahme beenden und die Nachricht verschickt werden kann. Ferner soll untersucht werden, wie sich sprachlich niederschlägt, dass die Produktion der mündlichen Äußerungen ohne eine synchrone Koordination mit dem Dialogpartner/der Dialogpartnerin erfolgt. Wie organisieren die SprecherInnen also das in seiner Dauer unbegrenzte und nur mittelbar auf ein Gegenüber ausgerichtete Sprechen?

      Die Analyse erfolgt exemplarisch anhand eines in weiten Teilen über Sprach- nachrichten geführten Dialogs, an dem sich zahlreiche für das Untersuchungs- korpus typische sprachlich-kommunikative Praktiken illustrieren lassen. In dem Dialog tauschen sich zwei Freundinnen aus, die sich aus Abitur-Zeiten kennen, nun aber an verschiedenen Hochschulstandorten leben. Lisa studiert Medizin in Nürnberg, Sonja studiert in Dortmund auf Lehramt. Der Austausch beginnt mit einer Textnachricht vor dem Jahreswechsel, auf die Lisa etwa ei- nen Monat später mit einer Sprachnachricht antwortet. Der sich in der Folge entspannende Dialog besteht ausschließlich aus Sprachnachrichten, die i.d.R. in größeren zeitlichen Abständen abwechselnd von beiden NutzerInnen ver- schickt werden.14

      Kennzeichnend für die Audio-Postings in dem Dialog ist zunächst, dass die Sprachnachrichten als sequenziell verdichtete Pakete gestaltet werden. In je- dem Posting werden mehrere Themen oder Aktivitäten behandelt, die Spre- cherInnen verfolgen also jeweils mehrere lines of talk in ihren Nachrichten (vgl. Virtanen et al. 2021). So werden beispielsweise in Lisas erster Sprachnachricht (Posting #2) insgesamt vier lines of talk eröffnet: Sie entschuldigt sich wieder- holt für die verspätete Kontaktaufnahme, übermittelt Sonja Neujahrswünsche, berichtet dann von ihren aktuell anstehenden Medizinprüfungen und schließt die Nachricht mit einer Anfrage für ein Treffen zu Karneval (vgl. Abbildung 4).

      Wenn NutzerInnen auf ein solch verdichtetes Audio-Posting mit einer Sprach- nachricht antworten, ergibt sich für sie die kommunikative Herausforderung, alle im Bezugsposting eröffneten Aspekte anzusprechen und den Übergang zwischen den Themenbereichen so zu gestalten, dass für die RezipientInnen stets nachvollziehbar ist, auf welchen Aspekt die SprecherInnen reagieren. In den Antwortpostings im Untersuchungskorpus realisieren die SprecherInnen


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      14 Eine Transkription der ersten vier Audio-Postings wird im Anhang des Bandes bereit- gestellt. Der Gesamtdialog, der sich bis Mitte April erstreckt, umfasst insgesamt neun Sprachnachrichten.


      in der Regel eine chronologisch geordnete Abfolge der lines of talk, sie handeln die Themen also in der Reihenfolge ihrer Nennung im Bezugsposting ab.


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      Abbildung 4: Verdichtete lines of talk in dem Sprachnachrichten-Dialog (Beispiel 3)


      In Posting #3 reagiert Sonja zunächst auf die Entschuldigung, bevor sie eben- falls auf den Themenstrang der anstehenden Prüfungen eingeht, um dann eine Absage auf die Verabredungsanfrage für Karneval zu kommunizieren. Die Nach- richt schließt mit einem terminlichen Gegenvorschlag für ein Treffen in den Semesterferien. Eine solche chronologische Anordnung kann dabei helfen, den jeweiligen Bezugspunkt einer Äußerung zu identifizieren. Andernfalls wäre die sequenzielle Referenz für die folgenden Äußerungen schwer zu rekonstruieren. Ein vergleichbares packaging ist bereits als Strategie für die interne Organisa- tion von SMS-Nachrichten beschrieben (vgl. Günthner 2012; Günthner & Kriese


      2012; Hutchby & Tanna 2008; König 2019b), bei denen in einer Nachricht meh- rere first pair parts eröffnet werden, die in den Antwortnachrichten in chrono- logischer Reihenfolge ‚abgearbeitet‘ werden. Anders als bei kurzen Textnach- richten, die permanent im Bildschirmprotokoll vorgehalten werden und sich daher bei der Produktion und Rezeption der Antwortnachrichten schnell wie- der aufrufen lassen, sind die SprecherInnen bei der Produktion von responsi- ven Sprachnachrichten darauf angewiesen, alle relevanten Aspekte in der Rei- henfolge ihrer Erwähnung zu memorieren.15 Zwar lassen sich Audio-Postings wiederholt abspielen, allerdings müsste man hierfür die aktuell laufende Auf- nahme beenden und könnte dann in einem weiteren Posting die noch nicht eingelösten Relevanzen bedienen. Eine solche Praktik des gesplitteten Antwor- tens auf thematisch komplexe Sprachnachrichten ist für das Untersuchungs- korpus allerdings nicht typisch.

      Übergänge zwischen den lines of talk werden sprachlich auf verschiedene Weise kontextualisiert. Die Sprecherinnen nutzen wiederholt Häsitationen (Pausen oder Zögerungssignale wie ähm, z.B. #2: 004, 006, #3: 006, 016, #4: 007, #5: 031) zur Untergliederung ihrer Nachrichten (vgl. auch Hector 2017: 31f.). Themen- übergänge werden zudem regelmäßig durch verschiedenen Diskursmarker wie naja (z.B. #2: 017) ja/joa (z.B. #2:014, #4: 027) oder auditive Elemente wie Schnal-

      zen oder hörbares Schlucken (#2: 018, #3: 026, #4: 007, #5: 023) vollzogen. Zu- gleich dokumentieren all diese Ressourcen die on-line Planung der Beiträge (König 2021b). Der Wechsel zu einem neuen thematischen Aspekt wird zudem durch Wiederaufnahmeausdrücke eingeleitet. Diese werden in Form von des- integrierten Präpositionalphrasen realisiert (oft mit vorangestelltem Konnek- tor und), deren nominaler Bestandteil als Stichwort fungiert, das auf ein in ei- ner vorherigen Nachricht eröffnetes Thema zurückverweist.

      Beispiel 3 DUCMC-02LISO01

      #3

      026 S: °h und ähm ((schlucken schnalzen)) ja an KARneval- 027 ich (0.1) hab zwar FREI,


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      15 Metakommunikative Äußerungen wie etwa in Nachricht #5 („=ich glaub das war ALles was du <<gerundet>gesagt hattest;>“, 040) dokumentieren, dass die NutzerInnen an- streben, alle Aspekte in einer Nachricht anzusprechen und dass die Erinnerung an die aufgeworfenen Themen ad hoc verläuft (und nicht etwa über Notizen oder andere tech- nische Hilfsmittel).


      #4

      012


      L:


      °h (0.2) un:d äh mit der LEIche,

      013


      also: die ersten male war es Komisch-

      028


      =und mit KARneval-

      029


      °h SCHAde;

      #5

      023


      S:


      °h (0.3) mhm (0.8) ((schlucken)) und äh (0.6) beim


      024


      SPO:RT-

      ja ich mach jetzt in den seMESterferien irgendwas,


      Diese Wiederaufnahmeausdrücke weisen strukturelle und funktionale Ähn- lichkeiten zu freien Themen (Selting 1993) auf, unterscheiden sich jedoch dadurch, dass die desintegrierte Konstituente nicht immer durch eine Pro- Form im Folgesatz wieder aufgenommen wird. Die Ausdrücke zeichnen sich vielmehr durch einen über die Satzgrenzen hinausreichenden Diskursbezug aus. Nicht nur knüpfen sie an ein bereits etabliertes Thema an, sie leiten zudem jeweils eine mehrere Äußerungen umfassende Diskurseinheit ein.

      Ebenso können Bezüge zu vorher bereits eröffneten Themen in nachgestellten Nebensätzen hergestellt werden. In dem hier analysierten Dialog findet sich wiederholt eine zweiteilige Struktur von initialer Bewertung und anschließen- der Referenzexplikation:

      Beispiel 3 DUCMC-02LISO01

      #4


      001

      L:

      das_s doch COOL;=

      002


      =dass du keine klauSUren hast,


      #5

      001


      S:


      oKAY;

      002


      das is ja auch GAR nich komisch;=

      003


      =wenn du SAGST-

      004


      ihr habt das geSICHT durchgeschnitten

      005


      006


      °hh ähm aber ((lachen)) °h nee FREUT mich auf jeden fall,

      dass du dich dran geWÖHNT hast-


      011 und oh das is Echt MIES;=

      012 =dass du keine seMESterferien dann hast;


      Die Strukturen ähneln Extrapositionen mit es (Günthner 2008) und Adjektiv- dass-Konstruktionen (Günthner 2009). Im Unterschied zu ersteren wird mit das kein rein strukturelles Korrelat, sondern ein pronominal interpretierbares De- monstrativum verwendet, das einen thematischen Anschluss markiert. In Ab- gleich zu kondensierten Adjektiv-dass-Sätzen steht bei den drei hier aufgeführ- ten dass-Satz-Konstruktionen nicht (einzig) die affektive Positionierung der Sprecherin im Vordergrund, sondern zugleich auch die Rückbindung an den vorherigen Diskurs.16 Die nachgestellten Sätze explizieren jeweils die Referenz der in der Regel im ersten Teilsatz enthaltenen Demonstrativpronomina und machen damit den Rückbezug zu in anderen Sprachnachrichten vorerwähnten Dialoggegenständen deutlich.

      Neben der internen Organisation der Audio-Postings und der Herstellung se- quenzieller Bezüge zu vorher bereits eröffneten lines of talk stellt insbesondere die Beendigung von einzelnen Themen und einer Sprachnachricht als „Ge- samtportion“ für die SprecherInnen eine besondere kommunikative Heraus- forderung dar, da kein synchroner Zugang zu dem Dialogpartner/der Dialog- partnerin besteht und bei WhatsApp keine technische Begrenzung der Sprech- zeit vorliegt. In face-to-face-Gesprächen oder Telefonaten ist die Beendigung ei- nes Beitrags, eines Themas oder des Gesprächs stets das Ergebnis eines wech- selseitigen und synchronisierten Koordinationsprozesses (vgl. Selting 2007). Beim ‚monologischen‘ Einsprechen von Sprachnachrichten ohne Zeitlimitie- rung obliegt es jedoch einzig dem Sprecher/der Sprecherin, das Ende eines thematischen Abschnitts oder auch der gesamten Aufnahme zu bestimmen und ggf. kommunikativ-sprachlich zu kontextualisieren.

      Eine Praktik, mit der die Sprecherinnen eine thematische Einheit beenden, be- steht darin, dass themaeinleitende Äußerungen im Wortlaut oder sinngemäß wiederholt werden.


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      16 Für die Vollformen solcher Sätze in synchronisiert verlaufenden Interaktionen attes- tiert Günthner (2009: 172) eine vergleichbare themensteuernde Funktion: Sie „führen meist längere Diskurssequenzen ein, die eine thematische Ausweitung repräsentieren.“


      Beispiel 3 DUCMC-02LISO01

      #2


      001

      L:

      sorry ich hab echt VOLL vergessen zu Antworten irgendwie;

      018


      019


      (0.5) ((schnalzen)) <<h>ich wollt mich auf jeden fall mal MELden bei dir;

      es TUT mir leid;>


      016



      °h (0.2) äh: ich wünsch dir auf jeden fall ganz viel erfolg bei deinen äh bei deiner mündlichen prÜfung da: anfang FEbruar,

      025


      aber ich wünsch dir auf jeden fall bei allem ganz viel erFOLG,


      #5

      031 S: °h (0.1) und ähm bin dann halt auf der suche nach irgendwas ab dem ersten aPRIL-=


      037 aber °hh ich bin da auf jeden fall auf der SUche-


      Die Sprecherinnen recyceln hier ihre eigenen Äußerungen und kehren damit zurück an den Anfang einer thematischen Einheit. Zugleich weisen sie das Ge- sagte durch die hiermit hergestellte Einklammerung als eine – nun im Ab- schluss befindliche – thematische Einheit aus. Die Rückkehr zu dem Beginn ei- ner solchen Einheit kann zudem auch durch Diskursmarker wie auf jeden Fall (vgl. Bührig 2003) kontextualisiert werden. Ferner werden die hier aufgeführ- ten Wiederholungen durch ein resumptives aber eingeleitet (vgl. Mazeland & Huiskes 2001), das die Äußerung als Fazit aus dem zuvor Gesagten rahmt.

      Auch für die Beendigung der ‚Gesamtportion‘ des Postings nutzen die Spreche- rinnen spezifische Praktiken, um anzuzeigen, dass die Gestalt ihres Aufnahme- projekts nun geschlossen wird. Keine der Nachrichten wird durch eine Ab- schiedsfloskel ausgeleitet (was darauf hindeutet, dass der Dialog insgesamt als noch nicht abgeschlossen behandelt wird), dafür erfolgt in dem hier unter- suchten Dialog aber jeweils zum Ende von Nachrichten #2, #3 und #4 eine dia- logische Zuwendung zu der Dialogpartnerin:


      Beispiel 3 DUCMC-02LISO01

      #2


      020

      L:

      °h bist du über kArneval AUCH zuhause-=

      021

      #3

      039


      S:

      =ode:r äh musst du klausuren SCHREIben;


      bist du dann sOnst in den semesterferien nochmal zu



      HAUse,


      #4

      053


      L:


      und °hhh gibts SONST was neues bei dir-

      054


      055


      bist du irgendwie jetzt ähm (0.5) ((schnalzen)) <<all> irgendwie mit dem !SPORT!->

      oder mit deiner !WOH!nung-


      Diese an die Dialogpartnerin gerichteten Fragen erfolgen in den Nachrichten jeweils nach längeren Ausführungen über die eigene Situation. Sie re-etablie- ren die eingangs meist vollzogene dialogische Zuwendung zum Gegenüber (Günthner 2016). Gleichzeitig wird eine Antwort relevant gesetzt und ein Über- gabepunkt geschaffen, an dem die Nachricht beendet werden kann.

      Diese Analysen belegen die Komplexität des dialogischen Handelns über Sprach- nachrichten, die ohne direkte Synchronisation mit den AdressatInnen produ- ziert werden und deren Gesamtdauer nicht beschränkt ist. Längere Audio-Pos- tings werden als verdichtete Pakete gestaltet, in denen die NutzerInnen meh- rere lines of talk verfolgen, die durch verschiedene sprachliche Ressourcen ein- und ausgeleitet werden.

  4. WeChat-Sprachnachrichten im Mikro- und Makroformat

    Unterschiede im Gebrauch von Audio-Postings bei deutschen WhatsApp- und chinesischen WeChat-Dialogen zeigen sich bereits in den jeweiligen Nutzungs- kontexten: In China kommt Messenger-Kommunikation sowohl im privaten als auch im institutionellen Bereich zum Einsatz. An Hochschulen ist es üblich, dass sich Studierende und Lehrende per WeChat über Seminararbeiten, Klau- suranforderungen oder Prüfungen austauschen (vgl. Günthner 2018). Der Ver- sand von Sprachnachrichten ist jedoch nicht für beide Parteien gleich ‚lizen- siert‘: Zwar verschicken DozentInnen Audio-Postings an Studierende, Belege


    für die umgekehrte Kommunikationsrichtung finden sich in den untersuchten Daten jedoch nicht.

    In den folgenden Abschnitten sollen zwei typische Verwendungskontexte von Audio-Postings in chinesischen WeChat-Interaktionen aufgezeigt werden. Da- bei werden sowohl informelle Dialoge zwischen FreundInnen als auch zweck- gerichtete Interaktionen zwischen Lehrenden und Studierenden in den Blick genommen. Als Datengrundlage dient ein exploratives Korpus von WeChat- Dialogen mit insgesamt 73 Audio-Postings in ihrer jeweiligen sequenziellen Einbettung, das im Rahmen der Germanistischen Institutspartnerschaft zwi- schen der Universität Münster und der Xi’an International Studies University (VR China) erhoben wurde. Da WeChat zum Zeitpunkt der Erhebung (04/2020- 04/2021) keinen direkten Export von Audio-Postings zuließ, wurden die Dia- loge mithilfe eines screenrecording-Programms gesichert. Alle Sprachnachrich- ten wurden transkribiert und zusammen mit den Textnachrichten ins Deut- sche übersetzt.

      1. 一串长语音 (yī chuàn cháng yǔyīn) – „Sprachnachrichten-Ketten“

        In den untersuchten Daten lassen sich zwei Sequenzierungsmuster differenzie- ren, die in diesem und dem kommenden Abschnitt anhand von ausgewählten Beispieldialogen vorgestellt werden. Zunächst soll ein Muster fokussiert wer- den, bei dem zahlreiche längere Audio-Postings einer Nutzerin/eines Nutzers in direkter Folge verschickt werden. Für diese Praxis hat sich der Ethnobegriff一串长语音 (yī chuàn cháng yǔyīn, ‚Kette von langen Nachrichten‘) etabliert.

        In dem im Folgenden untersuchten Beispiel handelt es sich um einen Dialog, in dem eine Germanistik-Dozentin in insgesamt sieben Audio-Postings einer Stu- dentin Feedback zu einer Hausarbeit über sprachliche Vagheit in deutschen und chinesischen Forschungsarbeiten gibt.17 Das von WeChat gesetzte Zeitli- mit von 60 Sekunden reicht für diesen Kommunikationsanlass nicht aus. Für ihre Ausführungen benötigt die Dozentin etwa dreieinhalb Minuten, muss also für die Komplettierung ihres kommunikativen Projekts mehrere Nachrichten schicken. Bereits die visuelle Repräsentation der Nachrichten auf dem Bild- schirmprotokoll (vgl. Abbildung 5, links) zeigt, dass sie bei der Produktion der


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        17 Das Dialogprotokoll (mit Transkriptionen und Übersetzungen der Audio-Postings) steht im Anhang des Bandes zur Verfügung.


        Sprachnachrichten keinesfalls immer die vollen 60 Sekunden pro Posting aus- nutzt, sondern ihre Beiträge in unterschiedlich lange Einzelpostings aufteilt.


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        Abbildung 5: Screenshot der untersuchten Sprachnachrichten-Kette (Beispiel 4)


        Diese ‚Portionierung‘ orientiert sich an thematischen Zäsuren. Die allgemeine Einleitung in die Aktivität des Feedbackgebens (#1) wird so getrennt von der Besprechung spezifischer Monita. Sprachliche (#2, später auch #6) und inhalt- liche Probleme (#3) werden in verschiedenen Postings behandelt, wobei letz- tere in einer weiteren Nachricht (#4) spezifiziert werden, bevor dann – eben- falls in einem separaten Posting – ein Lösungsvorschlag unterbreitet wird (#6).

        Durch verschiedene sprachliche Mittel wird jeweils zu Beginn einer Nachricht die inhaltliche Relationierung zwischen den Audio-Postings kontextualisiert: Die Anbindung zwischen Posting #1 und #2 erfolgt etwa durch die Wiederho- lung des Schlüssellexems 问题 (wèntí ‚Problem‘). Nachrichten #4 und #5 sind

        durch die Komplexanapher 这个操作 (zhège cāozuò ‚dieses Vorgehen‘, #5) mitei-


        nander verbunden, die auf die in Nachricht #4 von der Dozentin vorgeschla- gene methodische Anlage der Studie zurückverweist. Die Spezifizierung der in #3 angesprochenen Probleme bei der quantitativen Auswertung der Studentin wird mit einem initialen 具体来说 (jùtǐláishuō ‚konkret gesagt‘, #4) eingeleitet.

        Durch Konnektoren wie 另外 (lìngwài ‚außerdem‘, #3) und 然后 (ránhòu ‚dann‘ #6)

        werden die Audio-Postings als Ergänzungen oder Fortführungen der vorheri- gen Nachrichten gerahmt. Die abschließende Nachricht #7 leitet mit dem Konnektor 所以 (suǒyǐ ‚deshalb‘) in die Formulierung eines Fazits ein.18 Die Be- endigung des kommunikativen Projekts wird durch die Aufforderung zur Überarbeitung des Textes und der Darlegung des zeitlichen Rahmens hierfür eingeleitet. Eine Abschluss- oder Grußformel findet sich in dem Beispiel hinge- gen nicht. Die Binnenorganisation der Sprachnachrichten wird nur in seltenen Fällen markiert. Hierbei kommen Gliederungsmarker wie 第一 (dìyī, ‚erstens‘) /

        第二 (dì'èr‚ zweitens‘, #2)) oder der Konnektor 另外 (lìngwài ‚außerdem‘, #4, #5,

        #7) zum Einsatz.

        Immer dann also, wenn das Ende einer thematischen Einheit erreicht ist, wird die Aufnahme beendet und als Nachricht versendet. Dabei wird weder der Voll- zug der Aktivität des Feedbackgebens per Sprachnachricht noch das Verschi- cken der zahlreichen Einzelpostings von den Nutzerinnen als kommentarbe- dürftig behandelt. Anders als in den in Abschnitt 3.2 beschriebenen deutschen WhatsApp-Daten wird das Beitrags-chunking in den chinesischen WeChat-Dialo- gen nicht zum Gegenstand von Metakommunikation, sondern als lizensierte Praktik ausgeführt.

        Die anschließende Antwort der Studentin fällt vergleichsweise knapp aus. In ihren zwei Textnachrichten beteuert sie, sich der Überarbeitung der Arbeit ge- wissenhaft anzunehmen. Dass die Studentin in unmittelbarer Folge auf das letzte Audio-Posting antwortet, lässt den Schluss zu, dass sie in etwa zur glei- chen Zeit wie die Dozentin auf den Messenger orientiert ist. Sie antwortet aber nicht bereits zwischen den einzelnen Audio-Postings, sondern wartet das Ende der Ausführungen ihrer Dozentin ab.


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        18 Auffällig ist in den Daten der wiederkehrende Gebrauch einer rhetorischen Strategie einer zweiteiligen Konstruktion, bei der zunächst die Gründe (eigeleitet durch yīnwéi

        ‚weil‘) und erst nachgelagert die Konklusionen benannt werden (eingeleitet suǒyǐ ‚des- halb‘, vgl. #3 und #7 in dem Dialog). Für diesen Hinweis danken wir Susanne Günthner.


        Eine solche Reihung längerer Audio-Postings findet sich in den Daten aus- schließlich in Kontexten, in denen Lehrende Studierende komplexe Inhalte wie etwa Rückmeldungen zu Prüfungsleistungen vermitteln. Studierende antwor- ten in der Regel über Textnachrichten. In dieser asymmetrischen Verteilung der Beitragsmodalitäten dokumentieren sich spezifische Partizipationsrollen in Lehr-Lern-Kontexten. Sprachnachrichten-Ketten sind also eng mit den Zwe- cken des institutionell geprägten Austauschs verwoben.

      2. Mikro-Sprachnachrichten

    In den untersuchten Daten findet sich ein zweites Sequenzierungsmuster, für das der Versand von sehr kurzen Sprachnachrichten prägend ist, die oft nicht länger als drei oder vier Sekunden sind. NutzerInnen verschicken teilweise mehrere solcher Mikro-Sprachnachrichten unmittelbar hintereinander (vgl. Abbildung 6).

    Ein solches chunking von Audio-Postings, das in den deutschen Daten die Aus- nahme darstellt (vgl. Abschnitt 3.2), kann nicht durch die zeitliche Limitierung von Sprachnachrichten motiviert sein, da den NutzerInnen noch wesentlich mehr Aufnahmezeit zur Verfügung gestanden hätte. Die folgende Analyse ei- nes Beispieldialogs19 fragt daher nach den Funktionen einer solchen Beitrags- sequenzierung.

    Die Nutzerin Lu (in Abbildung 6 rechts dargestellt) befindet sich in Peking und initiiert den sich im Folgenden entspannenden Dialog durch Versenden eines Bild-Postings, das ihr Frühstück zeigt. Der Austausch dreht sich in großen Tei- len um dòuzhī, einen fermentierten Bohnensaft, der typisch für die Pekinger Küche ist. Nutzerin Yan, die im Gegensatz zu Lu in dieser kommunikativen Epi- sode ausschließlich Sprachnachrichten verschickt, befindet sich gerade auf dem Weg zu einem Treffen mit ihrem Freund (was sie zum Gegenstand von Nachricht #12 macht, zudem sind im Hintergrund Straßengeräusche zu hören).



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    19 Das Dialogprotokoll (mit Transkriptionen und Übersetzungen der Audio-Postings) steht im Anhang des Bandes zur Verfügung.


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    Abbildung 6: Screenshot WeChat-Dialog Beispiel 5 (Postings #16 bis #25)


    Yan beteiligt sich an dem Dialoggeschehen fast durchgehend in kleineren kom- munikativen Einheiten. Diese Art der Sequenzierung wird in Teilen zur Tren- nung verschiedener lines of talk eingesetzt. In Posting #17 fragt Yan etwa, wieso Lu weiß, wie dòuzhī schmecken muss. In #18 hingegen geht sie wieder auf das Treffen mit ihrem Freund ein. Auch bei Postings #21, #22 und #23 werden je- weils verschiedene lines of talk in den kurzen Einzelpostings verhandelt (frit- tierte Teigtaschen, Bohnenmilch, baldige Ankunft am Zielort).

    Es gibt jedoch immer wieder auch direkt hintereinander verschickte Sprach- nachrichten, die sich mit dem gleichen Thema befassen. So behandeln Nach- richten #2 wie auch #3 die auf dem Bild-Posting zu sehenden Lebensmittel; in #8 und #9 fragt Yan jeweils nach den Besonderheiten von dòuzhī. Hier werden innerhalb der lines of talk Teilhandlungen differenziert wie etwa die Frage (#2) nach und die Benennung (#3) von Elementen auf dem initialen Bild-Posting und die Frage nach dem Unterschied zwischen dòuzhī und Bohnenmilch (dòujiāng) (#8) und der Zubereitung von dòuzhī (#9).

    Bezüge zwischen den Postings werden auf der sprachlichen Oberfläche nicht expliziert. Die sprachlichen (Teil-)Handlungen werden in der Regel nicht durch Diskursmarker oder andere metasprachliche Ressourcen diskursiv ge- ordnet oder zueinander in Beziehung gesetzt. Sie bleiben größtenteils unver- bunden. Auch bei einem Wechsel zwischen einzelnen lines of talk (wie etwa


    beim Übergang von Posting #14 auf #15 sowie von #17 auf #18) erfolgt keine Überleitung o.Ä. Allenfalls durch pronominale Wiederaufnahmen wie in #14 wird die Fortführung eines kommunikativen Projekts kontextualisiert, in dem das Personalpronomen tā (‚er‘) auf den in #12 erwähnten Freund verweist). Es wird also auch nicht angezeigt, dass das chunking durch Vergessen oder Aktu- alisierungen der Ausgangslage motiviert ist (vgl. Abschnitt 3.2). Das Versenden mehrerer Sprachnachrichten in direkter Folge wird so als eine normale, un- markierte Art der Sequenzierung behandelt.

    Die meisten Nachrichten in dem gegebenen Dialog werden in schneller zeitli- cher Abfolge verschickt; beide Nutzerinnen sind also zur gleichen Zeit auf den Dialog orientiert. Dies kann zu einer „sequenziell irregulär[en]“ Beitragsab- folge (Beißwenger 2016: 288) führen, bei der ein Antwort-Posting durch wei- tere eingetroffene Nachrichten, die übermittelt wurden, während man noch mit der Produktion der Antwort befasst war, von dem Bezugsposting getrennt wird. Für den hier untersuchten Dialog bedeutet das, dass sich durch die zwi- schenzeitliche Aktualisierung des Dialoggeschehens für die Nutzerinnen die Notwendigkeit ergeben kann, eine weitere Sprachnachricht „hinterherzuschi- cken“. So kann argumentiert werden, dass Nachricht #15 auf Nachricht #13 re- agiert. Es ist möglich, dass Yan bereits mit der Aufnahme von Sprachnachricht #14 begonnen hat, als Lus Posting #13 übermittelt wurde. Yan hat die Text- nachricht möglicherweise erst nach Absenden ihres Audio-Postings gelesen, da das Bildschirmprotokoll während einer Aufnahme nur ausgegraut angezeigt wird (vgl. Abb. 2). Sie produziert dann eine weitere Sprachnachricht, mit der sie auf Posting #13 reagiert. Dies kann erklären, warum der Inhalt von Nach- richten #14 und #15 in zwei getrennten Postings übermittelt wird. Auf ähnliche Weise kann plausibilisiert werden, dass Nachricht #22 auf Lus Nachricht #20 reagiert, die gepostet wurde, als Yan bereits die Aufnahme für Nachricht #21 begonnen hat. Teilweise ergibt sich das chunking in einzelne Sprachnachrich- ten also aus dem emergierenden Dialoggeschehen.

    Das Versenden mehrerer Mikro-Sprachnachrichten in direkter Folge erfüllt in chinesischen WeChat-Dialogen somit verschiedene Funktionen: Es dient zum einen der Diskursgliederung, um etwa verschiedene thematische Einheiten voneinander abzutrennen. Werden Nachrichten zum gleichen Thema in direk- ter Folge verschickt, erfolgt eine Aufteilung in verschiedene Teilhandlungen. Zum anderen kann sich die ‚Portionierung‘ in mehrere Einzelpostings daraus


    ergeben, dass Nachrichten in schneller Folge verschickt werden, wenn die Nut- zerInnen gleichzeitig auf den Chat orientiert sind und jeweils auf Aktualisie- rungen des Dialogverlaufs reagieren, die sich während der Aufnahme einer vorherigen Sprachnachricht ergeben hat.

    Was diese Überlegungen jedoch nur unzureichend erklären können, ist die re- lative Kürze, die die Audio-Posting in Abgleich zu den Sprachnachrichten-Ket- ten, aber auch zu den Sprachnachrichten aus dem deutschen Vergleichskorpus aufweisen. Während Sprachnachrichten im deutschen WhatsApp-Korpus im Schnitt 44 Sekunden lang sind, haben Audio-Postings im chinesischen WeChat- Korpus eine durchschnittliche Länge von nur 4,2 Sekunden. Hier scheinen we- niger die Affordanzen der Sprachnachrichten-Kommunikation als vielmehr di- vergierende Partizipationsrollen bei der mündlichen Kommunikation über Messaging-Apps relevant zu sein. So hebt sich die private WeChat-Kommuni- kation über Mikro-Sprachnachrichten deutlich von dem im vorherigen Ab- schnitt beschriebenen Muster der Sprachnachrichten-Ketten ab, die vornehm- lich im institutionellen Kontext verschickt werden.

  5. Technik und/oder Kultur? – Herausforderungen kontrastiver Analysen

    Kontrastive Studien zu deutschen und chinesischen SMS-Nachrichten liefern zahlreiche Belege für die Kulturspezifik sprachlich-kommunikativer Praktiken in der digitalen Kommunikation: So lassen sich etwa Unterschiede in den jeweils über Kurznachrichten realisierten Gattungsrepertoires ausmachen (Hauptstock et al. 2010). Innerhalb von Gattungen können sich verschiedene Handlungsmus- ter verfestigen (vgl. Imo 2012 zu Formen der Liebeskommunikation). Günthner und Kriese (2012) weisen verschiedene Praktiken der Beitragssequenzierung nach. Ebenso zeigen sich Spezifika im Gebrauch von Anredeformen in der Kurz- nachrichtenkommunikation (Günthner & Zhu 2017). Diese Arbeiten beschreiben Differenzen, die sich bei dem Nachrichtenaustausch innerhalb der gleichen Kommunikationsform zeigen. Die untersuchten SMS wurden also unter ver- gleichbaren Produktions- und Rezeptionsbedingungen erstellt. In dem hier durchgeführten kontrastiven Vergleich von Sprachnachrichten in deutschen WhatsApp- und chinesischen WeChat-Dialogen treten jedoch (mindestens) zwei mögliche Einflussgrößen gleichzeitig auf: die Verankerung von kommunikati-


    ven Praktiken in einem bestimmten soziokulturellen Kontext und die kommu- nikativen Rahmenbedingungen oder Affordanzen der beiden Messenger, die sich gerade in Bezug auf Audio-Postings in erheblichem Maße unterscheiden.

    Auch wenn sich die grundlegende Architektur der Chat-Interfaces ähnelt, zei- gen sich gerade bei den Möglichkeiten zur Produktion und Rezeption von Au- dio-Postings zentrale Unterschiede. Während WhatsApp auf den Versand von längeren Sprachnachrichten ausgelegt ist, beschränkt WeChat die Aufnahme- dauer und bietet nur wenig Optionen zur internen Navigation beim Abspielen der mündlichen Kommunikate. Die vorliegenden Analysen haben gezeigt, dass sich in diesen unterschiedlichen Möglichkeitsräumen verschiedene Praktiken der Sequenzierung und der sprachlichen Ausgestaltung von Audio-Postings entwickelt haben, die jedoch keineswegs durch die medialen Affordanzen de- terminiert werden. In den jeweiligen Nutzergemeinschaften verankerte Vor- stellungen von Partizipationsrollen spielen ebenfalls eine Rolle. So sind insbe- sondere lange Audio-Postings in China nur in bestimmten Kontexten ‚legiti- miert‘ (etwa bei Sprachnachrichten-Ketten von Lehrenden an Studierende, nicht aber vice versa). Zugleich ist diese Praxis durch die Affordanzen der Sprachnachrichtenkommunikation bei WeChat geprägt: Da die Aufnahmedauer bei dem Messenger begrenzt ist, versenden Lehrende mehrere Postings hinter- einander, die jeweils unterschiedliche Themenschwerpunkte behandeln.

    Im Gegensatz zu den deutschen WhatsApp-Audio-Postings, die zumeist als vollständige und ‚verdichtete‘ Kommunikate gestaltet werden, findet sich in den privaten chinesischen Daten oftmals eine Reihung direkt aufeinander fol- gender Mikro-Sprachnachrichten der gleichen Nutzerin/des gleichen Nutzers. Dieses chunking wird teils als Praktik der thematischen Untergliederung ge- nutzt, ergibt sich mitunter aber auch durch das schnell emergierende Dialog- geschehen. Die unterschiedlichen Sequenzierungsmuster können aber nicht allein durch die divergierenden Affordanzen erklärt werden. Einerseits ist ein Beitrags-chunking auch bei WhatsApp möglich, andererseits steht den WeChat- NutzerInnen oftmals noch viel mehr Sprechzeit zur Verfügung, als sie tatsäch- lich ausnutzen.

    Der Vergleich der in diesem Beitrag analysierten Audio-Postings belegt, dass Sprachnachrichten unterschiedlich im kommunikativen Alltag der NutzerIn- nen verankert sind. Ein Feedback von DozentInnen per Sprachnachricht zu er- halten, wird in den chinesischen Daten als unmarkiert behandelt, ist aber im


    deutschen Vergleichskorpus nicht dokumentiert. Im Kontext informeller pri- vater Kommunikation zeigen sich Unterschiede in Bezug auf die Unmittelbar- keit des persönlichen Kontakts: Unter deutschen Studierenden werden Sprach- nachrichten rekurrent (aber nicht ausschließlich) dazu eingesetzt, konden- sierte Berichte vom Tag zu übermitteln (vgl. König 2021b). Diese Sprachnach- richten werden mit größerem zeitlichen Abstand verschickt und bedienen meist mehrere lines of talk, die typischerweise durch die in Abschnitt 3.3 aufge- zeigten sprachlichen Ressourcen der Diskursstrukturierung koordiniert wer- den. In den chinesischen Sprachnachrichten werden hingegen meist auf Un- mittelbarkeit angelegte ‚Momentaufnahmen‘ verschickt. Die NutzerInnen übermitteln Kurzbeschreibungen gegenwärtiger Erlebnisse oder tauschen sich über Fragen aus, die für ihr aktuelles Handeln relevant sind. Hierin dokumen- tiert sich zugleich die für chinesische Messenger-Kommunikation als typisch beschriebene Erwartungshaltung einer möglichst zeitnahen Antwort (vgl. Günthner & Kriese 2012: 61). Die Gattungsrepertoires (Günthner 2007) deut- scher und chinesischer NutzerInnen divergieren also darin, für welche kommu- nikativen Aktivitäten Audio-Postings eingesetzt werden. Der hier vorgestellte Vergleich der sequenziellen Einbettung und der sprachlichen Gestaltung von Audio-Postings in chinesischen und deutschen Messenger-Dialogen eröffnet also einen analytischen Zugang zu einem komplexen Zusammenspiel von Kom- munikationskulturen, kommunikativen Praktiken und medial-kommunikati- ver Affordanzen.

  6. Audio-Postings im Kontext DaF

    Folgt man dem bereits vielfach formulierten Anspruch einer an authentischem kommunikativen Handeln orientierten Mündlichkeitsdidaktik im Kontext DaF (Schramm 2017; Imo & Moraldo 2015; Günthner et al. 2021), so sollten auch Formen der mediatisierten Mündlichkeit in den Blick genommen werden, da die Interaktion über mobile Messenger einen wichtigen Teil der „digitale[n] Lebenswelt der Lernenden“ (Marx 2019: 164) bildet. Bislang liegen allerdings nur wenige Arbeiten vor, die sich mit einer Didaktisierung des Sprachge- brauchs in digitaler Kommunikation für den DaF-Unterricht befassen (etwa Dürscheid 2018; Mostovaia 2015; Imo 2013; König 2021a). Die Analyse von aktu- ellen DaF-Lehrwerken zeigt ferner, dass sie neue (meist schriftliche) Formen der internetbasierten Kommunikation zwar thematisieren, die Besonderheiten


    des dialogischen und situationsgebundenen Austauschs aber oftmals nicht adäquat zu erfassen vermögen (Marx 2019; Fandrych 2019). Bislang fehle es zu- dem an Leitlinien und Kriterien für die Bewertung von Texterzeugnissen der LernerInnen (Fandrych 2019). Marx stellt zur Disposition, ob Kurznachrichten- kommunikation überhaupt zum Gegenstand von Sprachproduktionsaufgaben gemacht werden kann bzw. muss, da sich ein informeller und handlungsbezo- gener SMS-Austausch im DaF-Unterricht nur schlecht simulieren lasse. „[D]ie damit verbundenen Spezifika sind am besten in der eigentlichen Situation von echten Akteuren zu erlernen.“ (Marx 2019: 168). Diese Überlegungen zeigen, dass die Befassung mit Formen der digitalen Kommunikation im Kontext DaF sehr voraussetzungsreich ist.

    Während die Beiträge von Buck & Bauer, Lanwer & Schopf und Weidner (i.d.B.) Ansätze diskutieren, wie die interaktional-linguistische Auseinandersetzung mit den grundlegenden Prinzipien zeitlich synchronisierter mündlicher Inter- aktionen für die Sprachvermittlung fruchtbar gemacht werden kann, eignet sich der Gegenstand der Mündlichkeit im Posting-Format in besonderem Maße für eine Reflexion sprachlicher Formen im Wechselspiel aus medialen Af- fordanzen und kulturell verfestigten Praktiken. Am konkreten Beispiel von Sprachnachrichten lässt sich somit einlösen, was Fandrych (2019: 59) als An- spruch einer auf den digitalen Wandel angepassten DaF-Didaktik formuliert:

    Die ihnen [den neuen Kommunikationsformen und -formaten, K.K. und L.D.] in- härenten Affordanzen und Begrenzungen sowie die veränderte Art, in welcher sie Wahrnehmung, Wirklichkeitskonstruktion und Handlungsmöglichkeiten (mit) beeinflussen, müssen thematisiert und reflektiert werden.

    Ein solcher Ansatz lässt etwa sich im Rahmen eines medienlinguistisch und kul- turkontrastiv ausgerichteten Seminars im Kontext DaF verankern. Studierende erschließen anhand von authentischen transmodalen Messenger-Dialogen, wie die in den Audio-Postings verwendeten sprachlichen Ressourcen auf die Bewäl- tigung der spezifischen Koordinationsaufgaben in dieser mediatisierten Form des mündlichen Kommunizierens zugeschnitten sind. Da bislang keine umfas- senden, öffentlich zugänglichen Korpora transmodaler Messenger-Kommunika- tion vorliegen, können als Materialgrundlage beispielsweise die in diesem Arti- kel verwendeten Messenger-Dialoge dienen.20 Über die Mobile Communication



    image

    20 Die Dialogprotokolle sind im Anhang des Bandes auffindbar.


    Database21 (https://db.mocoda2.de/) sind seit kurzem deutsche WhatsApp-Dia- loge mit Audio-Postings verfügbar, die für den Einsatz in der Hochschullehre aufbereitet wurden. Die Sprachnachrichten werden als abspielbare Audio-Da- teien mitsamt zeitalignierten Transkriptionen bereitgestellt.

    Ferner kann die „Verwobenheit kommunikativer Handlungen und kultureller Konventionen“ (Günthner 2018: 480) in einem sprach- und kulturkontrastiven Zugang diskutiert werden, der die der Nutzung von Audio-Postings zugrunde- liegenden Vorstellungen von den kommunikativen Bedürfnissen von Nutze- rInnen in einer zunehmend mediatisierten Alltagswirklichkeit, ihrer Zugäng- lichkeit und der situativen Angemessenheit bestimmter Posting-Formate und sprachlicher Mittel reflektiert. Auf diese Weise werden im Kontext eines

    ‚sprachrealistischen‘ DaF-Unterrichts nicht nur (vermeintlich) prototypische Formen mündlichen Alltagshandelns thematisiert. Vielmehr werden verschie- dene Facetten von Mündlichkeit mit Blick auf die sie prägenden Kommunika- tionsbedingungen erschlossen.

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21 Die MoCoDa ist eine online verfügbare Datenbank zur Archivierung und Aufbereitung au- thentischer (bislang überwiegend deutschsprachiger) Messenger-Kommunikation (vgl. Beißwenger et al. 2019).


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Ortwin Lämke

Gedichte sprechen und verstehen: zum Beispiel Ernst Jandl

Das Text-Sprech-Spiel als Methode szenischer Interpretation im DaF/DaZ-Unterricht

Zusammenfassung: Anhand dreier Bild- und Lautgedichte Ernst Jandls wird das Potenzial szenischer Interpretationsverfahren für den DaFZ-Unterricht belegt und damit zugleich ein konkreter Unterrichtsvorschlag angeboten. Das interaktional-kooperative Text-Sprech- Spiel (in Anschluss an Norbert Gutenberg) führt über die sprachlich-motorische Interaktion der Studierenden nicht nur zu einem lustvollen Spiel mit der Sprache, sondern nachweisbar auch zu einem vertieften Verständnis der vom Wortmaterial her einfach erscheinenden, inhaltlich komplexen Gedichte Jandls. Die Studierenden entwickeln qua Interaktion in ihrer szenischen Darbietung immer wieder neue Deutungsvorschläge, die in der Anschlusskom- munikation expliziert werden. Ein solch performativer Umgang mit dem Gedicht wirft im- plizit die in der Literaturwissenschaft ausgiebig diskutierte Frage nach der Stimme auf, nach den Personen- und Kommunikationsstrukturen im Gedicht. Diese lyriktheoretischen Impli- kationen werden am Beispiel von Balladen Goethes und Gedichten Heinrich Heines skizziert, um auf die Relevanz der Begriffe „Textsubjekt“ (Burdorf) und „Leerdeixis“ (Spinner) zu ver- weisen. Ernst Jandls Gedichte auf ein „lyrisches Ich“ zu reduzieren, so die These, würde ihnen nicht gerecht. Die fundamentale Dialoghaftigkeit des Textsprechens wird deutlich in der Interaktion beim Vorbereiten, beim Darbieten sowie in der nachträglichen Reflexion des Text-Sprech-Spiels. Es handelt sich um einen intensiven hermeneutischen Prozess zwischen Sprecher, Text und Hörer, der die Lernenden in den Mittelpunkt stellt und lustvolle senso- motorisch-rhythmische Erfahrungen mit Sprache und Interaktion aufruft, wie sie schon beim Erlernen und Einüben der Muttersprache erlebt wurden.

Abstract: On the basis of three visual and sound poems by Ernst Jandl, the potential of scenic interpretation methods for teaching German as a foreign Language is demonstrated and a practical teaching proposal is offered. Through linguistic-motor interaction, the interactive- cooperative text-speech game (after Norbert Gutenberg) leads the students to a cheerful play with language as well as to a deeper understanding of Jandl’s poems, which appear simple in terms of the word material but are complex in terms of content. Through this interaction, the students constantly develop new interpretations of Jandl’s poems within their scenic presentations, which are explained in the subsequent communication. Such a performative approach to literary text inevitably raises the implicit question of the voice, the perspective and communication structures in poetry; and therefore touches upon an ongoing discussion in literary scholarship. These lyrical-theoretical implications are sketched out using the ex- ample of Goethe’s ballads and Heine’s poems in order to point out the relevance of the terms


“text subject” (after Dieter Burdorf) and “leerdeixis” (after Kaspar H. Spinner). To reduce Ernst Jandl’s poems to a “lyrical narrator”, according to the thesis, would not do them justice. Especially the fundamental dialogical nature of speaking a text becomes evident in the inter- action during the preparation, as well as during the performance and in the reflection of the text-speaking game. It is an intensive hermeneutic process between the speakers, the text and the listeners that focuses on the learners and invokes pleasurable sensomotoric-rhyth- mic experiences with language and interaction, for example when they have been learning and practicing their first language.


  1. Einleitung

    Das Textsprechen ist eine Methode, die im DaF-/DaZ-Unterricht noch nicht wirklich angekommen ist.1 Dabei bietet es den Vorteil, Lerner:innen mit viel Freude an Klang und Rhythmus, Prosodie und Phonetik der deutschen Sprache heranzuführen. Und dies im Sinne eines kooperativen, lernerzentrierten, den Körper einbeziehenden und fast sämtliche Sinne ansprechenden Unterrichts.

    Was aber ist das hier als Unterrichtsmethode vorgeschlagene Textsprechen überhaupt? Die Sprechwissenschaft, die ihre didaktische Orientierung in der Sprecherziehung ausweist, hat hierzu unterschiedliche Definitionen entwickelt, das „interpretierende Textsprechen“ (H. Geißner), das „gestische Sprechen“ (H.

    M. Ritter) oder auch die „ästhetische Kommunikation“ (N. Gutenberg) (vgl. Lämke 2011a: 185-189; Ritter 2011: 191-199). Diese Definitionen unterscheiden sich vor allem in ihrer theoretischen Begründung, bei der praktischen Herange- hensweise gibt es Überschneidungen. So schließt Hans Martin Ritter in der Schauspiel-Ausbildung an Brechts Gestus-Begriff an, während Norbert Guten- berg auf Grundlage eines hermeneutischen Verständnisses von Kommunikation wie bei Hellmut Geißner eine eigene ästhetische Theorie entwickelt, die das künstlerische Sprechen einbezieht.2 Gutenberg (vgl. 2020: 17-26) beruft sich da- bei unter anderem auf die kulturhistorische Schule und ihr Verständnis vom

    „Spiel“, etwa auf Elkonin, der das Spiel als Nachgestalten sozialer zwischen- menschlicher Beziehungen einordnet, als Rollenspiel. Zentral ist dabei das Sprechhandeln als Modus und Form der ästhetischen Kommunikation. Die Form


    image

    1 Eine Ausnahme bildet Anke Stöver-Blahak (2012: 95), die diesen Befund bestätigt: „Dass Vertreter der Ästhetischen Kommunikation bisher dem Bereich DaF wenig Beachtung schenken, wurde [...] ausführlich dargelegt. Aber auch theater- und dramenpädago- gisch arbeitende Fremdsprachendidaktiker sehen das Potential von Gedichten für die Entwicklung der Sprech- und Vortragskompetenz selten.“

    2 Vgl. das Kapitel „Ästhetik – Spiel – Kunst: Basiskategorien“ (Gutenberg 2020: 9-48).


    ästhetischer Kommunikation kann nach Gutenberg dann als gelungen bezeich- net werden, wenn das konkrete Sprechhandeln als Modus beim Zuhören und Betrachten ästhetischen Genuss auszulösen vermag. Damit wird auch die „fun- damentale Dialoghaftigkeit“ der „Sprechhandlung Textsprechen“ klar, die stets im Zusammenhang eines hermeneutischen Prozesses zwischen Sprecher, Text und Hörer steht und also einen interaktionalen Rahmen aufweist (Gutenberg 2020: 166).

    Für die Erarbeitung der Sprechfassung eines literarischen Texts liefert Gutenberg spiel- und theaterpädagogisch inspirierte Arbeitsvorschläge, die er „Text-Spiel“ nennt. Diese Vorschläge ersetzen keine strukturanalytische und semantische Un- tersuchung der im Unterricht behandelten Texte. Sie vermögen aber oft genug, ein semantisches Potential dieser Texte freizulegen, das sich nicht auf den ersten Blick offenbart (vgl. Gutenberg 2020: 170 und 172). In früheren Arbeiten hatte Gu- tenberg das „Text-Spiel“ mit dem Begriff „Sprechspielen“ gekennzeichnet.3 Hie- ran anknüpfend möchte ich im Folgenden den Begriff Text-Sprech-Spiel benut- zen, da mein Ansatz das Sprechspielen auf der Grundlage von Gedichten mit dem Spielen unter Einsatz des Körpers kombiniert. Textsprechen in klassischer Form, die Rezitation, setzt eine klare Grenze zum Spiel, meidet Bewegung und arbeitet vor allem mit Sprechausdruck, Mimik und Gestik. Das Text-Sprech-Spiel ist also die konkrete Methode des Textsprechens, von der hier die Rede sein soll.

    Ich begründe im Folgenden die Wahl dieser Methode aus ontogenetisch-psy- chologischer Perspektive und situiere sie kurz in die Deutschdidaktik (Ab- schnitt 2). Anschließend gehe ich auf die Frage nach der Stimme beim Text- sprechen ein, die lyriktheoretische Implikationen aufweist (Abschnitt 3). Es folgt ein konkreter Unterrichtsvorschlag zum Text-Sprech-Spiel mit Gedichten von Ernst Jandl (Abschnitt 4), der paradigmatisch belegen soll, wie sich aus die- sem Spiel Impulse für ein erweitertes Verständnis der Gedichte Jandls entwi- ckeln (Abschnitt 5). So ergibt sich auch, dass etliche Gedichte Ernst Jandls über eine reduzierte, unterschiedlich auslegbare Deixis verfügen, eine „Leerdeixis“ im Sinne Kaspar H. Spinners, die allerdings nicht durch ein „lyrisches Ich“ ge- füllt werden muss.



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    3 Vgl. Gutenberg (1994), Abschnitt „Spielen“, 353-363. „Sprechspielen“ wird dort als „Sprech- spielhandeln“ verstanden.


  2. Zur Methode des Text-Sprech-Spiels

    Warum ist diese Methode des Textsprechens insbesondere für den interaktio- nal orientierten DaF/DaZ-Unterricht geeignet? Die Begründung ist zunächst eine ontogenetisch-psychologische. Für Kinder spielen beim Erlernen ihrer Muttersprache rhythmische Elemente wie Klatschspiele zu Versen, Abzähl- reime und Lieder in Kombination mit Bewegung eine große Rolle. Kleinkinder werden zum Textrhythmus auf den Knien gewiegt und genießen es, „in den Graben“ zu fallen, um dennoch sicher von der Vertrauensperson aufgefangen zu werden („Hoppe hoppe Reiter“-Spiel zu Kniereitversen). Sie erlernen Reime beim Fingerspiel („Das ist der Daumen / Der schüttelt die Pflaumen“ etc.).4 Im Vorschulalter spielen sie Spring- und Hüpfspiele, bei denen etwa die Koopera- tion zweier Kinder beim Schlagen eines Seils und das Hüpfen des dritten Kindes über das Seil durch ein an die Schlagbewegung angepasstes, lautes rhythmi- sches Mitsprechen von Phantasieversen koordiniert wird. Solche spielbeglei- tenden Verse variieren regional und demonstrieren neben der Bewegungs- freude die sprachliche Kreativität von Kindern („Der Kaiser von Rom, der hatte

    ´nen Sohn. / Der Sohn war zu klein, um Kaiser zu sein. / Ist ja auch klar, er war ja erst ein Jahr“ und sofort wieder von vorne). Und sie demonstrieren anschau- lich, wie Kinder Kooperation über Sprache erlernen und die Sprache in der Ko- operation: im Spiel, mit dem ganzen Körper und mit Freude an der Bewegung wie am Sprechen, das ja ebenfalls Bewegung ist, wenn auch im feinmotorischen Bereich. Man kann also davon ausgehen, dass Studierende in der Regel über eine sensomotorisch lustvolle Erfahrung mit rhythmisierter Sprache aus ihrer Kindheit verfügen. An diese positiven Erfahrungen lässt sich im DaF/DaZ-Un- terricht sehr gut anknüpfen. Insbesondere der rhythmische Aspekt des Text- sprechens beim Text-Sprech-Spiel ist hier wichtig: Der Rhythmus erleichtert die Segmentierung auf Wortebene, das Erkennen der Wörter und damit das se- mantische Verständnis. Es vereinfacht durch Assonanzen und Reime das Hör- verständnis und schult über die auditive Rückkopplung die Aussprache.

    Rüdiger Zymner (2013: 313 f.), der die „Funktionen der Lyrik“ aus anthropolo- gisch-psychologischer Sicht reflektiert, was in der Literaturwissenschaft durch- aus ungewöhnlich ist, fasst seine Erkenntnisse wie folgt zusammen:



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    4 Vgl. weiterführend Franz; Payrhuber; Meier (Eds.): 2016.


    Man könnte [...] formulieren, dass es eine, wenn nicht die grundlegende und wichtigste generelle Funktion von Lyrik ist, die pränatal angelegte und als evo- lutionäre Adaption zu beschreibende menschliche Disposition zur Wahrneh- mung und zur Vermittlung von Erlebnisqualitäten (seiner selbst und der Welt um einen herum, wie sie sein könnte oder sollte: nämlich z. B. heil und ganz) zu praktizieren oder zu üben, und zwar zumeist im Organisations- oder Lustmodus des ‚heiteren Spiels‘ und nicht im Funktionsmodus des ‚ernsten Lebens‘.5

    Wenn der Unterricht sich also mit dem Text-Sprech-Spiel der Lyrik zuwendet, so trifft er eine ihrer grundlegenden Funktionen und knüpft an ein positives Erleben von Sprechen und Kooperation, Bewegung und Sinneswahrnehmung im Sinne wechselseitig vollzogener Interaktion an. Gerade deswegen bietet die Lyrik sich für das Text-Sprech-Spiel an, und zwar auch im Rahmen der DaF/ DaZ-Didaktik. Denn viele Lautgedichte etwa erlangen erst im subjektiven Vor- trag eine für andere erkennbare semantische Füllung. Und – diese Erfahrung liegt aus dem Unterricht mit chinesischen, usbekischen, aber auch deutschen Studierenden vor – die Freude am gemeinsamen Text-Sprech-Spiel ist bei allen vorhanden, ob Lerner:innen der Fremdsprache oder Muttersprachler.

    Anke Stöver-Blahak (vgl. 2012: 90) hat darauf hingewiesen, dass eine solche Herangehensweise die Kriterien des handlungs- und produktionsorientierten Ansatzes im Fremdsprachenunterricht erfüllt. Auch sie benutzt den Begriff

    „Ästhetische Kommunikation“ nach Gutenberg und aus der Perspektive der Sprechwissenschaft/Sprecherziehung. Stöver-Blahak mustert dabei durch, was an didaktischen Vorschlägen zum Textsprechen im DaF-Unterricht vor- liegt, und stößt auf wenige Beispiele (vgl. insbesondere 2012: 92-104). Ihre qua- litative Unterrichtsstudie stellt ein eigenes Modell zur Erarbeitung der Sprech- und Vortragsfassung eines Gedichts im DaF-Unterricht vor und weist nach, dass Methoden der Ästhetischen Kommunikation im DaF-Unterricht „in stu- dienbegleitenden heterogenen Gruppen an Universitäten sinnvoll eingesetzt werden“ können (Stöver-Blahak 2012: VII).6

    Nun geht es beim Text-Sprech-Spiel nicht um die Erarbeitung angemessener Sprechfassungen von Gedichten. Der Ansatz ist niedrigschwelliger und zunächst



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    5 Als „adaptiven Zweck“ der lyrischen Erlebniswahrnehmung sieht er dabei u.a. die „Flexi- bilisierung und Differenzierung der emotionalen Verhaltensmöglichkeiten“ wie der „Mög- lichkeiten des Sozialverhaltes“ durch eine „(lyrische) Poetisierung der Welt“. Als proxima- tive Funktionen nennt er u.a. die „exosomatische Speicherung und Tradierung von ‚Erleb- niswissen‘“, die „soziale Bindung im lyrischen Erlebnis (etwa von Gesang oder Gebet)“ und die „Artikulationsmöglichkeit von Ich- und Weltzuständen“ (Zymner 2013: 314).

    6 Zu ihrem Modell vgl. ebd. Abb. 8 auf Seite 127 und dessen Erläuterung Seite 125 f.


    einmal dazu geeignet, Abwechslung sowie Handlungs- und Produktionsorientie- rung in den Unterricht einzubringen. Er soll an das kindliche Erleben von Sprechfreude in Verbindung mit Bewegung anzuknüpfen, die sozialen Bindun- gen unter den Lernenden durch ebenfalls sprachlich zu bewältigende Koopera- tionsaufgaben stärken und sie durch Ideen zu den Texten, die sie gemeinsam entwickelt haben, für die Anschlusskommunikation über die Gedichte interes- sieren, indem sie ihre sprechspielerische Darbietung des Gedichts begründen und den Text so reflektieren. Oder, mit Kaspar H. Spinner formuliert: „Mit den szenischen Verfahren [...] ist gerade eine wechselseitige Stimulation von Den- ken, Fühlen, und Vorstellen intendiert.“7

    Warum der Bezug auf ein sprechwissenschaftliches Konzept des Textspre- chens? Gelangt man durch Einbezug von Bewegung, also Kinetik, Mimik, Ges- tik, Proxemik beim Textsprechen nicht zwangsläufig zum Schauspiel, in die Theaterpädagogik oder in den Bereich des Darstellenden bzw. Szenischen Spiels? Auch bei Gutenberg sind die praktischen Vorschläge zum „Text-Spiel“ unter anderem aus dieser Richtung beeinflusst. Der Unterschied liegt nun aber nicht in den Körper- und Interaktionsspielen, die aus der Schauspielausbil- dung, Theaterpädagogik oder dem Darstellenden bzw. Szenischen Spiel be- kannt sind und sich darüber hinaus immer wieder als ausgesprochen brauch- bar für das Textsprechen erweisen. Erarbeitet man die Sprechfassung eines Ge- dichts für die Rezitation, setzt man Spiel und Bewegung ein, wenn es um Ges- tus, innere Haltung und den passenden Sprechausdruck geht. Diese Elemente werden aber später im Gedichtvortrag überwiegend zurückgenommen.

    Das Text-Sprech-Spiel sei kurz methodisch und didaktisch verortet: In der Li- teraturdidaktik unterscheidet man Darstellendes (auch: Szenisches) Spiel und Szenisches Interpretieren.

    Das Darstellende Spiel folgt spiel- oder theaterpädagogischen Ansätzen, die Körper- und Interaktionsspiele, das Rollen- und Theaterspiel umfassen (vgl. Lenakakis 2004: 64 ff.).8 Kerstin Hillegeist (2010: 20 f.) weist auf den für unseren Zusammenhang zentralen Punkt hin:



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    7 Kaspar H. Spinner: Vorwort in: Kunze (1997), 7-9, hier Seite 8.

    8 Siehe dort auch die Übersicht zu Theorie und Methodik der Spiel- und Theaterpädago- gik in den 1990er Jahren, 55-68.


    Sprache ist kein Hauptmerkmal des Darstellenden Spiels. In den personalen For- men, wie dem Rollenspiel, wird die verbale Wirkung mit einbezogen, aber in per- sonalen Formen wie der Pantomime oder dem medialen Spiel mit Figuren und Masken tritt Sprache in den Hintergrund.

    Natürlich wird auch im Darstellenden oder Szenischen Spiel mit Sprechhaltun- gen gearbeitet, aber eben überwiegend auf Situationen und Rollen bezogen. In der Regel geht es dabei nicht um das Sprechen von Gedichten. So berücksich- tigt Ingo Schellers breit rezipiertes Handbuch zum Szenischen Spiel im 4. Ka- pitel zwar auch die szenische Interpretation, aber im Mittelpunkt stehen Hal- tungen, Erlebnisse, biographische Ereignisse. Der Abschnitt zur „Szenischen Interpretation von Texten, Bildern und Filmen“ enthält zum Thema Gedicht- sprechen nur einen einzigen Satz (vgl. Scheller 2012: 178).

    Das Text-Sprech-Spiel lässt sich als methodisch-didaktisches Verfahren daher adäquater dem Szenischen Interpretieren zuordnen. Hier steht der Aspekt des Verstehens im Vordergrund, die „Interpretation des Textes über szenische Sprechhandlungen“ (Hillegeist 2012: 21).9 Schon Albrecht Schau als Vertreter des Szenischen Interpretierens knüpft wie Gutenberg an die Kulturhistorische Schule und deren Vorstellung vom Menschen als „Tätigkeitssubjekt“ an, das sich die Welt ganzheitlich aneignet (vgl. Schau 1996, 23). Für ihn ist „das Sze- nische Interpretieren [...] durchaus als Strategie der Ergänzung zu verstehen. Es kann den traditionellen Literaturunterricht, der wesentlich auf kognitiv- analytische Texterschließung aus ist, sinnvoll weiterführen“ (ebd.). Dabei sol- len sprachliche, körpersprachliche, motorische und sinnliche Wahrnehmung

    „mit kognitiv-analytischen Operationen eine spannungsvolle Konstellation eingehen“ (ebd.). In diesem Sinne verstehe ich auch das Text-Sprech-Spiel als lustvollen Impuls für die weitere Beschäftigung mit Gedichten im DaF/DaZ-Un- terricht, als in der Interaktion vollzogenes Erschließen von Texten.

  3. Textsprechen und Lyrik: Die Frage nach der Stimme

    Es geht beim Versuch, Gedichten durch eine Sprechversion gerecht zu werden, auch um eine Gattungsfrage. Das Textsprechen kann nicht bei der traditionellen Rezitation stehen bleiben, wenn es um Lyrik der Moderne geht, etwa um Ernst Jandls Laut- und Bildgedichte. Das Dilemma fängt schon mit den Klassikern an.


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    9 Für die Sprecherziehung ist das „szenische Sprechen“ Teil des „Gestaltenden Sprechens“, zu dem als weitere Elemente das Vorlesen und Vortragen gehören. Vgl. Hillegeist (2010: 22) und Ertmer (1996: 139 ff.).


    Zwar kennen wir Rollenlyrik (Goethes „Prometheus“), aber sie bildet eher die Ausnahme und wird nicht adäquat umgesetzt, wenn man sie einfach wie einen Monolog auf dem Theater behandelt. Lyrisches Sprechen geht auch nicht in (durchaus dramatisierbarer) Figurenrede auf (Goethes „Erlkönig“). Lyrik zeich- net sich häufig durch eine komplexe „Ich-Hier-Jetzt-Deixis“ aus10, eine mehr oder weniger abstrakte Erzählinstanz (siehe die 1. und 8. Strophe des „Erlkö- nigs“). Sie kann sogar vollständig abstrakt auftreten oder schlicht fehlen, so dass es in der Lyriktheorie und -systematik den Vorschlag von Dieter Lamping (1993: 30-36) gab, etwa bestimmte Bildgedichte von den „lyrischen“ Gedichten abzu- grenzen, weil sie keine „Rede in Versen“ mehr darstellen. Dieter Burdorf ent- wirft dagegen vor dem Hintergrund eines ebenfalls hermeneutischen, aber wei- ter gefassten Lyrikbegriffs ein Modell, das zwischen den Instanzen eines Autors als Urheber eines Textes, eines Textsubjekts (verantwortlich für die Gesamtor- ganisation und -form des Textes) sowie eines „artikulierten“ oder „sprechen- den“ Ichs im Text unterscheidet.11 Auch narratologisch fundierte Lyriktheorie identifiziert unterschiedliche Erzählebenen und bestimmt einen „Sprecher 2“ (Borkowski / Winko) als entweder konkrete, gegebenenfalls auch abstrakte Er- zählerfigur in einem lyrischen Text.12 Der Befund zeigt auch: Moderne Klassiker der Lyrik vermeiden seit den 1980er Jahren (etwa Thomas Kling oder Sabine Scho) das „lyrische Ich“ in ihren Gedichten offenbar sehr bewusst, ein Ich tritt vielfach nur als Zitat hervor. Sie legen „Sprachinstallationen“ (Kling) an, deren intertextuelle und intermedialen Bezüge so zahlreich sind, dass ihr Monta- gecharakter dominiert (siehe etwa den Band „Album“ von Sabine Scho).13


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    10 Vgl. hierzu Klaus W. Hempfer, der sich auf Bühlers Ich-Origo bezieht (Hempfer 2015: 34 und 68 f.).

    11 „Der Gestaltungsimpuls des Autors / der Autorin hat ein Pendant im Text selbst: Er / Sie ist als strukturierende Instanz in das Gedicht eingegangen [...], gleichsam als Platzhalter des empirischen Autors im Text. Nur so können wir Gedichten eine Mitteilungsintention unterstellen, die es in der Rezeption aufzunehmen gilt.“ (Burdorf 2015: 195). So bewertet Burdorf den Erzähler im „Erlkönig“ als fiktiven Erzähler, der als „Urheber der fiktiona- len Handlung angesehen werden kann, jedoch nicht mit dem Textsubjekt identisch, son- dern ebenfalls von diesem gesetzt ist [...]“ (Burdorf 2015: 197). Die Textsemiotik spricht vom „abstrakten“ oder, etwas anders aufgefasst, vom „impliziten“ Autor.

    12 Vgl. das „Modell der Sprechinstanz im Gedicht“ von Borkowski und Winko (2011: 64- 77). Ich kann hier nicht auf die in der germanistischen Literaturwissenschaft immer noch schwelende Debatte um das „lyrische Ich“ eingehen. Siehe hierzu grundsätzlich unter anderem auch Spinner (1975), Martínez (2002), Schönert (2004) und Lösener (2006).

    13 Zuerst in: Thomas Kling entdeckt Sabine Scho. Gedichte. (2001). Hamburg / Wien: Europa Verlag. Aktuelle Ausgabe vgl. Sabine Scho (2008).


    Will sagen: Angesichts der komplexen Textlage in Gedichten kann es in der Re- gel nicht um ein Rollenspiel gehen, auch wenn sich die Rollen des Vaters, des Sohnes und des Erlkönigs sowie des Erzählers in der Ballade auf unterschiedliche Sprecher:innen verteilen lassen. Der Erzähler hat hier keine Kontur, lediglich eine Stimme. Daher sollte der Rhapsode nach Ansicht Goethes und Schillers (Goethe 1986: 128) beim Vortrag am besten hinter einem Vorhang sprechen:

    Der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedicht nicht selbst er- scheinen, er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im Allgemeinen zu hören glaubte.14

    Für Goethe und Schiller existierte demnach ebenfalls eine Instanz, die den Text vermittelt, aber nicht mit dem Erzähler oder ihnen selbst als Autoren identisch ist: Es geht offenbar um das Phänomen der Stimme als einer eigenen Instanz. Als „Stimme der Musen“ besitzt sie eine Besonderheit: Sie repräsentiert meh- rere sprechende Figuren oder Instanzen wie den Erzähler, hörbar wird aber nur eine Stimme. Die Stimme der Musen meint die Perspektive des Textes als Ganzem. Damit wäre Goethe nicht direkt für den ahnungslosen Erzähler im

    „Erlkönig“ verantwortlich, der das Thema sexualisierter Gewalt an Kindern unkommentiert lässt. Und auch der hämische Erzählerkommentar im „Hei- denröslein“ repräsentierte die Stimme der Musen und nicht die des Autors, der ja die Vergewaltigung gerade zum Thema macht.

    Natürlich gibt es auch bei Ernst Jandl dramatisierbare Gedichte und Texte, etwa

    „die humanisten“, das schon im Untertitel als „konversationsstück in einem akt“ ausgewiesen wird. Aber die Regel ist bei ihm ein abstrakter „Sprecher 2“, ein „artikuliertes Ich“ (wenn es denn beim „Ich“ bleibt), das als Leerstelle erst durch den Text gefüllt werden muss. Seine Bild- und Lautgedichte sind komple- xer strukturiert, hier existiert in der Regel auch keine abstrakte Erzählerfigur. Nehmen wir nur „schtzngrmm...“, das Jandl im eigenen Vortrag akustisch als modernen Kriegsschauplatz inszeniert. Er spricht zu Gunsten dieser Interpre- tation etwa das „t-t-t“ nicht getreu der Textvorlage aus, sondern als „d-d-d“,



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    14 Goethe und Schiller entwickeln hier den Gegensatz zwischen dem Epiker und dem Dra- matiker. Dabei stellen sie sich den Dichter entsprechend als Rhapsoden und Mimen an- gesichts seines Publikums vor. Sie fassen das Rezitieren oder Schauspielen also als kom- munikative Situation auf, als Interaktion zwischen Rhapsoden und Publikum. Für die häufig als Sonderfall betrachtete Mischform der Ballade und ihren Vortrag dürften diese Bemerkungen ebenso gelten wie für epische Texte.


    um es deutlicher als Maschinengewehrfeuer zu kennzeichnen.15 Weiter sind Panzer und explodierende Granaten zu hören, ein Schlachtenlärm, der von ei- nem menschlichen Subjekt mittels als Geräusche dargebotener Konsonanten- kombinationen imitiert wird. Burdorfs hermeneutisch verstandener Begriff des

    „Textsubjekts“ erlaubt es, dieser „Soundscape“ als Ganzes eine Intention zu un- terstellen, wie sie im Vortrag hörbar wird. Nun ließe sich mit Borkowski/Winko argumentieren: Wozu benötigt man den Begriff „Textsubjekt“ oder „abstrakter Autor“? Man sollte gleich „Autor“ bzw. in unserem Fall „Ernst Jandl“ sagen. Das erscheint zunächst schlüssig, gerade wenn „Sprecher 1“ (die textexterne reale Kommunikationsinstanz) und „Sprecher 2“ (die textinterne Kommunikations- instanz, hier der nicht-figürliche Urheber der Äußerungen im Gedicht) zusam- menfallen, wenn also der Autor seinen Text selbst vorträgt. Dennoch finden sich hierzu zwei Gegenargumente. Das erste betrifft den Bereich der Perfor- manz, ist also auf die Sprechfassung des Gedichts und die konkrete Kommuni- kationssituation beim Gedichtvortrag bezogen, das zweite betrifft die reine Textebene.

    Zum ersten Argument: Wir wissen, dass ein Gedichtvortrag in der konkreten rhythmisch-prosodischen Realisierung des Textes dessen Semantik für die Hö- rer mit festlegt. Der jeweiligen Sprechfassung eines Gedichts entspricht stets eine bestimmte Kommunikationsabsicht und damit Interpretation seines Wortlauts.16 Im Vortrag lassen sich performativ in vielen Fällen auch eine an- ders ausgerichtete Mitteilungsabsicht und ein (zumindest teilweise) anderes Verständnis für die Hörer verdeutlichen. Sonst wäre nicht fast jedes Gedicht mittels rein rhythmisch-prosodischer sprecherischer Mittel parodierbar, also ohne Abweichung vom Text, auch wenn sie dann womöglich nicht mehr um eine werkadäquate Interpretation im Sinne Geißners (vgl. 1981: 178 f.) handelt, die ihrem historisch zu verortenden Sinn angemessen wäre. Darüber hinaus gibt es Texte, deren Ambivalenz, die sich nur durch eine Mehrfachlektüre er- schließt, im Vortrag im Grunde nur adäquat durch zwei nebeneinander ge- stellte, vom Gestus her sich widersprechende, vom Text her schlüssig zu recht-


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    15 Vgl. Ernst Jandl (2016): Werke, Bd. 1, 127 und seine Sprechversion auf https://www.lyrik line.org/de/gedichte/schtzngrmm-1230 (06.01.2022).

    16 Siehe hierzu auch Lösener (2006: 6-8). Ich zitiere nach der online zur Verfügung ste- henden überarbeiteten Fassung: https://loesener.de/wp-content/uploads/2013/04/loe sener-lyrisches-ich.pdf (06.01.2022).


    fertigende Sprechversionen hör- und fassbar wird. Ich verweise auf das Bei- spiel „Enfant perdü“17 aus dem „Romanzero“ (1851) von Heinrich Heine, das von den Interpreten als „poetologisch-politisches Testament“ aufgefasst wird und das sich vom Gestus her – bildlich gesprochen – adäquat mit erhobener Faust („Doch fall‘ ich unbesiegt, und meine Waffen / Sind nicht gebrochen [...]“) oder auch mit gesenktem Kopf rezitieren lässt („Ich kämpfte ohne Hoff- nung, daß ich siege, / Ich wußte, nie komm‘ ich gesund nach Haus.“). Diese Ambivalenz basiert auf Heines dialektischer, an Hegel geschulter Denkweise. Das sich artikulierende Ich („Sprecher 2“) im Gedicht bekennt sich zu seinem Kampf im Befreiungskrieg der Menschheit und sieht seine Texte als ungebro- chene Waffe darin. Zugleich fällt es in diesem Krieg („-- Nur mein Herze brach“), und die anderen, die nachrücken, übernehmen womöglich nur seinen

    „[v]erlor‘ne[n] Posten“. Ich habe darauf hingewiesen, dass „enfant perdu“ im

    19. Jahrhundert im Französischen ein militärischer Fachausdruck ist, der wört- lich „verlorener Posten“ bedeutet und sich damit programmatisch im Titel versteckt.18 Dass Heine nach 1848 generell die hegelianische Geschichtslogik kritisch in Frage stellt und im 1851 erschienenen „Romanzero“ den Glauben an den Fortschritt in der Geschichte geradezu dekonstruiert, ist in der Heine-For- schung hinlänglich bekannt. Kurz: Eine einzelne Sprechfassung erschöpft viel- fach nicht das semantische Potential eines Gedichtes. Es braucht manchmal zwei, vielleicht auch mehrere, um ihm gerecht zu werden. Das verwundert nicht, denn wir haben es mit einer Gattung zu tun, die für komplexe, mehrfach- bis überstrukturierte Sprachgebilde steht: Die semantische, rhythmische, met- rische, phonetische Ebene (sie spielt auch in der stillen Lektüre eine Rolle) wird beim Textsprechen noch um Melos, Timbre und Geräuschhaftigkeit, also die Ebenen der Stimmführung und des Stimmklangs, erweitert. Wenn wir Tonauf- nahmen von Ernst Jandl selbst zur Verfügung haben, scheint das Problem ge- löst, dann verstehen wir die Mitteilungsabsicht des Autors. Aber besitzt er die Lizenz, die Bedeutung etwa seiner Lautgedichte qua persönlicher Sprechfas- sung zu fixieren? Auf diese Idee würde die Literaturwissenschaft mit guten Gründen nicht kommen, und aus sprechwissenschaftlicher Sicht kann man ihr


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    17 http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/werke/baende/D03/index_html?widthgi ven=30 (121-122).

    18 Vgl. Lämke (2004: 41-43) sowie die Analyse der Sprechversionen von Lutz Görner und Cornelia Kühn-Leitz im Abschnitt „Sprechversion und Interpretation: „Enfant perdü“ in Lämke (2011: 62-67).


    da nur zustimmen. Wenn wir mit Burdorf ein textinternes „Textsubjekt“ als Instanz zwischen dem textexternen Autor und dem mehr oder weniger abs- trakten „Sprecher 2“ voraussetzen, müssen wir den Autor nicht für mögliche Sprechfassungen verantwortlich machen, die sein Text zulässt, dem Text aber nicht den Sinn verleihen, den er selbst darin nicht erkennt. Umgekehrt vermö- gen wir unter Umständen mittels zweier nebeneinander gestellter Sprechversi- onen sogar eine komplexe Textlage in ihrer ganzen Ambivalenz oder Dialektik unmittelbar hörbar zu machen und damit zu veranschaulichen. Wir tun also gut daran, bei der Erarbeitung des Gedichtvortrags flexibel mit der rhyth- misch-prosodischen Gestaltung umzugehen und womöglich sogar mit ihr zu spielen, um uns nicht zu früh auf eine bestimmte Deutung festzulegen.

    Der „Erlkönig“ als Ballade ist gängiger Bestandteil der Sek I, teils sogar der Grundschule. Nähert man sich dem Text qua „Sprech-Spiel“ (Gutenberg) und lässt im Unterricht unterschiedliche Sprechhaltungen (z.B. aggressiv) und Sprechgestaltungen erproben (z.B. erotisch), wird das semantische Potential der Zeilen: „‘Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; / Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt‘“ unmittelbar hör- und spürbar. Man benötigt dann nicht mehr 200 Jahre, um das Thema sexualisierter Gewalt an Kindern im

    „Erlkönig“ zu entdecken bzw. zu thematisieren. Der Erlkönig, so von Bormann (1996: 214), ist „zu Vergewaltigung bereit, ein Skandalon, das schwer zu ent- wörtlichen ist.“ Die Vorstellung eines Textsubjekts bewahrt womöglich auch vor psychoanalytischen Schlüssen wie dem Herman Belands (1996: 32, Fußnote 25): „Das Gedicht ʽerklärtʼ den Dichter.“19 Hier wird der Verfasser des Textes in Haftung genommen, weil er ein Tabu zur Sprache bringt. Nicht zufällig liefert der Erzähler keine Erklärungen, aber sein Autor durchbricht das Tabu willent- lich, ähnlich wie beim „Heidenröslein“. Ohne dass ich an dieser Stelle weiter darauf eingehen könnte, sollte der „Erlkönig“ tatsächlich besser in der Sek. II behandelt werden, und zwar mit Hilfe des Textsprechens als Sprechspielen so- wie unter Einbezug der zahlreich vorhandenen multimedialen Angebote, die sich im Internet finden lassen: Rezitationen, Animationsfilme, Vertonungen


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    19 Beland, der Goethes Leistung würdigt, das Tabu zum Gegenstand seiner Ballade zu er- heben, setzt hier ein Anführungszeichen. Dennoch ist es der Versuch, den Text aus der Psyche seines Autors zu erklären, als Mut zur „Selbsterkenntnis (Selbstanalyse)“ (1996: 16). Gemeint ist die „Anerkennung des eigenen paranoiden Denkens (und seiner homo- sexuellen Abwehr)“, vielleicht sei der Text „ein Wendepunkt im Kampf zur Überwin- dung des paranoiden Denkens“ (1996: 32).


    durch Schubert und andere, Parodien, Comedy-Beiträge usw. Man kann Schü- ler:innen dort analytisch arbeiten lassen, wo sie sich gern aufhalten, z.B. bei YouTube. Die Ballade wie deren Behandlung im Unterricht wird dadurch Le- bendigkeit und Interesse erfahren, die ihr oft genug zu Unrecht für den Unter- richt abgesprochen worden sind.20

    Zum zweiten Argument: Bisher habe ich mit der Möglichkeit unterschiedlicher textangemessener Sprechfassungen zu einem Gedicht argumentiert, um den Begriff des „Textsubjekts“ zu rechtfertigen, also auf der Ebene der Performanz. Ich nehme ein zweites Beispiel, um auf der Textebene selbst pro „Textsubjekt“ zu argumentieren. Das Beispiel folgt direkt auf „Enfant perdü“, also auf das letzte Gedicht aus dem Unterzyklus „Lazarus“ in den „Lamentazionen“ als Zweitem Buch des „Romanzero“. Unmittelbar auf die Selbstinszenierung des

    „Sprechers 2“ als treffsicherer Kämpfer („So schoß ich gut [...]“) folgt das Mot- togedicht des Dritten Buches, der „Hebräischen Melodien“, ein carpe diem:

    Oh laß nicht ohne Lebensgenuß / Dein Leben verfließen! / Und bist du sicher vor dem Schuß, / So laß sie nur schießen. // Fliegt dir das Glück vorbey ein- mahl,/ So faß‘ es am Zipfel. / Auch rath‘ ich dir, baue dein Hüttchen im Thal / Und nicht auf dem Gipfel.21

    Mit welchem Argument wählt man zwischen beiden Gedichten aus, welche Po- sition ordnet man dem Autor zu? Wie so oft in Heines Gedichtzyklen lässt sich nicht ein einzelnes Gedicht absolut setzen, er erfährt weitere direkte oder in- direkte Kommentare durch andere aus dem Umfeld. Diese Kompositionstech- nik, die die Bedeutung changieren lässt und die zu einer bereits in „Enfant perdü“ selbst herrschenden Dialektik hinzutritt, hat Heine zu Lebzeiten den Vorwurf eingetragen, ein „Ästhet“ ohne feste politische Überzeugungen zu sein. Dabei setzt er auf das eigenständige Denken der Leser:innen, die solche Widersprüche aushalten und ein Thema mittels seiner Texte aus unterschied- lichen Perspektiven betrachten. Es scheint mir angemessen, Heines Intention als Autor in seinen kunstvoll arrangierten Gedichtzyklen auch zwischen den Gedichten zu verorten. Um ihm nicht in die Falle zu gehen, sollte man nicht nur das echte Pathos im Kampf sehen sowie die Verzweiflung über ein mögli- ches Scheitern des Kampfes, sondern ebenso den Rat, sich aus diesem Kampf



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    20 Vgl. dazu auch das Kapitel „Balladen in neuen medialen Formaten“ in Dube/Führer (2020: 92-98), das entsprechende Vorschläge unterbreitet.

    21 http://www.hhp.uni-trier.de/Projekte/HHP/werke/baende/D03/index_html?widthgi ven=30 (S. 124).


    besser herauszuhalten und auf eine Heldenrolle zu Gunsten des Lebensglücks (und kleinbürgerlicher Bescheidenheit, das carpe diem hat als Weltflucht wie- derum einen Haken) zu verzichten. Die Vorstellung eines Textsubjektes kann vor biographisch motivierten Schlüssen bewahren, die in der Gedichtinterpre- tation immer noch gängig sind. Sicher, es ließe sich feststellen: Goethes Erzäh- ler im „Erlkönig“ ist naiv oder übersieht absichtlich das Skandalon, das im Er- zählten steckt. Im „Heideröslein“ wiederum erscheint er als hämisch. Goethe dagegen verantwortet den Text als Ganzes und ordnet den Sinn dieses Text- ganzen offenbar der „Stimme der Musen“ zu, die hörbar werden soll. Die

    „Stimme der Musen“, sie wäre, mit Dieter Burdorf hermeneutisch gedacht, das Textsubjekt, mit Jörg Schönert (2004: 308) semiotisch betrachtet der abstrakte Autor, für Borkowski und Winko das Subjekt, das den Text verfasst hat: Autor oder Autorin, die ganz unterschiedliche Haltungen einzunehmen vermögen in ihren Texten, einschließlich fingierter, hinter denen sie selbst nicht stehen.

    Halten wir hinsichtlich der Performanz des Textsprechens fest: Eine einzelne Sprechversion fixiert die „Artikulation der Rede“ (Lösener 2006: 8) und subjek- tiviert sie.22 Das reduziert fast zwangsläufig einen Teil der vorhandenen se- mantischen Komplexität, da eine alternative sprecherische Sinnvermittlung nicht gleichzeitig realisierbar ist. Anders gesagt: Die Sprechstimme, die den Text lebendig erstehen und emotional nachvollziehbar werden lässt, bleibt der Stimme im Text stets unterlegen, weil sie deren Potential nie voll auszuschöp- fen vermag. Gerade deshalb empfehlen sich das Sprechspielen und das Text- Sprech-Spiel für den Erkenntnisgewinn.

  4. Das Text-Sprech-Spiel im Unterricht: zum Beispiel Ernst Jandl

    Für den DaF/DaZ-Unterricht eigen sich viele Gedichte Ernst Jandls durch ihre Reduktion auf wenige Wörter. Ihre scheinbare sprachliche Schlichtheit und das Sprachspielerische, das sie kennzeichnet, geht mit einem ihnen eigenen pro- funden semantischen Raum einher. Im Folgenden dienen drei Jandl-Gedichte als didaktisches Beispiel: „babba...“ aus dem Zyklus „tohuwabohu“, erschienen im Gedichtband „Laut und Luise“ (1966), „die zeit vergeht“ und „wanderung“,



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    22 Ich zitiere nach der online zur Verfügung stehenden überarbeiteten Fassung: https://loe sener.de/wp-content/uploads/2013/04/loesener-lyrisches-ich.pdf (06.01.2022).


    erscheinen im Band „sprechblasen“ (1968).23 Es geht dabei um das (Er-)Spre- chen und Erleben lyrischer Texte, darum, sich Gedichte auf andere Weise als im rein semantisch dekodierenden Modus eines Unterrichtsgesprächs anzueig- nen. Alle drei Gedichte Ernst Jandls arbeiten mit der räumlichen Dimension:

    „babba...“ wächst gegen die Leserichtung, um dann wieder kürzer zu werden,

    „wanderung“ lässt sich am Ende (siehe die Anweisung in der letzten Zeile: „und zurück“) von hinten nach vorn in umgekehrter Richtung weiterlesen, „die zeit vergeht“ breitet sich im Raum aus, indem seine Basis kontinuierlich wächst, was sich unendlich fortführen ließe. Dieser räumlichen Dimension entspricht beim Lesen wie im Vortrag natürlich stets eine zeitliche (Zeit der Lektüre, des Vortrags). Das Sprechspielen verbindet nun im Text-Sprech-Spiel diese Dimen- sionen im dreidimensionalen Raum.

    Wie lauten die Anweisungen zum Text-Sprech-Spiel im Unterricht? Das ist sehr einfach. Man gibt den Lernenden je nach Komplexität der Gedichte und ihrem Niveau im Deutschen 10, 15 oder 20 Minuten Zeit. Sie werden, wiederum je nachdem, wofür sich die ausgewählten Texte anbieten sowie nach Größe des Kurses, in Gruppen von zwei bis fünf Personen eingeteilt. Die Gedichte „babba...“,

    „die zeit vergeht“ und „wanderung“ z.B. eigen sich sehr gut für Zweiergrup- pen. Dann erhalten die Lernenden den Auftrag, ihr Gedicht für die Präsentation vor dem gesamten Kurs aufzubereiten. Sie sollen dazu den gesamten Seminar- raum nutzen, der idealerweise eine größere Freifläche bietet, wozu man Tische und Stühle zusammengeschoben hat (sonst geht man auf den Hof oder in die Aula). Das Gedicht soll beim Vortrag „gespielt“, d.h. veranschaulicht werden. Man darf den Raum und Bewegung nutzen, Mimik und Gestik einsetzen, den Sprechausdruck variieren. Die Umsetzung kann darin bestehen, eine Person vorlesen zu lassen, während die andere den Text begleitend „vorspielt“. Der Text kann abwechselnd gesprochen und von allen Beteiligten gemeinsam ge- spielt werden, es dürfen auch Teile oder der gesamte Text chorisch vorgetra- gen werden. Die Gedichte selbst bieten Strukturen und Ideen für die Umset- zung an. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, es geht um eine Veran- schaulichung des Gedichtes. Dabei wird es natürlich bereits gedeutet, ein be- stimmtes Verständnis sichtbar. Dasselbe Gedicht an mehrere Arbeitsgruppen



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    23 Zitiert nach Ernst Jandl (2016): Werke. Bd. 1: 113 („babba...“), 351 („die zeit vergeht“) und 356 („wanderung“).


    zu vergeben verstärkt den gewünschten Effekt, weil unterschiedliche Sprech- versionen nebeneinander stehen. Wichtig bleibt der aktivierende, spielerische Zugang ohne jeden Druck. So gelingt es, Freude an der Arbeit mit Gedichten als Interaktionsanlass hervorzurufen, und zwar durch eine positive Erfahrung der Kooperation mit anderen Lernenden, durch Rhythmisierung von Bewegung und Sprechen und deren Koordination, durch Beiträge aller am Kurs Beteilig- ten vor dem Kurs sowie über die positiven Rückmeldungen für phantasievolle Präsentationen der Gedichte.

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    Abbildung 1: Ernst Jandl: „wanderung“


    Die Gedichte, wie gesagt, bieten in der Regel eine Lösung für die Umsetzung im Text-Sprech-Spiel an. Bei „wanderung“ liegt sie auf der Hand. Die Lernenden bewegen sich beim Vortragen zwischen zwei Punkten im Raum hin und her (oder eine Person tut dies, während die andere den Text vorträgt), den imaginä- ren Orten des „vom“ und des „zum“, die bereits durch die vorhandenen Spatien räumlich in eine rechte und eine linke Hälfte getrennt erscheinen. Häufig bilden die Lernenden dabei eine längere Wegstrecke ab, gehen also im Zickzack von links nach rechts, um („und zurück“) am Ende wieder zum Ausgangspunkt zu gelangen. Die Anregung, die letzte Zeile nicht als solche zu betrachten, sondern das Gedicht dann noch einmal Zeile für Zeile von unten nach oben zu lesen, stammt von Studierenden, die das so vortrugen und -spielten. Die Spiegelbild- lichkeit des Gedichts nicht nur um eine senkrechte (die Spatien), sondern auch um eine waagerechte Mittelachse (Zeile 4) herum bestätigt eine solche Lese- weise. Die ersten wie die letzten beiden Zeilen sind in der Lektüre von oben wie von unten aus in Reihenfolge wie Wortlaut identisch, Zeile 4 als waagerechte


    Mittelachse bleibt, nur Zeile 3 und 5 tauschen die Plätze und weisen die Richtung als „zurück“ aus. Damit wäre „wanderung“ nicht nur gedanklich ein Weg von einem zum anderen Punkt und dann zurück. Ganz praktisch gelangt man durch die Umkehrung der Leserichtung auf dem gleichen Weg wieder an den Aus- gangspunkt, und sei es nur mit den Augen. Im Anschlussgespräch kommt oft die Vorstellung eines unnützen Weges, einer fruchtlosen Bewegung auf, z.B. einer nicht enden wollenden Diskussion, die sich ständig um die gleichen Punkte dreht und niemanden voranbringt. Das reduzierte, sich systematisch, fast mo- noton wiederholende Wortmaterial des Gedichts legt eine solche Deutung nahe, weniger die Redewendung vom Weg, der das Ziel sei. Im DaF/DaZ-Unterricht bietet „wanderung“ womöglich einen witzigen Einstieg in das Kapitel der Sub- stantivierung im Deutschen: „vom Vom zum Zum“ / vom Zum zum Vom“, „von Vom zu Vom / von Zum zu Zum“ wäre eine denkbare Schreibweise.

    Auch bei „die Zeit vergeht“ liegt nahe, wie Lernende das Gedicht umsetzen. Entweder rezitieren sie es abwechselnd, wobei eine Person die erste Silbe spricht, die andere die zweite, und zählen dabei die Silbenzahl von eins bis acht still oder mit den Fingern mit. Oder sie gehen die Silben rhythmisch ab, wobei sie die Zeilenenden nutzen, um immer weiter auszuholen und rezitierend zur imaginierten Mittelinie des Gedichts im Raum zurückzukehren, die es in zwei vom Umriss her identische Hälften aus den Silben „lus“ und „tig“ teilt.


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    Abbildung 2: Ernst Jandl: „die zeit vergeht“


    Manche Vortragende inszenieren auch, hintereinander stehend, die Zeiger ei- ner großen Uhr, indem sie den rechten bzw. linken Arm im Sprechrhythmus


    heben und senken. So gut wie sicher wird das Ticken der Uhr hör- und sichtbar. Damit erkennen die Lernenden das memento mori („die zeit vergeht“) oder auch carpe diem (die „Lust“, Lebenslust versteckt sich in „lustig“), mit dem Jandl spielt. Die Lebenszeit verrinnt unweigerlich. Häufig wird mit der Form völlig zu Recht der untere Teil einer Sanduhr assoziiert. Hat dieser untere Teil sich gefüllt, ist die Zeit abgelaufen. So lässt sich an dieser Stelle auf das barocke Figurengedicht verweisen, das Jandl zitiert, „Ein Sand-Uhr“ von Theodor Kornfeld (1636-1698). Dessen erster Vers lautet: „Die Zeit vergehet“ (Kornfeld 1685: 83). Das Figuren- gedicht erlebt im 17. Jahrhundert einen Höhepunkt, Jandls visuelle Poesie knüpft auch hier an.

    Für DaF/DaZ-Lerner:innen bietet „die zeit vergeht“ darüber hinaus Gelegenheit, an einem konkreten Beispiel über Ausspracheregeln und -standards im Deut- schen zu sprechen, das auslautende „ig“.24 Jandls Gedicht arbeitet mit der Aus- lautverhärtung, so wird das Ticken der Uhr hörbar. Daran lässt sich belegen, wie das auslautende „ig“ südlich etwa der Main-Linie und eben auch in Österreich artikuliert wird. Und man kann darauf verweisen, dass die meisten Deutschen beim Vorlesen angesichts des Schriftbildes „ig“ die Auslautverhärtung auch dann realisieren, wenn sie es als Norddeutsche ansonsten korrekt aussprechen („lustich“) oder sogar häufig falsch generalisieren („Hamburch“). Die Motiva- tion, sich mit einer solchen Aussprachregel zu befassen, lässt sich durch ein ein- leitendes Aktivieren der Lernenden im Text-Sprech-Spiel sehr gut aufbauen.


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    Abbildung 3: „babba...“ aus dem Zyklus „tohuwabohu


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    24 Vgl. die klare, didaktisch sehr gut brauchbare Darstellung bei Nebert (2009).


    Dieses Gedicht ist das zweite von vieren im „tohuwabohu“ betitelten Zyklus. Jandl spielt in diesem Zyklus mit den Buchstaben, Vokalen, Silben, und Zeilen, die er in „babba...“ immer wieder verdoppelt. Das Wort „tohuwabohu“ taucht nur in diesem Gedicht vollständig auf, und zwar in den Zeilen 11 und 12, die „to- huwabohuubaba“ lauten. Tohuwabohu (Wirrwarr, Durcheinander) stammt aus dem Hebräischen und steht am Anfang der Schöpfung (1 Moses 1,2), in Luthers Übersetzung: „Vnd die Erde war wüst und leer“.25 Dann erschafft der Herr, unser Vater, zu Himmel und Erde eine Ordnung, also Tag und die Nacht, Land und Wasser etc., qua Sprechakt: „Vnd Gott sprach“ (1 Moses 1,3). Aus dem Chaos entsteht die Welt im Benennen. Jandl bringt Ordnung in sein Gedicht wie Gott in die Welt. Er ordnet es vom Vater her und auf den Vater hin.

    Die ersten beiden Zeilen betonen das durch Wiederholung: „Babba“. „Babba“ ist im Färöischen der Vater, übersetzt auch als Vati, Papi, Papa.26 Im Isländi- schen heißt es „pabbi“.27 Im Türkischen bedeutet „Baba“ ebenfalls Vater, da- neben ist es hier ein Ehrentitel für Geistliche und Fromme. Sogar im Chinesi- schen spricht man Papa als „bàba“ aus.28 Und auch deutsche Kinder lernen als eines der ersten Wörter nach „Mama“ (auch dieses Wort ist universell) das Wort „Pappa“ auszusprechen, und zwar in dieser Reihenfolge. Denn „Papa“ ist durch den Plosivlaut „P“ schwerer zu artikulieren als „Mama“, das lediglich den maximalen Kontrast zwischen Schließen und Öffnen der Sprechwerkzeuge erfordert. Daher artikulieren auch Kinder, mit denen Deutsch gesprochen wird, zunächst meist „Babba“. Diese über kulturelle und Sprachgrenzen hin- ausgreifende Ähnlichkeit der ersten Wörter, die Menschenkinder auszuspre- chen und sinnvoll einzusetzen lernen, macht einen Reiz des Gedichts gerade im Daf/DaZ-Unterricht aus. Dass „babbeln“ (als Nomen „Gebabbel“) undeutlich reden bedeutet, also brabbeln, lallen, plappern, auch bei kleinen Kindern, die noch nicht korrekt artikulieren können, ist die eine Seite der Semantik, die hier anschließt. Die andere sind Synonyme zu „babbeln“ wie: sich unterhalten, mit- einander Smalltalk machen, quatschen etc.29


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    25 https://www.bibel-online.net/buch/luther_1545_letzte_hand/1_mose/1/#1 (06.01.2022).

    26 https://de.glosbe.com/fo/de/babba (06.01.2022).

    27 https://deis.dict.cc/?s=pabbi(06.01.2022).

    28 https://de.pons.com/%C3%BCbersetzung/deutsch-chinesisch/Papa (06.01.2022).

    29 „Babbeln“; bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www. dwds.de/wb/babbeln (06.01.2022).


    Bei Jandl verliert „babba“ ab der dritten Zeile ein B und wird zu „baba“ (dies erweckt fast zwangsläufig die Assoziation des Alphabets, aus b-a-b-a entsteht der Gedanke an die Abfolge a-b-c, eine poetische Autoreferenz, die sich auch ohne den Hinweis auf den französischen Ausdruck „le b a ba“, das Abc, er- schließt). Zugleich wachsen die Gedichtzeilen ab Zeile 3 systematisch gegen die Leserichtung durch Doppelvokale mit dem auf das „tuhowabohu“ hinauslau- fenden T davor: oo/uu/aa/oo/uu. Kommt ein neuer Vokal hinzu, fällt die Wie- derholung des zuletzt erschienenen Vokals weg und das neu entstandene Wort bzw. die neue Ordnung oder Buchstabenreihe als Gedichtzeile wird wiederholt wie eingangs „babba“. Die Vokalfolge bestätigt zudem die poetische Autorefe- renz: Es werden Wörter aus Buchstaben geschöpft. Die Umkehrbewegung (Zeile 13-17) verläuft nicht spiegelbildlich, sondern schneller. Es erfolgt keine Wiederholung der Zeilen. Die Umkehrung nimmt die Reihenfolge der Vokale in „tohuwabohu“ vom Wortende her auf: oo/aa/uu/oo, Wort wie Gedichtzeile schrumpfen also entgegen der vorherigen Wachtumsrichtung. Am Ende steht

    „babba“. Damit vollzieht Jandl in seinem Gedicht die Bewegung vom Vater (Gott oder der Autor) zum Chaos, Tohuwabohu, und zurück zum Vater (oder sich selbst als Autor). Der Schriftsteller ist ein Schöpfer aus der Sprache, wie Gott. Die Vorstellung vom Chaos (und in binärer Opposition dazu die von der Ordnung) ist dem Menschen nur durch die Sprache möglich, durch das Benen- nen der Welt, die beim Kind mit der Unterscheidung von Mama und Papa an- fängt. Sprache selbst ist Ordnung, eine Ordnung der Konsonanten und Vokale.

    Was machen Lernende aus dem Gedicht, wenn sie es im Text-Sprech-Spiel sze- nisch interpretieren? Meist knüpfen sie assoziativ an das Wort „babbeln“ an und entwickeln mimisch, gestisch und prosodisch ein Gespräch, oft über- trumpfen sie sich dabei gegenseitig, schaukeln sich in Ausdruck und Lautstärke hoch und werden am Ende wieder ruhiger und leiser, verständigen sich fried- lich. Mehrfach ging es darum, sich selbst als den „babba“ zu behaupten, der das Sagen hat („toobaba“ legt englisch „too“ nahe, „auch“ ein Babba), um am Ende eine chorisch gesprochene und gestisch verdeutlichte Einigung (Umarmung, Aufeinander-Zeigen) zu erzielen nach dem Motto: Wir sind beide ein „babba“. Die Bedeutung von Babba ist also, wie zu erwarten, bekannt oder lässt sich er- schließen. Den Begriff Tohuwabohu und den biblischen Bezug muss man manchmal erklären. Dann aber stoßen die Lernenden sofort auf die Parallele zwischen Autor und Schöpfer. Und sie erfahren, dass sie als Kleinkinder zuerst dieselben Wörter zu artikulieren vermochten, und zwar über alle Sprachen


    hinweg mit leichten Unterschieden in der Betonung. Eine solche anthropolo- gische Konstante zu erkennen, schafft Verbindungen in einer multikulturellen Lerngruppe. Und das Text-Sprech-Spiel legt die Grundlage zur fröhlichen Ko- operation in der Fremd- oder Zweitsprache.

  5. Die Stimmen der Musen

    Es wurde hier der Versuch unternommen, vom Textsprechen her auf die Ly- riktheorie und die Frage nach der „Stimme“ in einem poetischen Text zu bli- cken, die im Gedichtvortrag verkörpert und damit resubjektiviert wird. Goethe und Schiller hätten die menschliche Stimme gerne vom Körper getrennt, um zur Wahrnehmung einer „Stimme der Musen“ zu gelangen, was technisch zu ihrer Zeit nicht möglich war. Daher sollte der Rhapsode „als ein höheres We- sen“ und „weiser Mann“ am besten hinter dem Vorhang sprechen. Dieser Wunsch geht auch dann nicht in Erfüllung, wenn jemand beim Textsprechen nicht zu sehen ist. Darauf habe ich mit Bezug auf die Studien von Reinhart Meyer-Kalkus an anderer Stelle hingewiesen. Auch Hörer:innen literarischer Lesungen im Radio, auf CD etc. imaginieren einen Körper, der ihren Erfahrun- gen aus der analogen Kommunikation nach zu der Stimme passt, die sie wahr- nehmen (vgl. Lämke 2015: 274 ff.). Dieser Versuch einer Trennung ist also zum Scheitern verurteilt. Goethes und Schillers Vorschlag für das Textsprechen zielt im Grunde aber auf eine Stimme ab, die alle Stimmen im Text, das Text- ganze, zusammenhält, die ihn „weise“ und wissend vorträgt und die „Einbil- dungskraft“ der Hörer:innen stimuliert. Ich setze diese Vorstellung hypothe- tisch mit Dieter Burdorfs hermeneutischem Begriff des „Textsubjekts“ gleich.

    Eine andere These oben lautete: Im interaktionalen Text-Sprech-Spiel lassen sich spielerisch neue Bedeutungen der inszenierten Gedichte freigelegen, ein semantisches Potential, das sich sonst nicht so schnell offenbart.

    Beim Text-Sprech-Spiel haben Studierende „wanderung“ häufig im Wechsel zwischen „vom“ und „zum“ zu zweit, aber auch vollständig im Chor gesprochen, dabei gemeinsam durch den Raum wandernd. Einmal wurde „wanderung“ sogar als Paartanz umgesetzt. Stets, und insbesondere beim Tanzen, hilft die metrisch- rhythmische Struktur des Gedichts, der durchgängige Jambus. Das Gedicht wurde vorwärts und dann vollständig rückwärts getanzt, damit zugleich die Umkehrbarkeit der Leserichtung belegt. Der Auftakt in der letzten Zeile begüns- tigt die Umkehr als Drehung. Die Studierenden haben dieser „wanderung“ als


    Tanz einen eigenen Sinn unterlegt: Ein Weg kann Freude bereiten, auch wenn man die gleiche Strecke zurücknimmt, sie lässt sich auch beschwingt überwin- den. Diese Deutung stellt die Alternative dar zum fruchtlosen Hin und Her, das meist semantisch aus der Reduktion des Gedichts auf fünf Wörter und der sys- tematischen Wiederholungsstruktur abgeleitet wird. Beide Lesarten erscheinen schlüssig und lassen sich stimmlich gut nachvollziehbar umsetzen.

    Zum zweiten Beispielgedicht, „die zeit vergeht“: War bereits vor dem Text- Sprech-Spiel klar, dass wir es hier mit einen Figuren- und Lautgedicht zu tun haben? Erst das Spiel mit der Auslautverhärtung bringt die Uhr zum Ticken. Umgekehrt hört man, auf den Aussprachestandard aufmerksam geworden, erst das „Ich“ im Text, wenn man die IG-Regel standardsprachlich anwendet:

    „lus-tich“, Lust und Ich erscheinen zusammengehörig, als Lebenslust und Freude, aber zugleich zeitlich begrenzt.

    Und „babba...“ offenbarte sich als poetologisches Gedicht. Es spricht vom Autor als (Sprach-)Schöpfer, von Sprache als Material, von seinem Werden und sei- ner Form als Weg des Autors zum Tohuwabohu, zur phantastischen Unord- nung in ihm selbst („tohuwabohuubaba“), und findet auf dem Weg zurück zu einer Ordnung, die er als Autor gelten lässt. Das Gedicht endet mit „seinem“ Namen. Der Autor als Schöpfer allerdings wiederholt sich. Er schöpft nicht bi- när (Tag und Nacht, Land und Wasser etc.), sondern quasi nur Tag und Tag, Nacht und Nacht. Das Wiederholen beginnt schon auf Wortebene selbst durch die Verdoppelung der Vokale, die ein Wortwachstum erzeugen. Vielleicht soll uns das sagen: Es wird notwendig mit Wiederholungen gearbeitet, wir haben nur 24 Buchstaben, einige Konsonanten und wenige Vokale zur Verfügung, um alles um uns herum, Ordnung wie Chaos, zu benennen. Bereits im Wort „Gott“ wiederholt sich ein Konsonant, „babba...“ wird lediglich aus einem Konsonan- ten und einem Vokal erzeugt.

    Einen semantischen Impuls aus dem Text-Sprech-Spiel, in dem meine Studie- renden „babba...“ immer wieder einmal umsetzen, haben wir noch nicht auf- genommen, die Idee des Gesprächs. Denn wie begründet sich die systematische Verdoppelung der ersten sechs Zeilen? Könnte es sich nicht doch um ein Zwei- ergespräch handeln? Etwa in der Art, wie Kinder zu sprechen lernen, durch Nachsprechen, während ihnen die Dinge gezeigt und ihre Bezeichnungen vor- gesagt werden? Dann läge hier womöglich ein Gespräch zwischen Vater und Kind vor und wir würden Zeugen des Lernfortschritts: Ab Zeile 13 vermag das


    „Kind“ die Wörter in umgekehrter Reihenfolge richtig aufzusagen, hat es das Prinzip seiner Lektion verstanden. Es ergibt auch bei dieser Lesart Sinn, das Tohuwabohu mit dem Vater zu verbinden („tohuwabohuubaba“). Denn nie- mand versteht, wie die Welt aus dem Nichts geschaffen werden kann, solange er keine Vorstellung vom Vater und vom Chaos hat.

    Die „Ich-hier-jetzt-Imago“ im Sinne Hempfers lässt sich auf „lyrische“ Gedichte im Sinne Lampings anwenden. Aber bei den hier diskutierten Gedichten Ernst Jandls haben wir es mit einer bereits 1975 von Kaspar Spinner ins Feld geführten

    „Leerdeixis“ zu tun, die nicht notwendig als „Ich-Deixis“ zu denken ist. Die Ge- dichte eröffnen durch die Abwesenheit ausreichender deiktischer Hinweise ei- nen Möglichkeitsraum, in dem sie auch mit einer „Er/Sie/Es-Deixis“ (Spinner 1975: 13) (z.B. in „die zeit vergeht“), einer Balladenstruktur mit verteilten Spre- cherrollen (Streitgespräch oder Vater und Kind in „tohuwabohu“) oder einer

    „Wir-Deixis“ („wanderung“ chorisch) gefüllt werden können.

    Gedichte der Moderne und der Gegenwartsliteratur zeichnen sich häufig durch ihre Stimmenvielfalt aus, ich erinnere noch einmal an Sprachinstallationen Thomas Klings wie „Rathinger Hof ZETTBEH 3“ oder „zur Jagd“ von Sabine Scho aus „Album“, das in Anlehnung an ein Fotoalbum konzipiert ist, und in den Gedichten zu den Fotos Stimmen und Zitate sampelt und montiert.

    Wir haben gesehen: Schon Goethe („Erlkönig“) spielt wie Ernst Jandl („bab- ba...“) mit den Stimmen der Musen. Diese Stimmen werden im Text-Sprech- Spiel über die kreative Füllung der Leerdeixis hörbar, noch bevor sie verstan- den sind. Damit erweist sich das Text-Sprech-Spiel als Dialogizitäts- und Inter- aktionsmotor im DaF-/DaZ-Unterricht sowie als potentieller Generator eines erweiterten Verständnisses von Gedichten.

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Heike Appel

Aussprachetraining mit DaF-Studierenden1 Methodik und Didaktik der Sprecherziehung im Phonetikunterricht. Ein Praxisbericht

Zusammenfassung: Die Komplexität der mündlichen Kommunikation spiegelt sich im Pho- netiktraining mit Gruppen erwachsener Sprachlerner:innen wieder. Im Unterricht fließen die Elemente Sprachkenntnis, Hörvermögen, Motivation, Beziehung, Ausdruckswillen und physische Umsetzung zusammen. In diesem Erfahrungsbericht werden einige Inhalte und methodisch-didaktische Prinzipien vorgestellt, die sich in der Praxis bewährt haben. Es wird Wert auf die Einbindung der Sprechübungen in Interaktionen gelegt. Dazu sind Inhalte und Übungsformen, die in der Sprecherziehung in den Bereichen Rhetorik, Textsprechen und Sprechbildung entwickelt wurden, in die Unterrichtspraxis aufgenommen worden.

Abstract: The complexity of oral communication should be reflected in the phonetic train- ing of adult language learners. In the lessons, language proficiency, sense of hearing, moti- vation, relationship, willingness for expression and physical realization need to be com- bined while practicing. In this empirical report some contents and methodical and didacti- cal principles are outlined that proved useful in such courses. It is put emphasis on the in- teraction of the participants while exercising. Contents and units originally invented for speech training from the areas of rhetoric, text reading, and education to speak have been adapted for practical exercises.


  1. Hintergrund

    Das hier vorgestellte Konzept ist in der Arbeit mit Lernenden entstanden, die im Erwachsenenalter mit der Aneignung der deutschen Sprache begannen. Die überwiegende Zahl der Kursteilnehmer:innen stammte aus asiatischen Ländern. In der Unterrichtspraxis tauchten immer wieder die gleichen Herausforderun- gen auf. Die Entwicklung des Konzeptes war eine stete Suche nach Wegen, mit diesen Herausforderungen umzugehen:

  2. Ausgangssituation

    Bei den Studierenden an einer ausländischen Universität, die Deutsch als ihre zweite oder dritte Fremdsprache lernen, findet man innerhalb der Gruppen ein sehr unterschiedliches sprecherisches Niveau vor. Aufgrund derselben Aus- gangssprache haben sich typische Interferenzprobleme herausgebildet, gleich- zeitig aber auch eine Vielzahl individueller Lösungen. Im Grunde wäre neben dem Gruppenunterricht auch ein Einzelcoaching wünschenswert, welches in der Regel aber die zeitlichen und personellen Kapazitätsgrenzen überschreiten würde.


    Auch für fortgeschrittene Studierende ist es eine anspruchsvolle Aufgabe, ei- nen neuen Text sinnerfassend vorzulesen. Eine Gruppe, die die Aussprache ausschließlich durch wiederholtes Hören und Nachsprechen von Lauten, Wor- ten und Sätzen erlernt hat, kann Vorgesprochenes der deutschen Dozentin fast perfekt nachahmen. Lesen dann die einzelnen Mitglieder eigenständig indivi- duelle Texte vor, sind diese für „deutsche Ohren“ oft schwer verständlich. Je- der Text hat seinen eigenen Rhythmus und Melodieverlauf und es braucht mehrere Schritte, sich eine gut verständliche Sprechversion zu erarbeiten.

    In diesem Zusammenhang spielt die Beobachtung eine Rolle, dass einige Ler- nende einen deutschen Text vorlesen und anschließend nicht sagen können, wovon dieser handelt. Inhaltlich erfassen können sie einen Text nur, wenn sie ihn still für sich lesen. Sie stellen eine Verbindung zwischen dem Schriftbild und seiner Bedeutung oder dem Schriftbild und seiner Lautgestalt her. Eine Dreiei- nigkeit von Schriftbild, Lautgestalt und Bedeutung ist schwer zu generieren.

    Profit aus dem Unterricht ziehen insbesondere die Germanistikstudierenden, die später selbst als Deutschlehrer:innen tätig sein wollen. Anders als bei an- deren Deutschlernenden ist hier nicht nur die Verständlichkeit das oberste Ziel, sondern auch die vorbildhafte Beherrschung der Sprache. Diese Studie- renden profitieren vom Phonetikkurs in doppelter Hinsicht. Neben der Ver- besserung ihrer Aussprache nehmen sie didaktische Anregungen für ihren ei- genen späteren Unterricht mit.

    Trotz der genannten Hürden in der Aneignung der deutschen Sprache gelingt es einigen Studierenden, differenziert die phonetischen Feinheiten zu erfassen und umzusetzen. Hier spielt einerseits Begabung eine Rolle, insbesondere die Fähigkeit, die „musikalische“ Seite einer Sprache hörend zu erfassen. Anderer- seits wurde oft in ein unermüdliches Training investiert.

    Das im folgenden vorgestellte Konzept kann an verschiedene Sprachniveaus bis zu C1 angepasst werden. Entscheidend für die Binnendifferenzierung ist die Auswahl der Übungen und Texte.

  3. Ziele des Sprechtrainings

    Das angestrebte Ziel des Sprechtrainings ist erst einmal nicht die größtmögli- che Akzentfreiheit. Im Vordergrund stehen die Verständlichkeit des Sprechens und die Geschmeidigkeit der motorischen Abläufe. Der Unterricht möchte


    dazu beitragen, dass sich der für die Teilnehmenden fühlbare „Knoten in der Zunge“ löst und gleichzeitig die Zuhörer:innen das Gesagte mühelos aufneh- men und verstehen können.

    Zur Klärung der Norm auf der Wortebene wird der Ausspracheduden herange- zogen. Als Grundlage für die Aussprache auf Satzebene dienen die von Rausch und Rausch (1991) dargestellten Gesetzmäßigkeiten. Beim Sprechen von Tex- ten liegen die Leseregeln zugrunde (u.a. bei Zerfaß 2003).

  4. Die Elemente des Unterrichts

      1. Die Basis: Rhythmus

        Die zeitlich-dynamische Strukturierung einer Sprache, ihr Rhythmus, ist die Basis für das Sprechen. Die deutsche Sprache mit ihren starken Wort- und Satz- akzenten fordert besonders von Sprecher:innen von Tonsprachen eine enorme Umstellung. Im Deutschen wird vom Sinnkern ausgehend formuliert, der den Satzakzent trägt. Ein Ausspruch mit falschem Wort- oder Satzakzent löst min- destens eine kurze Irritation aus und es braucht einen Moment länger, ihn zu verstehen. Manchmal kann in diesem Fall der Sinn des Ausspruchs gar nicht ergründet werden. Über einzelne abweichende Laute wird hinweggesehen, wenn Rhythmus und Melodie mit den Hörgewohnheiten übereinstimmen.

        Aufgrund seiner so eminent wichtigen Rolle sollte ein Sprechtraining den Nach- vollzug des Rhythmus ganz an den Anfang stellen.

        Ein Kind erlernt die Sprache zunächst über die Prosodie. Es wird schon vor der Geburt über die Stimme seiner Mutter mit Informationen versorgt und reagiert später auf die vertrauten Muster (vgl. Butzkamm & Butzkamm 2008: 5-8). Vor der Entschlüsselung der genauen Bedeutung eines Ausspruchs steht also das Hineinhören in die Gesamtheit seiner prosodischen Merkmale. Erwachsenen Lernenden wird aus diesem Grund empfohlen, sich eine immersive Umgebung zu schaffen und zum Beispiel täglich über einen längeren Zeitraum die Ziel- sprache passiv zu hören.

        In der Übungspraxis kann die Brücke von der Perzeption zur Produktion durch die Beteiligung des Körpers geschlagen werden, z.B. durch Klatschen, Stampfen, Schnipsen und Trommeln. Es sollte mit einfachen Formen begonnen werden. Auch wenn die Anfangsübungen mit Wortrhythmen manchen Studierenden we- nig anspruchsvoll erscheinen mögen, so würde ich sie dennoch durchführen.


        Erfahrungsgemäß gibt es in beinahe jeder Gruppe Teilnehmer:innen, die bereits mit einfachen Rhythmen Schwierigkeiten haben. Zudem sind diese Rhythmen die Basis für die Erarbeitung komplexer Satzstrukturen. Dabei werden die Ak- zente vor allem mit Hilfe einer erhöhten Lautstärke der Silbe gesetzt. Dazu kom- men deutlich wahrnehmbare Tonhöhensprünge – je nach Satz in die Höhe oder Tiefe. Eine längere Silbendauer spielt in der Praxis kaum eine Rolle.

        Abzählreime eignen sich besonders, um Rhythmen zu trainieren. Manche Gruppen mögen nicht aufhören damit, solche Abzählreime zu sprechen und erleben darin gemeinschaftlich eine Einheit von Sprechen, Ausdruck und Tun, verbunden durch den Rhythmus. Eine mögliche Form ist: Die Gruppe klatscht und stampft den Rhythmus, während reihum eine Person in die Mitte geht und den Reim spricht, während sie reihum abzählt. Die Person, bei der der Spruch endet, geht dann als nächste in die Mitte. So lässt sich nicht nur das Betonungs- muster erfahren. Auch die Lautbildung kann währenddessen trainiert werden, indem ein bestimmter Laut gehäuft in den Text eingebaut wird.

      2. Melodisierung

        Während der Rhythmus eines Ausspruchs recht gut festgelegt werden kann, ist der Melodieverlauf schwerer zu fassen, da durch ihn sehr feine Nuancen aus- gedrückt werden, die schwer zu vermitteln sind. Im Unterricht hilft die Reduk- tion auf einfache Schemata. Alles andere hat sich nach meiner Erfahrung als zu komplex erwiesen, um als nützliche Orientierung dienen zu können.

        Ich benutze zwei Ansätze. Da ist zum einen die Einführung und Übung der typi- schen Intoneme von Informationen oder den verschiedenen Fragearten (vgl. Rausch & Rausch 1991: 130 ff.). Zum anderen arbeite ich mit dem Keywordchart, einer Übersicht nach Tonhöhe und Lautstärke zugeordneter emotionaler Aus- drücke, damit die Wirkung von Tonsprüngen und Lautstärkevariationen im Ver- lauf des Ausspruchs besser verstanden und gesteuert werden kann.

        Das Wichtigste ist hier das differenzierte Hören der feinen Unterschiede. Mu- sikalisch begabte Menschen sind im Erkennen und Umsetzen von Melodiever- läufen im Vorteil. Sie scheinen eine Melodie intuitiv schnell erfassen zu kön- nen. Anderen nützt es, zuvor die Melodie zu verlangsamen und genau analy- sieren. Sie brauchen mehr Zeit, weil sie die Abläufe erst verstehen müssen, be- vor sie sie selbst umsetzen können.


        Um sich nicht auch noch auf die Artikulation konzentrieren zu müssen, sprechen wir manche Sätze zuerst auf sinnfreien Silben, wie „na nanaana nananána“ für

        „Ich studiere Germanistik“. Unterstützend zeichnet die Hand dabei in einer flie- ßenden Bewegung den Melodieverlauf in die Luft, damit die Silben nicht roboter- haft getrennt gesprochen, sondern auf natürliche Weise verbunden werden.

        Um das Gelernte in lebendige Gespräche zu überführen, setze ich kurze Dialoge ein, die in Kleingruppen erarbeitet und dann vor dem Plenum aufgeführt wer- den. Gerne auch mit Requisiten und in einem richtigen Spiel, damit der Kör- perausdruck das Sprechen unterstützt. Am Ende jeden Beitrags wird applau- diert. In dieser Phase ist es mir nicht wichtig, sämtliche Feinheiten der Aus- sprache zu korrigieren. Ich würdige den Mut und den Einsatz in Form eines Feedbacks, das eine Besonderheit oder Stärke der kleinen Aufführung hervor- hebt oder eine Wirkung beschreibt.

        Noch interaktiver ist es, wenn alle Kleingruppen denselben Dialog bekommen, ihn aber in unterschiedlicher Haltung sprechen (ärgerlich, gleichgültig, verliebt, erstaunt, spöttisch, erleichtert...). Nach jeder Aufführung äußern die Zuhö- rer:innen Vermutungen, um welche Haltung es sich gehandelt haben könnte.

        Ziel ist es, möglichst „typisch deutsch“ zu klingen, das betone ich schon in der Anmoderation, da es sonst erfahrungsgemäß einige Präsentationen mit Über- treibungen gibt, bei denen der Ausdruck ins Künstliche kippt. Das Spiel und das Sprechen können eine wertvolle Rückmeldung über die Wahrnehmung von deutschen Sprecher:innen sein.

      3. Glottisschlag / Vokalneueinsatz

        Eng mit der Melodie verbunden ist der Glottisschlag bei einem Vokal am An- fang des Wortes (ˈam ˈAnfang) oder am Anfang einer Silbe (mitˈarbeiten). Wäh- rend alle anderen Worte im Satz gebunden gesprochen werden, ist hier ein Vo- kalneueinsatz erforderlich. Diese Eigenschaft der deutschen Sprache stößt oft auf großes Interesse, weil die Regeln noch unklar sind. Neben der gemeinsa- men Erarbeitung dieser Regeln ist es wichtig, das Binden bzw. Trennen zu trai- nieren. Nur wenn beides in „Fleisch und Blut“ übergeht, lassen sich die alten Sprechgewohnheiten überwinden.


        Zunächst wird eine Bewegung eingeführt, die nur für den Vokalneueinsatz gilt. Dies kann z.B. ein leichter Handkantenschlag in der Luft oder die Schneidebe- wegung einer Schere mit Zeige- und Mittelfinger sein. Dazu sprechen wir Worte mit Vokal im Anlaut. Dann folgen Sätze und die Bewegung wird wieder an den entsprechenden Stellen eingesetzt. Später reicht es dann, nur die Bewegung zu zeigen, um daran zu erinnern, an dieser Stelle die Worte zu trennen.

      4. Pausenlänge

        Beim Sprechen eines Textes ist die Neigung zu beobachten, der Einatempause stets die gleiche Länge geben und zu versuchen, gleichmäßig in einem Tempo durchzusprechen. Für Zuhörer wird das einförmige Sprechtempo schnell lang- weilig und es entsteht der Eindruck von Monotonie.

        Für die Übenden kann es schwer sein, aus diesem Automatismus herauszukom- men und eine längere Pause auszuhalten oder einmal zügiger weiterzusprechen. Der Gebrauch unterschiedlicher Geschwindigkeiten und der bewusste Einsatz unterschiedlicher Pausenlängen ist deswegen schon als anspruchsvoll anzuse- hen - und kann doch gleichzeitig z.B. einen Vortrag auf Deutsch viel ansprechen- der machen.

        Die sehr nachvollziehbare Fokussierung auf das Sprechen lässt die Pausen da- zwischen in der eigenen Wahrnehmung in den Hintergrund treten. Von dort müssen sie erst einmal in das Bewusstsein geholt werden. Das ist durch erlebte Beispiele möglich. Ich demonstriere den Unterschied anhand eines kleinen Vortrags, den ich erst mit der stets gleichen Pausenlänge und dann ein zweites Mal mit variablen sinnhaften Pausen halte. Wir diskutieren den Unterschied und stellen fest, dass sich Erkenntnis erst in der Pause ereignet und dass sich die Wirkung eines Ausspruchs verstärken lässt, wenn davor oder danach eine Spannungspause gehalten wird. Die Teilnehmer:innen experimentieren zu zweit mit der Länge und der Art der Pause. Ein Beispiel:

        In Zweiergruppen sprechen sie mehrfach abwechselnd zueinander mit Blick- kontakt den Satz

        „Bitte hör mir zu ǀ

        das ist jetzt ganz wichtig ǀ

        verstehst Du?“ ǀ


        Nach jeder Zeile machen sie eine Pause und erforschen, was passiert

        ... wenn sie die Pause verkürzen.

        ... wenn sie die Pause verlängern.

        ... wenn sie in der längeren Pause weiteratmen und sich bewegen.

        ... wenn sie weiteratmen, aber körperlich "einfrieren".

        ... wenn sie den Atem anhalten und einfrieren.

        (Die Wirkung des Gesagten wird zunehmend gesteigert.) Die Übung macht den Effekt von Pausen sehr bewusst.

        Wenn die Pause zu einem bewusst erlebten Moment im eigenen Sprechen wird, kann sie von den Übenden auch gestaltet werden. Das ist im Grunde nicht neu, weil sie es aus ihrer eigenen Sprache kennen. Sie vergessen es nur in der Fremdsprache und brauchen ein aufmerksames Gegenüber, das sie daran erin- nert. Nebenbei beginnen sie, sich selbst besser zuzuhören, weil es nach dem Ausspruch noch Zeit gibt, das Gesagte nachwirken zu lassen.

      5. Sprechzeichen im Text

        Eine große Hilfe bei der Erarbeitung von Sprechtexten ist ein Notationssystem. Es wird in folgender Reihenfolge Schritt für Schritt an einem Beispieltext zu- sammen mit den Studierenden entwickelt:

        Der Text wird als Kopie ausgegeben und für alle zusätzlich visualisiert. So kann jede:r selbst nach und nach die Zeichen in den eigenen Text eintragen.

        Zu Beginn wird zusammen überlegt, wie sich der Text sinnvoll gliedern lässt. Wo gibt es eine Atempause? Wo sollte eine längere Pause sein? Gibt es Stellen für kurze Staupausen, an denen nicht geatmet wird? Und bei welchem Komma wird ohne Pause durchgesprochen?

        Wie nebenbei lassen sich gleichzeitig die Regeln der Leselehre entwickeln. ' Staupause

        Atempause

        ‖ längere Pause

        ohne Pause durchsprechen


        Die Einteilungsvorschläge werden von den Studierenden ausprobiert und es fällt eine begründete Entscheidung für eine Variante.

        Im nächsten Schritt werden die Kadenzen, die Melodieverläufe vor den mar- kierten Atempausen festgelegt. Auch hier wird die jeweilige Wirkung durch Ausprobieren erforscht. Damit wird auch die Hörfähigkeit trainiert. Unterstüt- zend sind wieder entsprechende Handbewegungen.

        steigende Melodie

        Schwebeton

        fallende Melodie


        Im dritten Schritt wird die sinnvolle Betonung gesucht. Was ist die wichtigste neue Information im Sinnschritt? Sie wird mit einem großen Punkt über dem Vokal gekennzeichnet. Unter Umständen gibt es noch einen Nebenton zu mar- kieren.

        • über dem Vokal: Hauptbetonung / Vollschwere

        ´ über dem Vokal: Nebenton / Halbschwere


        Gibt es noch Schwierigkeiten mit der Vokallänge, können in einem letzten Schritt diese kritischen Vokale gekennzeichnet werden.

        unter dem kurzen Vokal

        _ unter dem langen Vokal


        Die Studierenden wünschen sich oftmals, den Text ein oder zwei Mal komplett gesprochen zu hören. Sie gehen anschließend in die Partnerarbeit und lesen sich gegenseitig vor. Ziel ist es, die Sprechzeichen selbstständig umzusetzen und sich mit ihrer Hilfe gegenseitig zu korrigieren.

        Mit dieser Methode kann das Vorlesen deutlich verbessert werden und die Stu- dierenden haben ein Beispiel an der Hand, das sich auf andere Texte übertra- gen lässt.

      6. Lautübungen

    Im Laufe der Zeit hat sich für mich die Fokussierung auf die korrekte Aussprache der deutschen Laute verschoben zugunsten einer Konzentration auf Rhythmus


    und Melodie. Wenn der sogenannte „Tonfall“ stimmt, werden kleine artikulato- rische Abweichungen unwichtiger.

    Das heißt nicht, dass die Arbeit an der Lautbildung ganz vernachlässigt werden darf. Sie ist sehr nützlich, um die Klarheit der Aussprache zu verbessern und verleiht den Deutschlernern eine größere Sicherheit. Wenn zum Beispiel das [ʏ] als Problem angesehen wird, wird beim Sprechen jedes Wort, das ein [ʏ] enthält, als unangenehm erlebt.

    Daher frage ich die Gruppe, welche Laute sie üben möchte. Die Antwort deckt sich nicht immer mit meiner Einschätzung, nachdem ich jeden nach einer Vor- stellungsrunde einzeln gehört habe. Auch wenn ich die von der Gruppe ge- nannten Laute als unproblematisch ansehe, gehe ich auf den Wunsch nach Übung ein, damit sich durch positive und bestärkende Rückmeldung mehr Leichtigkeit und Sicherheit beim Sprechen der betreffenden Worte entwickeln kann.

    Das oberste Ziel ist die Verständlichkeit und nicht die Perfektion, außer die Stu- dentin oder der Student hat selbst den Anspruch, den eigenen Akzent nahezu vollständig abzutrainieren.

    Die Aspekte des Sprechens, die ich für mehr Verständlichkeit als wichtig er- achte, sind oft zuvor nicht im Bewusstsein der Teilnehmenden gewesen. Die abweichende Aussprache muss erst einmal wahrgenommen und als relevant erkannt werden Das Sprechtraining ist immer zugleich ein Hörtraining. Eine Lautübung wird als sinnlos erlebt, wenn die feinen Differenzierungen nicht ge- hört werden.

    An dieser Stelle besteht die Möglichkeit, dass der Unterricht auf unproduktive Weise mühsam wird. Ein Teil der Gruppe kann den Laut oder die Lautverbin- dung irgendwann isoliert sowie auch in Wörtern und Sätzen realisieren. Eine Person oder mehrere werden zum „Problemfall“, weil sie es wieder und wieder nicht hinbekommen. Übungen für die Mund- und Zungenbewegung, Hörübun- gen, Ableitungsübungen, das Anschauen eines Sagittalschnitts – die angebote- nen Hilfen ändern daran nichts, zumindest nicht dauerhaft. Stagnation und Frust über die eigene Begrenztheit stehen im Raum.

    Hier ist entlastend und erleichternd, die Schwierigkeit zu begrüßen und bei der Lautbildung den ganzen Körper mit einzubeziehen. Der Laut wird mit einer ei-


    genen Bewegung verknüpft, die seinem Charakter entspricht. So kann beispiels- weise bei [t] der Finger einen (zur Not imaginären) Luftballon anstupsen oder [ʃ] mit einer Schiebebewegung der Hände auf Brusthöhe vom Körper weg verbun- den werden. Die Übenden können sich erst gar nicht verkrampfen und in die Repetitionsschleife ihres „Fehlers“ geraten. Im Schwung des gemeinsamen Be- wegens und Sprechens scheinen sich die Wahrnehmungskanäle mehr zu öffnen und der/die Einzelne geht in Resonanz mit dem Laut, der von den anderen Übenden im Raum zu hören ist. Im freien Sprechen wird die Bewegung später wieder eingebaut, um die verbesserte Aussprache des Lautes zu aktivieren.

    Für den Trainingseffekt ist es förderlich, in Variationen die Übung der Ziellaute immer wieder in den Unterricht einzubauen, z.B. bei der Aufwärmung zu Be- ginn des Unterrichts oder zwischendurch als Aktivierung.

    Zur Unterstützung der Motivation kann das sukzessive Eintragen der beherrsch- ten Laute in einer Übersichtstabelle dienen. Zum einen wird die Begrenztheit des gesamten Lautinventars deutlich und zum anderen wird durch die visuali- sierten Fortschritte der erzielte Erfolg sichtbar.

  5. Methodik

      1. Abwechslung

        Von außen betrachtet sind die Tische beiseite geräumt, die Gruppe sitzt im Stuhl- kreis, steht oft auf, findet sich in verschiedenen Konstellationen zusammen und bewegt sich während des Sprechens. Neben vorbereiteten FlipChart-Blättern, Ko- pien, Karten und Stiften gibt es als Arbeitsmittel noch einen Ball.

        Damit Interesse und Engagement bei den Sprechübungen aufrecht erhalten bleiben, braucht es eine Art „Dramaturgie“ im Unterrichtsverlauf. Dabei wech- seln sich Anwärmübungen, kurze Theorieblöcke, Rhythmusübungen, das Trai- ning einzelner Laute, Intonationsübungen, freies Sprechen und Textsprechen ab. Währenddessen ändern sich auch die Sozialformen von Plenum, über Still- arbeit (selten!), Partner- oder Gruppenarbeit in verschiedenen Konstellationen bis hin zur Übung in der Gesamtgruppe. Thematisch werden die verschiedenen Ebenen der Sprache miteinander verwoben und einzelne Elemente immer wie- der aufgegriffen und erweitert.


      2. Aktivierung

        Jeder Studierende sollte so viel wie möglich selbst sprechen und üben können. Dies gelingt mit Aufgaben, z.B. zum Erkennen von Merkmalen und Anwenden von Regeln, die zu zweit oder in kleinen Gruppen bearbeitet und umgesetzt werden können. Die Intimität der Kleingruppe hat den Vorteil, dass nicht nur mehr, sondern auch unbefangener in der fremden Sprache gesprochen wird. Die Teilnehmenden befinden sich in einer direkten Kommunikationssituation. In einem abschließenden Plenum werden die jeweiligen Ergebnisse gesichert. Dies kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass alle im Kreis stehen, einzelne ihre Arbeitsergebnisse vorsprechen, die Leitung ihnen unter Umständen Im- pulse zur Verbesserung gibt und dann die ganze Gruppe im Chor mitspricht. Durch dieses Miteinander sind alle aktiv, es wird Druck von den Einzelnen ge- nommen und die Zeit für die eigene Sprechpraxis ist hoch.

      3. Passendes Sprachmaterial

        Gruppen sind sehr verschieden und es kann eine Herausforderung sein, geeignete Sprechtexte und Dialoge zu suchen oder selbst zu schreiben. Ergänzend kann auf bekanntes Material aus einem Literaturseminar zurückgegriffen werden.

        Es bietet sich außerdem an, nach kurzen Texten oder Dialogen zu schauen oder welche selbst zu verfassen, die auswendig gesprochen werden können. Wenn sich das Sprechen vom Schriftbild löst, wird es freier und ausdrucksstärker. Gedichte, sofern sie einen wiederkehrenden Rhythmus besitzen, sind ebenfalls zum ge- meinsamen Sprechen gut geeignet.

      4. Fehlerkultur

        Da die Angst vor Fehlern eher blockiert und die Entwicklung der Sprechkom- petenz behindert, spielt der Umgang damit eine wesentliche Rolle. Gelingt die Aussprache trotz vieler Wiederholungen nicht, stellt sich schnell Frustration ein.

        Ermutigend für die Übenden ist die Haltung des „glücklichen Scheiterns“ oder der Satz „'Fehler' sind kreative und eigensinnige Umwege, die die Ortskenntnis erhöhen“ (Plath 2017: 32 und 89). Diese Einstellung kann nur glaubwürdig ver-


        mittelt werden, wenn sie konsequent durchgehalten wird. Fehler bzw. Abwei- chungen werden begrüßt als willkommene Lernanlässe, statt auf die Probleme wird auf die Potentiale geschaut.

      5. Körpereinsatz

        Ein zentrales Element des Phonetiktrainings ist das Sprechen mit dem gesamten Körper (siehe hierzu Kroemer 2016). Der Einsatz des Körpers erleichtert die arti- kulatorischen Abläufe, indem er sie unterstützt und aus der Verkrampfung be- freit. Verbunden mit einer Körperbewegung verankern sich die artikulatorischen Abläufe leichter im Gedächtnis. Das Sprechen kann beeinflusst werden, auch wenn die akustische Differenzierung den Übenden schwerfällt. Wenn die Gruppe in die Bewegung gefunden hat, entsteht eine Sprechfreude, die die Einschätzung

        „deutsche Sprache – schwere Sprache“ zumindest teilweise widerlegt.

        Nach einer Einführung in die Ziele und Methoden und einer Kennenlernrunde ist daher eine frühe körperliche Aktivierung empfehlenswert. Beginnt das Se- minar mit dem gemeinsamen Wegräumen der Tische und dem Stellen eines Stuhlkreises, ist die ganze Gruppe von Anfang an gemeinschaftlich beteiligt und körperlich aktiv. Gleichzeitig geht davon das Signal aus, dass dieser Unter- richt sich von einer üblichen Seminarform unterscheidet. Für Einzelne kann es zunächst herausfordernd sein, keinen Tisch mehr als Schutzwall vor sich zu haben. Das anfängliche Gefühl der Unsicherheit legt sich erfahrungsgemäß schnell, wenn sich nach der Einführung und den ersten Übungen eine Arbeits- atmosphäre etabliert hat, die wertschätzend, kooperativ und fehlerfreundlich ist.

        Je nach kulturellem Hintergrund und Persönlichkeit fällt es den Teilnehmer: innen leichter oder schwerer, sich auf die Übungen einzulassen. Während sich einige Teilnehmer:innen mit Freude in die Übungen stürzen, brauchen andere ein bisschen Unterstützung, um eine unsichtbare Grenze zu überschreiten und ein Stück weit ihre Zurückhaltung aufzugeben. Dies gilt es zu respektieren und sie besser nicht mit Druck in Bewegung zu bringen. Meine Erfahrung ist, dass sich diese Menschen mitziehen lassen, wenn sie an mir ein Beispiel sehen, das sie akzeptieren können. Als Rollenmodell versuche ich einen stimmigen Aus- druck zu finden, wenn ich etwas vorspreche. Wenn ich mich dabei selbst als angemessen erlebe und sicher fühle, überträgt sich das auf die Teilnehmer:in- nen. Ich rolle ihnen damit den Teppich aus und mache es ihnen leichter. Ihre


        Zurückhaltung wird vollkommen akzeptiert und gleichzeitig werden sie einge- laden, etwas Neues zu probieren. Ebenso wichtig ist die Dynamik der ganzen Gruppe, die meist an Fahrt aufnimmt, weil die Teilnehmer:innen sich gegen- seitig inspirieren.

        Viele Übungen lassen sich im Stehen besser umsetzen als im Sitzen. Das betrifft die Kleingruppenarbeit und das Üben in großer Runde. Als Auflockerung zwi- schendurch ist zum Beispiel die Variante möglich, im Kreis zu stehen und eine passende Situation vorzugeben (an etwas schnuppern) und dabei Sätze mit körperlichem und stimmlichem Ausdruck zu sprechen („Hmm, das duftet!“) und die Gruppe spricht sie im Chor nach. Ich bitte die Teilnehmer:innen, meine Geste und den Tonfall möglichst genau nachzuahmen – als Unterstützung der präzisen Aussprache und Betonung in Verbindung mit der vorgestellten Be- deutung. Hier wiederhole ich die Sätze und gebe Impulse zur Veränderung, wenn ich stärkere Abweichungen in der Artikulation höre, bis ich mit dem Gruppenergebnis zufrieden bin. Die Intonation muss selten verbessert werden, denn wenn Sprech- und Körperausdruck übereinstimmen, wird auch der rich- tige „Ton“ getroffen. Je nach Sprachkompetenz entstehen immer längere Sätze. Je alltagsnäher die Sätze sind, um so direkter finden sie Anwendung. In den Pausen bringen Teilnehmer die geprobten Sätze oft mit einem Lächeln wieder an, wenn etwa der Kaffee verführerisch duftet. Daraus lässt sich schlie- ßen, dass sie sich nachhaltig eingeprägt haben.

      6. Bewegung: Arbeit mit dem Ball

        Einen Ball in eine Gruppe zu geben, bringt auf der ganzen Welt Menschen spie- lerisch in Bewegung, ohne dass sie viel nachdenken oder sich anstrengen müs- sen. Möglich sind verschiedene Arten des Sprechens in einer Kette. So kann ein kleiner Ball herumgeben und die Geste des Gebens mit einem kurzen Satz ver- bunden werden, z.B. eine Runde freundlich und eine sachlich: „Nimmst Du ihn, bitte?“ (die Konsonantenhäufung mit Assimilation, Pauseneffekte und Sprech- ausdruck werden trainiert). Oder wir werfen den Ball im Kreis und rufen dabei:

        „(Name des Gegenübers) - fang!“ (zur Übung des [ŋ]). Der Zeitpunkt des Ab- werfens und Sprechens wird je nach Sinn der Übung unterschiedlich koordi- niert. Bei dem letztgenannten Satz wird auf „fang“ der Ball hinübergeworfen.


        Das Ballwerfen funktioniert auch sehr gut mit längeren Sätzen, um neben der präzisen Artikulation ein Gefühl für Sprechfluss, Rhythmus und Melodie zu be- kommen. Hier wirft man den Ball genau auf dem Satzakzent ab. Liegt dieser weiter hinten im Satz, holt man beim Sprechen erst einmal lang mit dem Wurf- arm aus („Wir haben heute schönes Wetter!“). Liegt er schon am Anfang des Satzes, hält man nach dem Abwurf so lange die Hand in der Luft, wie das Spre- chen dauert, um die Sprechspannung bis zum Ende zu halten („Ausnahmsweise treffen wir uns heute im Büro der Professorin“). Bei diesen längeren Sätzen eignet sich die klassische Weitwurfbewegung nicht: Besser schwingt der Arm über unten nach vorn, ehe der Ball losgelassen wird. Dabei unterstützt das Ge- wicht des Armes den Schwung und die Knie federn mit.

        Es kommt vor, dass jemand eine körperliche Einschränkung hat oder Angst, Bälle zu fangen. Dann suchen wir kreativ nach anderen Varianten der Übung. Abge- bende sind in der Verantwortung, dass Annehmende den Ball so bekommen, wie sie es brauchen. Das kann auch durch Rollen oder Weiterreichen geschehen. Auf diese Weise stärkt die Übung den respektvollen Umgang und bewahrt ihren ko- operativen Charakter.

        Der Ball vereinfacht die Arbeit mit Gegensatzpaaren bei gleichzeitiger Hörkon- trolle durch die ganze Gruppe: Geht es z.B. um die saubere Unterscheidung der Phoneme [ç] und [ʃ] stehen die Wortpaare für alle sichtbar angeschrieben. Der/die Ballbesitzer:in sucht ein Wort aus (Kirsche), spricht es und wirft gleichzeitig auf dem Wortakzent ab. Der/die Fänger:in spricht nun das gegen- sätzliche Wort (Kirche) – und gibt damit eine Rückmeldung darüber, welches Wort er oder sie gehört hat. Falls es einen Unterschied zwischen dem inten- dierten und dem gehörten Wort gab, wird kurz geübt. Der/die Fänger:in sucht ein neues Wort aus den vorgegebenen Paaren heraus und wirft es jemandem zu. So regelt sich die Reihenfolge und jede/r in der Gruppe bleibt konzentriert dabei, weil der Ball jederzeit zu ihm oder ihr kommen kann und permanent der eigene Höreindruck mit dem der anderen abgeglichen wird.

      7. Verlangsamung

        Im Aussprachetraining sind Wahrnehmung und Konzentration entscheidend. Sobald Lernende unaufmerksam, gestresst oder hektisch werden, sobald sie nicht mehr in sich ruhen, ist das Üben nur vertane Zeit. Es werden Automatis- men reproduziert und der Lerneffekt geht gegen Null.


        Daher ist eine zentrale Aufgabe, Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die ganze Gruppe präsent und arbeitsfähig wird oder bleibt. Das beginnt mit einem Start in die Arbeit, der es allen ermöglicht, innerlich anzukommen und bereit zu werden für das gemeinsame Üben. Je nach Energieniveau sind das zum Bei- spiel angeleitete Körper- und Atemwahrnehmungen oder interaktive Spiele, die eine hohe Präsenz erfordern.

        In der Leitungsrolle ist entscheidend, diesen Raum der Aufmerksamkeit zu schaffen und sich selbst bei Stress regulieren zu können. Und es bedeutet im- mer wieder auch, Automatismen zu stoppen und Langsamkeit in den Prozess zu bringen. Die Verlangsamung öffnet den Wahrnehmungsraum, um gemein- sam genau zu schauen und zu hören, was beim Sprechen passiert. Es ist weitaus effektiver, wenige Themen und Methoden in einer Übungseinheit durchzuge- hen und diese dafür intensiv zu erleben, als ein buntes Aktionsprogramm zu starten.

      8. Vorbildfunktion und Feedback

        Auf dem Weg, die Zielsprache leichter und verständlicher zu realisieren, ist für die Übenden der/die Dozent:in Wegweiser und Orientierung. Das Bemühen in der Leitungsrolle um eine deutliche Aussprache, die hier und da übertrieben wird, erleichtert den Übenden die Wahrnehmung.

        Für ein hilfreiches Feedback zum gesprochenen Deutsch hat es sich als nützlich erwiesen, nicht nur genau hinzuhören sondern den ganzen Menschen wahr- zunehmen. Daraus entstehen Impulse für die Arbeit.

        Den meisten Menschen fällt es schwer, ihre Zungenbewegung genau wahrzu- nehmen oder das Zusammenspiel aller Artikulationsorgane mit dem Atem und die Tonhöhenbewegung und Lautstärke genau zu kontrollieren. Sie können die Differenzierungen aber meistens hören und versuchen, den Laut, die Lautfolge oder den Ausspruch identisch klingen zu lassen. Da auch das mitunter an Gren- zen stößt, helfen uns Vorstellungsbilder, Intentionen oder Bewegungen, auf die wir Zugriff haben.

        Zur Veranschaulichung drei Beispiele aus der Vielfalt der Möglichkeiten:

        1. Bei einer insgesamt undeutlichen und nasalen Sprechweise fällt die un- bewegliche Oberlippe auf. Nach Aktivierungsübungen für die Oberlippe gewinnt die Aussprache an Plastizität.


        2. Fließende Sprechbögen mit passender Pausensetzung entstehen durch die Koordination mit dem Blickkontakt, der immer erst nach Ende des Sinnschrittes zur nächsten Person wechselt („Stellen Sie sich vor, dass Sie diesen Ausspruch genau dieser Person hinüberreichen“).

        3. Eine insgesamt überanstrengte Artikulation, die schon beim Zuhören er- schöpft, gewinnt an Leichtigkeit durch Übungen zur Entspannung der Augenpartie (z.B. durch das bewusste Zurücksinkenlassen der Augen in ihre Höhlen oder der Vorstellung, nicht von den Augen, sondern von der Sehrinde am Hinterkopf aus zu schauen).

          Manche Impulse werden verworfen und manche als nützliche Hilfsmittel er- kannt. Immer wieder gelingt Teilnehmenden gerade durch solche Unterstüt- zungsangebote ein großer Entwicklungsschritt.

      9. Trainingscharakter

    Deutsch zu sprechen erfordert im Vergleich zu den meisten anderen Sprachen einen höheren Energieeinsatz, ist körperlich also „Leistungssport“ und muss schon deshalb trainiert werden. Gut klingendes Deutsch braucht eine ver- gleichsweise hohe Artikulationsspannung, große Mundöffnung und starke Lip- penspannung. Aus diesem Grund ist es umgekehrt für Deutsche bei der Aneig- nung fremder Sprachen mitunter gewöhnungsbedürftig, wenn hier eine „spar- same“ und entspannte Aussprache offensichtlich schon reicht.

    Zur Einstellung der Gruppe auf diese Sprechenergie helfen elementare Übun- gen aus der Sprecherziehung. Auch sie lassen sich zur Anwärmung oder zwi- schendurch zur Aktivierung je nach Bedarf einsetzen: Strecken, Dehnen, Kau- übungen zur Lockerung des Unterkiefers, Zähne der Reihe nach mit der Zunge abtasten, Pleueln, Lippen abwechselnd breit ziehen und runden, Gesicht mas- sieren und ausstreichen und dabei den Unterkiefer mitnehmen, auch Korken- sprechen und Abspannen. Das fördert die Bereitschaft der Artikulationsor- gane, sich auf die fremde Sprache umzustellen. Wer eine Sprache erst im Er- wachsenenalter erlernt, muss ein Stück weit neu Sprechen lernen. Damit ver- bunden ist ein Einlassen auf den neuen Rhythmus und das Trainieren bisher unbekannter Zungenbewegungen. Und es braucht viele Wiederholungen, um die Abläufe zu beherrschen.

    Die oftmals praktizierte zeitliche Begrenzung der Phonetikkurse auf wenige Blocktage ist unter diesem Aspekt zu bedauern, denn noch nachhaltiger wäre


    das Training, wenn es regelmäßig in kürzeren Zeiteinheiten über mehrere Mo- nate stattfinden könnte.

  6. Schlusswort

    Das Einbeziehen von Anregungen und Übungen aus der Sprecherziehung und Sprechwissenschaft kann den Phonetikunterricht mit ausländischen Studie- renden der Germanistik bereichern. Inhalte als auch Didaktik aus den Feldern Rhetorik, Stimm- und Sprechbildung, Textsprechen und Theater lassen sich in der Arbeit nutzen. Der vielfältige und „bewegte“ Unterricht fordert und för- dert die Lernenden auf den verschiedenen Ebenen des Sprechens. Er kann hel- fen, Blockaden zu lösen, die Atmosphäre positiv zu beeinflussen, die Dreieinig- keit von Schriftbild, Vorstellungsbild und Ausspruch zu stärken und Sprechab- läufe nachhaltig zu implementieren.

  7. Literatur

Birkenbihl, Vera F. (2010): Sprachenlernen leichtgemacht. Die Birkenbihl-Methode Fremd- sprachen zu lernen. München: mvg.

Butzkamm, Wolfgang; Butzkamm, Jürgen (2019): Wie Kinder sprechen lernen. Kindliche Ent- wicklung und die Sprachlichkeit des Menschen. Tübingen: Narr Francke Attempo.

Duden 6 (2015): Das Aussprachewörterbuch. Betonung und Aussprache von über 132 000 Wörtern und Namen. 7. komplett überarbeitete und aktualisierte Auflage. Mann- heim: Bibliographisches Institut.

Dyckhoff, Katja; Westerhausen, Thomas (2010): Stimme: Das Geheimnis von Charisma. Aus- drucksstark und überzeugend sprechen. Neue Methoden und Übungen. Regensburg: Walhalla.

Fischer, Andreas (2007): Deutsch lernen mit Rhythmus. Der Sprechrhythmus als Basis einer integrierten Phonetik im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Leipzig: Schubert.

Kroemer, Sandra (2013): Phonetik. In: Hantschel, Hans-Jürgen; Brinitzer, Michaela; Kroemer, Sandra; Möller-Frorath, M.; Ros, Lourdes (Eds.): DaF unterrichten: Basiswissen Didak- tik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (inkl. DVD-Video) 2. erweiterte Auflage. Stuttgart: Klett, 82-94.

Kroemer, Sandra (2016): Phonetik braucht Bewegung. In: Dahmen, Silvia; Hirschfeld, Ursula (Eds.): Fremdsprache Deutsch Nr.55. Phonetik in der Unterrichtspraxis. Berlin: Erich Schmidt Verlag. http://www.fremdsprachedeutschdigital.de/download/fd/FD-55- Kroemer.pdf (31.10.2022).

Plath, Maike (2017): Befreit euch. Anleitung zur kleinen Bildungsrevolution. Theorie und Praxis. Norderstedt: BoD.

Rausch, Rudolf; Rausch, Ilka (1991): Deutsche Phonetik für Ausländer. 2. durchgesehene Auf- lage Leipzig: Langenscheidt.


Saatweber, Margarethe (2004): Einführung in die Arbeitsweise Schlaffhorst-Andersen. At- mung, Stimme, Sprache und Bewegung in ihren Wechselwirkungen. 5. Auflage Id- stein: Schulz-Kirchner.

Schürmann, Uwe (2007): Mit Sprechen bewegen. Stimme und Ausstrahlung verbessern mit atemrhythmisch angepasster Phonation. München/Basel: Reinhardt.

Stock, Eberhard; Hirschfeld, Ursula (2000): Phonothek. Deutsch als Fremdsprache. Arbeits- buch. 5. Auflage Leipzig: Langenscheidt.

Zerfaß, Rolf (2003): Lektorendienst. Fünfzehn Regeln für Lektoren und Vorbeter. 7. überar- beitete Auflage Trier: Paulinus.

Anhang

Zusatzmaterial: König/Duan | Mündlichkeit im Posting- Format

Beispiel 3 – „verdichtete“ Sprachnachrichten (WhatsApp)

#1 [29.12.2017; 18:10] Sonja (Textnachricht):

Das ist nicht schön, aber ein bisschen Auszeit darf man sich ja auch mal gönnen! Das freut mich 😃😃 bei mir ist auch alles super soweit!


#2 [25.01.2018, 12:56] Lisa (Sprachnachricht 0:47 Min.)


001

L:

sorry ich hab echt VOLL vergessen zu Antworten



irgendwie;

002


<<lachend>ich WEISS nich->

003


zuhause hing ich irgendwie nich so viel am HANdy,

004


°hh ähm ich hoffe du hattest ein schönes silVESter-=

005


=und bist gut ins neue jahr geSTARtet,

006


°hh ähm: (0.6) und bei dir ist die klausurenphase



nicht allzu STRESsig,

007


°h (0.1) ähm ich HAB ja gar keine klausurenphase-=

008


=ich hab ja <<lachend>einfach> DURCHgehend die ganze



zeit klausuren-

009


°h und momentan is es SUper strEssig,

010


ähm ich hab so zwei abschlusskla also eine



ABschlussklausur,

011


(oder/wat) mÜndliche klausur °h äh jetzt anfang



FEbruar-

012


und dann ne woche später °hh äh testAt an ner leiche



über den ganzen KOPF,

013


und das is super VIEL;=

014


=und °h JA:;

015


((schnalzen)) °h momentan gibts eigentlich nichts



anders außer LERnen;

016


das_s n_bisschen FURCHTbar;=

017


=aber <<lachend> h°> naJA;


  1. (0.5) ((schnalzen)) <<h> ich wollt mich auf jeden fall mal MELden bei dir;

  2. es TUT mir leid;>

  3. °h bist du über kArneval AUCH zuhause-= 021 =ode:r äh musst du klausuren SCHREIben; 022 °h Ich kann zum glück nach HAUse fahren-= 023 =und n_bisschen FEIern;

024 ich freu mich schon RIEsig;


#3 [30.01.2018, 18:39] Sonja (Sprachnachricht, 1:11 Min.)


001

S:

HEY du:;

002


äh is GAR kein problem;

003


ich war jetzt zum beispiel °h letztes wochenende ab



mittwoch AUCH zuhause;

004


und dann häng ich auch immer gar nich am HANdy-

005


deswegen °h kann ich voll verSTEhen-

006


°h (0.2) ähm (0.1) ich hab GLÜCK-

007


<<lachend>dieses> seMEster;

008


ich schreib nur zwei HAUSarbeiten-=

009


=also gar keine klauSUren-

010


°h damit müsst_ich zwar auch mal ANfangen-

011


aber immerhin hab ich dann keinen STRESS momentan-=

012


=is ganz entSPANNT;

013


aber es hat halt NIEmand zeit;=

014


=weil alle irgendwie (0.2) klausUren SCHREIben;

015


also (0.2) auch nich so COOL,

016


°h (0.2) äh: ich wünsch dir auf jeden fall ganz viel



erfolg bei deinen äh bei deiner mündlichen prÜfung da:



anfang FEbruar,

017


°h (0.2) und ähm boah KRASS;

018


kommst du denn KLAR mit den leichen,

019


also ich glaub ich KÖNNT das nich;

020


ich WEISS nich;

021


°hh ich hab schon n bisschen SCHISS davor-

022


wenn ich dann BIo anfange-

023


und wir dann an TIEren irgendwas machen müssen;


  1. aber °hh menschen find ich nochmal (0.1) HÄRter;

  2. aber ich wünsch dir auf jeden fall bei allem ganz viel erFOLG,

  3. °h und ähm ((schlucken schnalzen)) ja an KARneval- 027 ich (0.1) hab zwar FREI,

028 und muss ja nichts SCHREIben und so, 029 aber ich bleib trotzdem in DORTmund-

030 weil erstens hab ich gar keine lUST so auf die LEUte- 031 ich wüsst nich mit wem ich FEIern sollte-

032 die meisten kommen auch GAR nich- 033 weil die klauSUren haben-

  1. °hh un:d ähm (0.4) ja dann setz ich mich lieber hier in dortmund an meine HAUSarbeiten-

  2. und ich muss ja auch ein bisschen ARbeiten und so; 036 °h ja das PASST schon;

  1. <<h> aber dann wünsch ich dir auf jeden fall AUCH ganz viel spaß-

  2. °hh u::nd °h joa sonst kannst du ja nochmal beSCHEID sagen-

  3. bist du dann sOnst in den semesterferien nochmal zuHAUse,

  4. vielleicht können wir uns ja nochmal SEhen oder so;>


#4 [30.01.2018, 19:06] Lisa (Sprachnachricht 1:36 Min.)


001

L:

das_s doch COOL;=

002


=dass du keine klauSUren hast,

003


sondern nur HAUSarbeit,=

004


=also ich mein ich hab (0.1) selber noch nie



hausarbeit SCHREIben müssen,

005


aber ich denk das is <<lachend> entSPANNter als> ne



klausUr?

006


°h ä:hm aber trotzdem ja (0.1) viel ARbeit,

007


°h ähm (0.4) ((schnalzen)) °h ja DANkeschön;=

008


=ich hab übermorgen die ERste wieder,

009


also was heißt die (0.1) ERste;

010


ich hab ja bei mir keine klauSURphase-


  1. ich (0.1) das geht ja bei mir kontinu<<lachend>ierlich> °h äh WEIter,

  2. °h (0.2) un:d äh mit der LEIche,

  3. also: die ersten male war es KOmisch- 014 aber mittlerweile is es so abSTRAKT-

  1. dass du halt auch (0.2) du erKENNST den menschen halt nich mehr,

  2. wir ham das gesicht DURCHgeschnitten- 017 °h ähm:: es is NICHTS mehr da-=

018 =was noch <<lachend> irgendwie nach m> also wo du halt SIEHST-

  1. oKAY;

  2. das is jetzt irgendwie: der herr SO und so;

  3. also °h du erkennst halt NICHTS;

  4. also °h (0.3) ähm jetzt sehen alle leichen irgendwie GLEICH aus;=WEISST du,

  5. und vorher war_s halt DOCH so-=

024 =du hattest das (0.1) die gesicht auf dem ha ähm (0.7) die haut <<lachend>auf dem> gesicht so RUM,

025 °h und ähm ((schlucken)) ja mittlerweile is das jetzt nen bisschen\

026 °hh (0.3) ÖHM;

027 (0.4) JA;=

028 =und mit KARneval- 029 °h SCHAde;

  1. ((schnalzen)) dann sehen wir uns da auf jeden fall NICH-

  2. also ich (0.1) KOMme für karneval, 032 und semesterferien HAB ich keine,

033 °h ich hab (0.1) äh PRAKtikum leider, 034 also ZWEI-

  1. einmal cheMIE-

  2. und einmal (0.1) °h ähm BIo; 037 (0.5)und (1.0) <<gähnend>JA;> 038 is NICH so cool,

039 (0.4) aber ich bin immer so ne woche zuHAUse-


  1. ne woche NÜRNberg-

  2. woche <<lachend> zuHAUse>- 042 woche in NÜRNberg-=

043 =s is n bisschen unpraktich geTIMT; 044 aber naJA;

045 °h dann hab ich am ende nochmal glaub ich ZWEI wochen- 046 also über !O!stern bin ich auf jeden fall °h (0.3) ähm

(0.8) ((schnalzen)) zuHAUse-

047 da können wir uns auf jeden fall nochmal TREFfen- 048 is: <<lachend>zwar> noch n bisschen be HIN,

049 aber ich glaub °h ich SCHREIB dir mal;= 050 =wenn ich DA bin;=

051 =dann: vielleicht hast bist du auch Zufällig zuhause oder so;

  1. °h und da erGIBT sich was-

  2. und °hhh gibts SONST was neues bei dir-

  3. bist du irgendwie jetzt ähm (0.5) ((schnalzen))

<<all> irgendwie mit dem !SPORT!-> 055 oder mit deiner !WOH!nung-

056 hehehe;


#5 [04.02.2018, 20:27] Sonja (Sprachnachricht 1:18 Min.)


001

S:

oKAY;

002


das is ja auch GAR nich komisch;=

003


=wenn du SAGST-

004


ihr habt das geSICHT durchgeschnitten,

005


°hh ähm aber ((lachen)) °h nee FREUT mich auf jeden



fall,

006


dass du dich dran geWÖHNT hast-

007


und ähm dass du damit KLARkommst und alles-

008


°h ich hoffe deine klasur a::m (0.8) d äh:: (0.3)



DONnerstag?

009


(0.7) war GUT?

010


°h (0.2) un:d ähm: is gut geLAUfen und so-

011


und oh das is Echt MIES;=

012


=dass du keine seMESterferien dann hast;


013 und das mit der Einen woche hin und HER-= 014 =das is auch ECHT richtig doof getimt;

  1. °h aber du kannst ja mal beSCHEID sagen-

  2. wenn du DA bist-

  3. dann komm ich vielleicht AUCH- 018 °hh od oder halt ich bin DA-

  1. °h (0.3) ähm über Ostern bin ich AUCH auf jeden fall da,

  2. da hab ich auch geBURTSta:g-

  3. °h wobei ich nur die ZWEIte osterferienwoche da bin;= 022 =also halt AB (0.2) karfreitag dann sozusagen;

  1. °h (0.3) mhm (0.8) ((schlucken)) und äh (0.6) beim SPO:RT-

  2. ja ich mach jetzt in den seMESterferien irgendwas,

  3. aber keine ahnung WAS;

  4. hab_ich noch nich entSCHIEden irgendwie, 027 °h JOA;

  1. (0.1) LÄUFT nich so,

  2. °h (0.2) äh:m und ich bin ja jetzt (0.1) heute tatsächlich in die (0.1) we ge für (0.1) äh die seMESterferien gezogen?

  3. °h also für zwei MOnate-

  4. °h (0.1) und ähm bin dann halt auf der suche nach irgendwas ab dem ersten aPRIL-=

032 =dass ich da quasi direkt WEIterziehen kann- 033 °hhh öhm ja ich hab auch schon nen paar sachen

geFUNden-

034 =aber so mEga viel gibts halt noch nich-

035 und (0.5) ja (0.1) da suchen halt auch MEga viele-=

036 =also vielleicht find ich auch erst was zu MAI oder so-

037 aber °hh ich bin da auf jeden fall auf der SUche- 038 (0.2) °h un::d (0.9) ((schlucken)) JOA;

039 °h geNAU;=

040 =ich glaub das war ALles was du <<gerundet>gesagt hattest;>


Beispiel 4 – „Sprachnachrichten-Ketten“ (WeChat)

#1 [13.04.2020, 21:59] Dozentin Frau Wang (Sprachnachricht

0:22 Min.)

  1. Emma (.) 论文(-) 我给你(-) 发到 QQ (.) 上面了;

    Emma lùnwén wǒ gěi nǐ fādào QQ shàngmiàn le Emma Arbeit ich geben du schicken QQ oben PART Emma, ich habe dir die Arbeit per QQ geschickt.

  2. °h :: (--)(.)那个先全部浏览一遍我(.)批注的内容.

    e nǐ nàgè xiān quánbù liúlǎn yībiàn wǒ pīzhù de nèiróng äh du das zuerst vollständig durchlesen einmal ich kommentieren PART Inhalt Lies bitte zuerst alle Inhalte durch, die ich kommentiert habe.

  3. 就是尤其是在最后文献呃:: Literaturverzeichnis 那儿;

    jiùshì yóuqí shì zài zuìhòu wénxiàn e Literaturverzeichnis nà sein vor allem sein PRÄP letzt Literaturverzeichnis äh Literaturverzeichnis dort Lies vor allem die Seite des Literaturverzeichnisses.

  4. 我在那里面°h 最后的时候就是(.):

    wǒ zài nà lǐmiàn zuìhòu de shíhòu jiùshì e ich PRÄP dort innen letzt PART zeit sein E

  5. 把就是全文的(.)主要问题在那里又(.)全部说了一下;

    bǎ jiùshì quán wén de zhǔyào wèntí zài nàlǐ yòu machen sein ganz Text PART haupt Problem PRÄP dort wieder quánbù shuō le yīxià

    vollständig sprechen PART einmal

    Ich habe alle Probleme auf der Seite des Literaturverzeichnisses zusammengefasst


    #2 [13.04.2020, Zeit unbek.] Dozentin Frau Wang (Sprachnach- richt 0:16 Min.)

    1. 比较大的几个问题;

      bǐjiào dà de jǐgè wèntí ziemlich groß PART einige Problem Es gibt einige ziemlich große Probleme.

    2. 第一(.)完全没有定性(分析)分析的部分;

    dìyī wánquán méiyǒu dìngxìng fènxī fènxī de bùfen erstens total NEG qualitativ Analyse Analyse PART Teil Erstens gibt es überhaupt keinen Teil mit einer qualitativen Analyse.


    03

    第二(.)这个在语言表述方面




    dìèr zhègè zài yǔyán biǎoshù fāngmiàn

    zweitens das PRÄP Sprache Ausdruck Aspekt

    Zweitens gibt es Probleme in Bezug auf den sprachlichen Ausdruck.

    04

    写论文的时候不能用 ICH(.)我怎么样哈;




    xiě lùnwén de shíhòu búnéng yòng ich wǒ zěnmeyàng

    schreiben Arbeit PART Zeit nicht benutzen ich (dt.) ich (chin.) wie Beim Schreiben der Arbeit soll man ,,ich“ nicht benutzen.

    ha PART

    05

    ()客观表术(.) die verfasserin 怎么怎么样




    yào

    sollen

    yòng

    benutzen

    kèguān

    objektiv

    biǎoshù die Verfasserin

    Darstellung die Verfasserin

    zěnme zěnmeyàng

    wie wie


    Man soll die Arbeit objektiv schreiben. Anstelle von ,,ich“ kann ,,die Verfasserin“ verwendet werden.

  6. 或者是用(.)这个被动态(嗯哼);

huòzhěshì yòng zhègè bèidòngtài ènheng oder benutzen das Passiv TAG Oder man benutzt das Passiv.


#3 [13.04.2020, Zeit unbek.] Dozentin Frau Wang (Sprachnachricht 0:36 Min.)

  1. ::另外(.)就是这个数据部分

    e lìngwài jiùshì zhègè shùjù bùfen E außerdem sein der Daten Teil

    Außerdem sollst du auch auf die Datenerhebung achten.

  2. (.)如果只是单纯地列(.)我出现了多少次;

nǐ rúguǒ zhǐshì dānchún de liè wǒ chūxiàn le duōshǎo cì

du wenn nur allein PART aufzeichnen ich auftreten PART wie viel Mal 03 这个数据是完全没有任何参考意义的;

zhègè shùjù shì wánquán méiyǒu rènhé cānkǎo yìyì de

diese Daten sein völlig kein irgend Referenz Bedeutung PART Wenn du nur die Anzahl der Vorkommen listet, sind die Daten völlig bedeutungslos.

04 必须列频率;

bìxū liè pínlǜ müssen listen Frequenz

Du musst die Frequenz listen.


05 (--)你说(.)::在一篇德语文章中呃::

nǐ shuō e zài yī piān déyǔ wénzhāng zhōng e du sagen E PRÄP ein CLASS deutschsprachig Artikel in E

06 这个(.)比如说模糊语出现了 10 ;

zhègè bǐrúshuō móhú yǔ chūxiàn le shí cì

das zum Beispiel vage Sprache vorkommen PART zehn Mal

Nehmen wir an, dass vage Ausdrücke in einem deutschsprachigen Artikel zehnmal auftreten.

  1. 在另外一篇中文文章中出现了(.)100 ;

    zài lìngwài yī piān zhōngwén wénzhāng zhōng chūxiàn le 100 PRÄP andere ein CLASS chinesischsprachig Artikel in auftreten PART 100 cì

    Mal

    In einem anderen chinesischsprachigen Artikel erscheinen sie hundertmal.

  2. 这个()就是一定是德语(.)呃中文文章中(这个)用的频繁吗?

    zhègè yǒu jiùshì yīdìng shì déyǔ e zhōngwén

    das haben sein bestimmt sein deutschsprachig E chinesischsprachig wénzhāng zhōng zhègè yòng de pínfán ma

    Artikel in das verwenden PART häufig MA

    Treten die vagen Ausdrücke in dem chinesischsprachigen Artikel häufiger als in dem deutsch- sprachigen Artikel auf?

  3. 可能这篇文章是 10 ()的文章;

kěnéng zhè piān wénzhāng shì shíwàn zì de wénzhāng vielleicht der CLASS Artikel sein Hunderttausend Wort PART Artikel Vielleicht umfasst der chinesischsprachige Artikel 100,000 Wörter.


10

然后在德语文章中虽然只出现了十次;







ránhòu

dann shí

zài déyǔ wénzhāng PRÄP deutschsprachig Artikel

zhōng in

suīrán zhǐ obwohl nur

chūxiàn auftreten

le PART


zehn

Mal







11

但是可能只是个(.)100 的文章

;







dànshì

aber

kěnéng

vielleicht

zhǐ

nur

shì

sein

CLASS

100

Hundert

Wort

de

PART

wénzhāng

Artikel


Dann: Obwohl die vagen Ausdrücke nur zehnmal in dem deutschsprachigen Artikel vorkommen, kann es sein, dass dieser Artikel nur 100 Wörter umfasst.


12 所以呢(.)一定要算频率;


suǒyǐ

ne

yídìng

yào

suàn

pínlǜ

deshalb

also

unbedingt

müssen

zählen

Frequenz

Deshalb muss man die Frequenz unbedingt anführen.


#4 [13.04.2020, Zeit unbek.] Dozentin Frau Wang (Sprachnach- richt 0:56 Min.)

  1. 具体那个(.):::具体来说


    jùtǐ

    nàgè jùtǐ

    láishuō

    konkret

    das konkret

    sagen

    Konkret gesagt

  2. 第一个(.)首先出现了多少的时候;


    dìyī

    shǒuxiān chūxiàn

    le

    duōshǎo

    de

    shíhòu

    erst PART

    zuerst auftreten

    PART

    wie viel

    Mal

    PART

    Zeit

  3. 那个要(.)除以这个总的(.)(你的)KORPUS TOKEN 数呃:

    nàgè yào chúyǐ zhègè zǒngde nǐ de Korpus de Token shù

    jene sollen dividieren diese gesamt du PART Korpus PART Token Zahl

    Erstens soll bei der Berechnung der Frequenz die Anzahl der Vorkommen einer bestimmten Kategorie durch die Gesamtzahl an Token geteilt werden.

  4. (.)在后面的那些各个类别的(.)::对比中

    zài hòumiàn de nàxiē gègè lèibié de e duìbǐ zhōng PRÄP hinter PART diese jede Kategorie PART E vergleichen in

  5. 不能说是看(.)中文中出现了形容词用了 200 ;

bù néng shuō shì kàn zhōngwén zhōng chūxiàn le xíngróngcí NEG können sagen sein abhängen chinesisch in auftreten PART Adjektiv yòng le 200 gè

nàgè

xíngróngcí yòng

de

yòng

le

180

dieses

Adjektiv verwenden

PART

verwenden

PART

180

CLASS

verwenden PART 200 CLASS 06 那个(.)形容词用的用了 180


07 ()没有任何参考意义;

jiù méi yǒu rènhé cānkǎo yìyì

so NEG haben irgend Referenz Bedeutung

Dieses Adjektiv erscheint 180mal und das andere Adjektiv 200mal. Wenn sie miteinander ver- glichen werden, gibt es keinen Referenzwert für den Vergleich zwischen den beiden Daten.


  1. 要跟他的这个总的;

    yào gēn tā de zhègè zǒng de sollen mit sein PART das gesamt PART Man soll die Anzahl mit der Gesamtzahl vergleichen.

  2. 比如说(.)()(.)个地方就可以是这个形容(.)形容词类的(.)模糊语使用的(.)

bǐrú shuō zài zhègè dìfāng jiùkěyǐ shì zhègè xíngróng xíngróng Beispiel sagen PRÄP diesem Ort können sein dieses Adjektiv Adjektiv cílèi de móhú yǔ shǐyòng de

Kategorie PART vage Sprache verwenden PART

  1. 就是出现的次数除以所有模糊语()出现的次数(.)模糊语现象的这个总(.)总数;

    jiùshì chūxiàn de cìshù chúyǐ suǒyǒu móhú yǔ chūxiàn de sein auftreten PART Anzahl dividieren alle vage Sprache auftreten PART cìshù móhú yǔ xiànxiàng de zhègè zǒng zǒngshù

    Zahl vage Sprache Phänomen PART diese gesamt Gesamtzahl

  2. 计算这个频率;

    jìsuàn zhègè pínlǜ berechnen diese Frequenz

    Nehmen wir als Beispiel die Adjektivkategorie. Die Anzahl der Vorkommen von vagen Adjek- tivwörtern wird durch die Gesamtzahl der Vorkommen aller vagen Wörter geteilt. Auf diese Weise kann die Frequenz von vagen Adjektivwörtern berechnet werden.

  3. 啊另外呢(.)这个频率算出来之后可以作为(.)::参考可以作为参考


    a lìngwài

    ne

    zhègè

    pínlǜ

    suàn

    chūlái

    zhīhòu kěyǐ zuòwéi

    A außerdem

    NE

    diese

    Frequenz

    berechnen

    aus

    nach können als

    cānkǎo

    kěyǐ

    zuòwéi

    cānkǎo

    Referenz

    können

    als

    Referenz

    Nachdem die Frequenz berechnet wurde, kann sie als Referenz betrachtet werden.

  4. 但是想要():更有说服力一点;


    dànshì

    xiǎngyào gèng gèng

    yǒu

    shuōfúlì

    yīdiǎn

    Aber

    wollen mehr mehr

    haben

    überzeugend

    ein bisschen

  5. 可以做一个卡方检验卡方呃::(这个)这个 signifikant

    kěyǐ zuò yī gè kǎfāngjiǎnyàn kǎ fāng e zhègè zhègè signifikant

    können machen ein CLASS Chi-Quadrat-Test Chi-Quadrat E das das signifikant


  6. 就是这个(.)显著值(.)检验;

    jiùshì zhègè xiǎnzhùzhí jiǎnyàn sein das Signifikanz Test

    Wenn du jedoch möchtest, dass die Daten überzeugender als zuvor sind, kannst du einen Chi- Quadrat-Test durchführen, bei dem es sich um einen Signifikanz-Test handelt.


    #5 [13.04.2020, Zeit unbek.] Dozentin Frau Wang (Sprachnach- richt 0:29 Min.)

    zhègè

    cāozuò

    jièzhù

    yī

    hěn

    xiǎo de ruǎnjiàn

    dieses

    Vorgehen

    mithilfe

    ein CLASS

    sehr

    klein PART Software

    然后很容易就办到了;

    ránhòu hěn

    róngyì

    jiù

    bàndào

    le

    ha

    dann sehr

    leicht

    so

    vollbringen

    PART

    PART

    01 这个操作借助一个:(.)很小的软件


    02


    Dieses Vorgehen ist mithilfe einer kleinen Software leicht zu vollziehen.

    1. ::如果::(.)想做这一步的话;

      e rúguǒ nǐ xiǎng zuò zhè yī bù de huà E wenn du möchte machen der ein Schritt PART Wort

      wǒ nàgè

      kěyǐ

      jiāo

      nǐ yīxià

      ich jene

      können

      beibringen

      du einmal

      很容易就办到了;

      hěn

      róngyì

      jiù

      bàndào

      le

      sehr

      leicht

      so

      vollbringen

      PART

    2. :那个可以教你一下;


    05


    Wenn du den Chi-Quadrat-Test machen möchtest, kann ich es dir beibringen. Er ist leicht zu durchzuführen.

    06 但是这样(.)你出现的(.):拿出来的这个数据就:不太有争议了;


    dànshì zhèyàng

    nǐ


    chūxiàn

    de

    e

    chūlái

    de

    zhègè

    shùjù

    Aber


    so

    du

    erscheinen

    PART

    E

    nehmen

    aus

    PART

    diese

    Daten

    jiù

    tài

    yǒu


    zhēngyì

    le







    so

    NEG

    ganz

    haben

    Streit

    PART







    Auf diese Weise sind die Daten weniger kontrovers.


    1. 就非常具有(.):这个(.)参考意义了哈;

      jiù fēicháng jùyǒu e zhègè cānkǎo yìyì le ha

      so sehr haben E der Referenz Wert PART PART Dann haben die Daten Referenzwert.

    2. 另外呢(.)这个这只是数据部分;

      lìngwài ne zhègè zhè zhǐ shì shùjù bùfen außerdem NE der der nur sein Daten Teil Außerdem handelt es sich nur um einen Teil der Daten.

    3. 你在所有的这个论文研究部分只做了数据统计(.)


    nǐ zài su

    du PRÄP all

    zhègè

    der

    lùnwén

    Arbeit

    yánjiū

    Untersuchung

    bùfen

    Teil

    zhǐ

    nur

    zuò

    machen

    le

    PART

    10

    没有做定性分析;








    méi

    NEG

    yǒu

    haben

    zuò

    machen

    dìngxìng

    quantitativ

    fēnxī

    Analyse

    Im Untersuchungsteil dieser Arbeit hast du nur Statistiken und keine qualitative Analyse durchgeführt.


    #6 [13.04.2020, Zeit unbek.] Dozentin Frau Wang (Sprachnach- richt 0:13 Min.)

    1. 然后语法方面;(.)

      ránhòu yǔfǎ fāngmiàn dann Grammatik Aspekt

      um...zu 结构用地全部不对(.);

      um...zu jiégòu yòng de quánbù bú duì ha um...zu Struktur verwenden PART alle NEG richtig PART

      In Bezug auf die Grammatik ist die Verwendung der syntaktischen Struktur von ,,um...zu“ völ- lig falsch.

    2. um...zu(.)你看看 um...zu 要怎么用(.)

      um...zu nǐ kànkàn um...zu yào zěnme yòng um...zu du sehen um...zu sollen wie verwenden Denk darüber nach, wie du ,,um...zu“ verwenden sollst.


    3. 要主句(.)和从句(.):um...zu 结构的这个逻辑主语是一致的时候才能用 um...zu;


    yào

    zhǔjù hé cóngjù

    e um...zu

    jiégòu

    de zhègè

    brauchen

    Hauptsatz und Nebensatz

    E um...zu

    Struktur

    PART das

    zhǔyǔ

    shì yīzhì de shíhòu

    cái néng

    yòng

    um...zu

    Subjekt sein gleich PART Zeit nur können verwenden um...zu

    ,,Um...zu“ kann nur verwendet werden, wenn die logischen Subjekte des Hauptsatzes und des Nebensatzes gleich sind.


    #7 [13.04.2020, Zeit unbek.] Dozentin Frau Wang (Sprachnach- richt 0:42 Min.)

    1. 所以这些语言表述(.):问题比较多哈;


      suǒyǐ

      zhèxiē

      yǔyán biǎoshù

      a wèntí bǐjiào duō ha

      deshalb

      die

      Sprache Ausdruck

      A Problem ziemlich viel PART

      Deshalb gibt es viele Probleme mit dem sprachlichen Ausdruck.

    2. 另外(.)()个别句子我看不懂


      lìngwài

      yǒu

      gèbié

      jùzi

      wǒ

      kànbùdǒng

      außerdem

      haben

      einige

      Satz

      ich

      NEG verstehen

      Außerdem gibt es einige Sätze, die ich nicht verstehen kann.

    3. 你是:想说什么(--)::你再把它(.)重新说一下哈;


      nǐ

      shì

      xiǎng

      shuō

      shénme

      e

      nǐ

      zài

      bǎ

      tā

      chóngxīn

      shuō

      du

      sein

      möchten

      sagen

      was

      E

      du

      noch

      machen

      das

      wieder

      sagen

      yīxià

      ha





      einmal PART





      Schreib noch einmal neu, was du sagen möchtest.





    4. 或者是说(.)你把这个(.)对应的(.)原文(.):这个中文(.)或者是(.)英语啊什么的(.)附上;:


      huòzhě shì shuō

      nǐ bǎ

      zhègè

      duìyìng

      de

      yuánwén

      a

      oder sein sagen

      du machen

      der

      entsprechend

      PART

      Originaltext

      A

      zhègè zhōngwén huòzhě shì yīngyǔ a shénme de fùshàng a der chinesisch oder sein englisch A was PART Beifügung A

      Oder du kannst auch der Arbeit die entsprechenden chinesischen oder englischen Original- texte beifügen.

    5. 我们一起来看一下(怎么)怎么修改哈;

      wǒmen yìqǐ lái kàn yīxià zěnme zěnme xiūgǎi ha wir zusammen kommen sehen einmal wie wie überarbeiten PART Wir können diskutieren, wie die Arbeit überarbeitet werden soll.


    6. :这个二稿返回去之后(--)抓紧时间(.)也是(.)好好修改哈;

      e zhègè èr gǎo fǎnhuíqù zhīhòu zhuājǐn shíjiān yě shì hǎohǎo E der zweite Entwurf zurück nach fassen Zeit auch sein ernstlich xiūgǎi ha

      ausarbeiten PART

      Nachdem du diesen zweiten Entwurf erhalten hast, sollst du ihn zeitnah überarbeiten.

    7. 因为如果大家都是(.)最后一天交给我的话

      yīnwéi rúguǒ dàjiā dōushì zuìhòu yī tiān jiāo gěi wǒ de huà weil wenn alles sein letzt ein Tag übergeben bei ich PART Wort

    8. 我不可能在(.)一夜之间把大家的论文(都看)都看了

      wǒ bù kěnéng zài yī yè zhījiān bǎ dàjiā de lùnwén dōu ich NEG können PRÄP ein Nacht zwischen nehmen alles PART Arbeit alles kàn le

      sehen PART

      Wenn mir alle Studierenden ihre Arbeit am letzten Tag geben, kann ich sie nicht über Nacht lesen.

    9. 尤其是德语的文章;

    yóuqí shì déyǔ de wénzhāng besonders sein deutschsprachig PART Arbeit

    Die deutschsprachige Arbeit wird besonders betont.

    1. (.)照目前来看

      zhào mùqián láikàn angesichts jetzt sehen

      你这个文章中语言(.)问题还比较多

      nǐ zhègè wénzhāng zhōng yǔyán wèntí hái bǐjiào duō ha du diese Arbeit in Sprache Problem noch ziemlich viel PART Bisher enthält deine Arbeit noch viele sprachliche Probleme.

    2. 所以早点(.)我会有比较充裕的时间来修改哈;

suǒyǐ zǎodiǎn jiāo wǒ huì yǒu bǐjiào chōngyù de deshalb früh übergeben ich werden haben ziemlich reichlich PART shíjiān lái xiūgǎi ha

Zeit kommen überarbeiten PART

Gib mir die Arbeit frühzeitig, und ich werde mehr Zeit haben, sie zu überarbeiten.


#8 [13.04.2020, Zeit unbek.] Studentin Emma (Textnachricht)

好的我改一下

hǎo de wǒ gǎi yīxià

Ja PART ich überarbeiten einmal Okay, ich werde meine Arbeit überarbeiten.


#9 [13.04.2020, Zeit unbek.] Studentin Emma (Textnachricht)

数据那一块我再好好弄一下

shùjù nà yī kuài wǒ zài hǎohǎo nòng yīxià Daten der ein CLASS ich wieder gründlich korrigieren einmal Ich werde die Daten nochmals gründlich korrigieren.


#10 [16.04.2020, 10:42] Studentin Emma (Textnachricht)

老师 lǎoshī Lehrerin比如说 bǐrúshuō

zum Beispiel

计算抽象名词出现的频率时

jìsuàn chōuxiàng míngcí chūxiàn de pínlǜ shí rechnen abstrakt Substantiv auftreten PART Frequenz Zeit是除以所有模糊语还是所有名词类的模糊语呢?

shì

chúyǐ

suǒyǒu

móhú

háishì

suǒyǒu

míngcí

lèi

de

sein

dividieren

all

vage

Sprache

oder

all

substantivisch

Kategorie PART

móhú

ne







vage

Sprache

PART







Lehrerin angenommen, wenn ich die Frequenz abstrakter Substantive berechne, sollte ich die Gesamtzahl des Auftretens von abstrakten Substantiven durch die Zahl aller vagen Ausdrücke oder die Zahl der vagen Substantivwörter teilen?


Beispiel 5 – „Mikro-Sprachnachrichten“ (WeChat)

#1 [13.09.2020, 09:03] Lu (Bild-Posting)


image


#2 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:03 Min.)

01 ?黑不溜秋的又是什:么鬼呀;

há nĭ zhè heībùliūqiū de yòu shì shénme guĭ ya ha du dieses dunkle (Ding) PART wieder sein was Gest YA Was ist dieses dunkle Ding?


#3 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:05 Min.)

01 你看人(.)自己(了)个蛋?呢事整的;

nǐ kàn rén jiǎ rén hái zìjǐ mǎi du sehen Person Lu Person noch selbst kaufen

le gè jīdàn ne zhè shì zhěng de PART CLASS Ei NE diese Sache machen PART Du hast dir selbst ein Ei gekauft.


#4 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

豆汁真

zhè dòuzhī zhēn nán hē Das Douzhir ziemlich NEG trinken Das Douzhir schmeckt ziemlich schlecht.


#5 [13.09.2020, 09:17] Yan (Sprachnachricht 0:09 Min.)

01 哎你:豆汁啊那我以后就不豆汁了


āi

zhè

shì

dòuzhī

ā

yǐhòu

jiù

Ach

du

das

sein

Douzhir

A

dann

ich

danach

dann

NEG

mǎi


dòuzhī


le







kaufen

Douzhir

PART







Ach, das ist Douzhir! Dann werde ich kein Douzhir kaufen.


02 哎呀(.)

āi ya Abtönungspartikel

03 那)我甲帮我尝试一下子呢;

(nà) wǒ jiǎ hái bāng wǒ chángshì


yīxiàzǐ ne

dann ich Lu noch helfen ich probieren Dann probiert Lu anstelle von mir das Douzhir.

einmal

PART


#6 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

呦 ēi you INTERJ

Igitt


#7 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

受不了


shòu

bú

liăo

Ertragen

NEG

PART

Es ist nicht nach meinem Geschmack.


#8 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:07 Min.)

01 ?味儿::啊;(.)

shá wèier a was Geschmack PART Wie schmeckt das Douzhir?

  1. 豆汁跟豆有什么区?

    zhè dòuzhī gēn dòujiāng yǒu shénme qūbié a Das Douzhir und Bohnenmilch haben was Unterschied PART Was ist der Unterschied zwischen dem Douzir und Bohnenmilch?

  2. 你(是)的是豆汁?

    nǐ shì mǎi de shì dòuzhī Du sein kaufen PART ist Douzhir

    Ist das, was du gekauft hast, Douzhir?

    01 是不是豆汁::是那些沫子(.)然后(.)再加上底下的汁子呀;(. )


    shìbúshì

    dòuzhī

    shì

    nàxiē

    mòzi

    ránhòu

    en

    zài

    ob

    Douzhir

    ist

    jene

    Bohnentrester

    dann

    EN

    noch

    Jiāshàng

    Dǐxià


    de

    zhīzi

    ya



    hinzufügen

    unter

    PART

    Saft

    YA



    Ob das Douzhir die Mischung der Bohnentrester und Säfte ist?



    02 然后(.)点水;





    ránhòu

    gěi


    nǐ

    duì

    diǎn

    shuǐ



    dann

    geben

    du

    hinzufügen

    etwas

    Wasser



    Und dann wird etwas Wasser hinzugefügt.




    #10 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

    呦卧槽

    ēi you wo cao INTERJ Schimpfwort


    #11 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

    酸的

    suān de sauer PART

    Es schmeckt sauer.


    #12 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:16 Min.)

    1. 我跟你我都做完核酸我都来找那个:什么啦;(.)

      wǒ gēn nǐ shuō wǒ dōu zuò wán hésuān

      ich zu du sagen ich bereits machen fertig Nukleinsäuretest wǒ dōu lái zhǎo nàgè shénme bǐng la

      ich bereits kommen besuchen jene was Kamerad LA

      Ich habe einen Corona-Test gemacht. Jetzt bin ich auf dem Weg, meinen Freund zu besuchen.

    2. 没走到呢;

    wǒ hái méi zǒudào ne Ich noch NEG ankommen PART Ich bin noch nicht angekommen.


    03

    但我也走到了;




    dàn

    wǒ

    yě

    kuài

    zǒudào

    le


    aber

    ich

    auch

    bald

    ankommen

    PART


    Ich komme aber bald an.



  3. ()丁:在燕郊那个(.)西:叫什么东边那个城市呢;

dīng hái zài yānjiāo nàgè xī jiào shénme Mein Freund noch bleiben YanJiao die West heißt was dōngbiān nàgè chéngshì ne

Ost jene Stadt PART

Mein Freund ist noch in der Stadt östlich von Yanjiao.


#13 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

一股子豆子腐的味

yīgǔzǐ dòuzi fǔlàn de wèi CLASS Sojabohne verfaulen PART Geschmack Das Douzhir schmeckt wie faule Sojabohnen.


#14 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:08 Min.)

  1. :他;

    zhēn màn tā ziemlich langsam er Er ist ziemlich langsam.

  2. 我就不知道他几点起来;

    wǒ jiù bù zhīdào tā jǐdiǎn qǐlái Ich noch NEG wissen er wann aufstehen Ich weiß nicht, wann er aufsteht.

  3. 几点出来的;

    jǐdiǎn chūlái de wann ausgehen PART Wann er ausgeht.

  4. 跟我出来的;

    gēn wǒ shuō yīkuài chūlái de Zu ich sagen gleich ausgehen PART

    Er sagt mir, er sei zur gleichen Zeit aufgebrochen.

    1. 你确定不是:

      nǐ quèdìng búshì huàile ma du bestimmen NEG faul MA Bist du sicher, dass es nicht faul ist?

    2. 要不你(去)找他吧;

yàobú nǐ qù zhǎo tā ba Oder du gehen finden er PART

Ich schlage vor, dass du dem Restaurantbesitzer diese Situation erklären könntest.


#16 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

就是个味

jiùshì zhègè wèi bestimmt dieser Geschmack Das Douzhir soll so schmecken.


#17 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:03 Min.)

01 你?怎么知道就是味儿?啊;

nǐ zěnme zhīdào jiùshì zhègè wèi a du wie wissen bestimmt der Geschmack A Woher weißt du, dass es so schmecken soll?


#18 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:06 Min.)

  1. 七百米就到:了;

    wǒ hái yǒu qībǎi mǐ jiùdàole ich noch haben siebenhundert Meter ankommen Ich bin siebenhundert Meter vom Ziel entfernt.

  2. 没到燕郊呢;

    dīng hái méi dào yānjiāo ne Mein Freund noch NEG ankommen Yanjiao PART Mein Freund ist noch nicht in Yanjiao angekommen.

  3. 事整的你

zhè shì zhěngde nǐ shuō Diese Sache machen du sagen

Ich bin mit seinem Verhalten nicht zufrieden. Was denkst du?


#19 [13.09.2020, 09:20] Lu (Textnachricht)

网上都是一股子豆子腐的味道

wǎngshang dōu shì yīgǔzi dòuzi fǔlàn de wèidào im Internet überall ist CLASS Sojabohnen faulen PART Geschmack Ich habe aus dem Internet gelernt, dass das Douzhir nach faulen Bohnen schmeckt.


#20 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

你自己试试就知道了

nǐ zìjǐ shìshì jiù zhīdào le Du selbst probieren dann wissen PART

Probiere das Douzhir mal, dann kennst du seinen Geschmack.


#21 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:11 Min.)


01 行:吧;(-

xíng ba

fein PART Fein.


02 °h(.)油果子好吃

yóuguǒzi

hǎo

chī

ma

süße frittierte Teigstangen

gut

schmecken

MA

Sind die süßen frittierten Teigstangen lecker?

03 哎?你跟他说这叫什么;(.)

ai nǐ gēn tā shuō zhè jiào shénme AI du zu er sagen diese heißen was

Wie hast du das Frühstück bei dem Restaurantbesitzer bestellt?


04

怎么跟他(.)然后他你的油果子啊;







zěnme

gēn

shuō

de

ránhòu

gěi

de

zhè


Du

wie

zu

er

sagen

PART

dann

er

geben

du

PART

die


yóuguǒzǐ









süßen frittierten Teigstangen








Was hast du dem Besitzer gesagt? Und dann hat er dir die süßen frittierten Teigstangen gegeben.

  1. 我可不吃;

    wǒ kě bù chī ich möglich NEG essen Ich will kein Douzhir essen.

  2. 那我下回就(.)

    nà wǒ xiàhuí jiù mǎi dòujiāng dann ich nächstes Mal nur kaufen Bohnenmilch Dann kaufe ich nächstes Mal nur Bohnenmilch.

  3. (是)叫油条(.)呃糖果子;

zhè shì jiào yóutiáo e tángguǒzi diese sein heißen ,,Youtiao“ E ,,Tangguozi“ Das heißt „Youtiao“ äh ,,Tangguozi“.


#23 [13.09.2020, Zeit unbek.] Yan (Sprachnachricht 0:04 Min.)

  1. ::六百米呢;

    wǒ hái yǒu liùbǎi mǐ ne ich noch haben sechshundert Meter PART Ich bin sechshundert Meter vom Ziel entfernt.

  2. 都(快)把我走冒汗了;

dōukuài bǎ wǒ zǒu màohàn le fast lassen ich gehen schwitzen PART Ich bin so viel gegangen, dass ich fast schwitze.


#24 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

好吃 hǎo chī gut essen

(Die süßen frittierten Teigstangen) schmecken gut.


#25 [13.09.2020, Zeit unbek.] Lu (Textnachricht)

的糖果子

jiù shuō de tángguǒzi

einfach sagen PART süße frittierte Teigstange Ich sage nur ,,Tangguozi“.

Zugänge zu Mündlichkeit im Kontext DaF


image

Katharina König und Ortwin Lämke (Hrsg.)


Ziel des vorliegenden Sammelbands, der aus der Germanistischen Institutspartnerschaft zwischen der Universität Münster und der Xi‘an International Studies University hervorgeht, ist es, Forschungsbei- träge wie auch Praxisberichte zusammenzutragen, die sich einer grundlegenden Reflexion der Rolle von Mündlichkeit als Gegenstand, Methode und Lernziel für den Kontext DaF widmen, und dabei Per- spektiven aus der Linguistik, Literatur- und Sprechwissenschaft zusammenführen. Die Beiträge befassen sich mit grammatischen Besonderheiten und musterhaften Verfestigungen in mündlichen Interaktionen, den Herausforderungen des transkriptionsbasierten Lehrens und Lernens, der fremdsprachendidaktischen Nutzbarma- chung von Praktiken der Mündlichkeit in messengerbasierten Inter- aktionen und dialogischen Methoden des Text-Sprechens sowie sprechwissenschaftlichen Zugängen zur Rederhetorik und zur Pho- netik- wie Prosodievermittlung.


ISBN 978-3-8405-0285-9