Neue Oxoniumhalogenotellurate(IV) aus organischen Medien


Die sowohl aus wäßrigen als auch aus organischen Lösungsmitteln durch Umsetzung mit Halogenwasserstoffsäuren darstellbaren Halogenotellur(IV)säuren liegen aufgrund ihrer extrem großen Azidität in flüssigen und festen Phasen vollständig dissoziiert als Oxoniumhalogenotellurate(IV) vor. Die aus rein wäßrigen Lösungsmitteln dargestellten Oxoniumhalogenotellurate(IV) sind sehr instabil und zersetzen sich außerhalb der Mutterlauge. Eine Stabilisierung solcher Verbindungen gelingt durch Einsatz von Kronenethern oder anderen organischen Molekülen mit Akzeptorfunktionen. Während die Eigenschaften von kronenetherstabilisierten Oxoniumhalogenotelluraten(IV) umfassend untersucht wurden ist nur wenig über lösungsmittelstabilisierte Oxoniumhalogenotellurate(IV) bekannt.

Mit Hilfe der strukturellen Charakterisierung von Oxoniumhalogenotelluraten(IV) ist es möglich, den stereochemischen Einfluß der freien Elektronenpaare an vierwertigen Telluratomen anhand der Bindungsgeometrien zu untersuchen. Desweiteren können die Eigenschaften von Oxoniumionen verschiedenster Größe untersucht und die Erkenntnisse über supramolekulare Wasserstoffbrückenbindungssysteme erweitert werden. Die Isolierung von Reaktionsprodukten der Tellurtetrahalogenide mit Lösungsmitteln läßt Rückschlüsse auf die komplizierten Gleichgewichte zu, die in organischen Lösungsmitteln vorliegen und bisher noch nicht vollständig untersucht sind.

Im Rahmen dieser Arbeit wurden die nachfolgend beschriebenen Tellurhalogenide und Oxoniumhalogenotellurate(IV) aus organischen Lösungsmitteln isoliert. Alle Verbindungen wurden durch vollständige Einkristall-Röntgenstrukturanalysen charakterisiert und schwingungsspektroskopisch untersucht.

Durch die Isolierung von unverzwillingten Einkristallen der Verbindung TeCl4 (1) war es erstmals möglich, die von BUSS und KREBS an einem verzwillingten Kristall durchgeführte Einkristallröntgenstrukturanalyse an einem unverzwillingten Kristall zu überprüfen. Mit der Darstellung der Verbindung [TeCl4].C4H8O2 (2) (C4H8O>2 = 1,4-Dioxan) ist es erstmals gelungen, ein in Lösungen von TeCl4 in Dioxan vorliegendes Bruchstück des Cubangerüstes zu isolieren. Es ist zugleich das erste in einer Kristallstruktur untersuchte TeCl4-Monomer. Oxoniumhalogenotellurate(IV) können durch organische Moleküle mit Akzeptorfunktionen stabilisiert werden. Wird THF als Akzeptor verwendet, so werden bei hoher THF-Konzentration aufgrund des geringen sterischen Anspruchs bevorzugt kleine Oxoniumionen der Form [H3O]+ von den THF-Molekülen koordiniert. Die Ausbildung supramolekularer kationischer Netzwerke wird durch die THF-Koordination verhindert, da die THF-Moleküle nur ein Akzeptoratom besitzen. Die Isolierung der Verbindung [H3O][Te3Br13].3C4H8O (6) (C4H8O = THF) zeigt dies. Der sterische Anspruch der THF-Moleküle ist so gering, daß sie auch Protonen koordinieren können, wie die Darstellung der Verbindung [(C4H8O)2H][Te3Cl13] (4) beweist. Auch 1,4-Dioxan-Moleküle haben nur einen geringen stereochemischen Anspruch. Bei genügend hoher Dioxankonzentration werden Oxoniumionen der Form [H3O]+ oder [H5O2]+ stabilisiert, wie durch die Isolierung der Verbindungen [H5O2][Te3Cl13].3C4H8O2 (3) und [H3O][Te3Br13].3C4H8O2 (7) gezeigt werden konnte. Über das zweite Akzeptorsauerstoffatom des Dioxan-Moleküls kann durch Koordination an benachbarte Oxoniumionen ein supramolekulares Netzwerk ausgebildet werden. In Verbindung 7 wird dies durch die voluminösen trimeren Anionen verhindert.

Durch die Darstellung der Verbindung [(CH3)2CHC(NH2)(OH)][Te3Cl13].(CH3)2CHCN konnte gezeigt werden, daß unstabilisierte Oxoniumchlorotellurate(IV) Nitrile verseifen können. Die Isolierung der Verbindung [CH3C(NH2)(OH)]2[TeI6].2H2O (9) belegt, daß auch die freien Oxoniumiodotellurate(IV) zu dieser Reaktion fähig sind.

Bisher sind nur wenige aus organischen Lösungsmitteln dargestellte Nebengruppenhalogenotellurate(IV) bekannt. Mit den Verbindungen [TiO((CH3)2SO)5][TeCl6].3(CH3)2SO (5) und [Cu((CH3)2SO)6][TeBr6] (8) gelang die Isolierung zweier neuer Spezies dieser Verbindungsklasse, die die Untersuchung des Verhaltens der Halogenotellurate(IV) gegenüber Nebengruppenmetallhalogeniden in organischen Lösungsmitteln ermöglicht.

In allen hier dargestellten Halogenotellurat(IV)-Anionen sind deutliche Korrelationen zwischen zueinander trans-ständigen Te-Hal-Bindungen (Hal = Cl, Br, I) zu beobachten. Je länger eine Te-Hal-Bindung ist, desto kürzer ist die trans zu dieser angeordnete Bindung. Diese Korrelationen stehen im Einklang mit dem Dreizentren-Vierelektronen-Bindungsmodell entlang linearer Hal-Te-Hal-Fragmente. Ein Vergeich mit analogen Strukturen, in denen das Zentralatom kein freies Elektronenpaar besitzt, zeigt, daß die Korrelationen zwischen den trans-ständigen Bindungen in Halogenotelluraten(IV) signifikant stärker sind. Dies kann nur durch die stereochemische Aktivität des freien Elektronenpaars erklärt werden.


Im einzelnen wurden folgende Verbindungen dargestellt und charakterisiert:


Unverzwillingte Einkristalle der farblosen Verbindung TeCl4 (1) (3-D-Grafik im VRML-Format) konnten durch Umkristallisation von frisch sublimierten Tellurtetrachlorid in wasserfreiem Toluol erhalten werden. TeCl4 kristallisiert im monoklinen Kristallsystem (Raumgruppe C2/c, a = 16.892(10) Å, b = 10.370(4) Å, c = 15.097(7) Å, b = 116.86(0)° bei 150 K). Die Molekülstruktur von Tellurtetrachlorid besteht aus einem tetrameren Cubangerüst. Die Ecken der Würfel sind alternierend von Tellur- und Chloratomen besetzt. Jedes Telluratom ist von drei µ3-verbrückenden und drei terminalen Chloratomen verzerrt oktaedrisch umgeben. Die tetramere Einheit ist somit aus vier kantenverknüpften verzerrten TeCl6-Oktaedern aufgebaut. Die Bindungen zu den terminalen Chloratomen sind deutlich kürzer als die zu den verbrückenden. Im ionischen Grenzfall läßt sich die Struktur daher auch als [(TeCl3)+Cl-]4 mit trigonal pyramidalen [TeCl3]+-Einheiten beschreiben. Die schwingungsspektroskopischen Untersuchungen bestätigen diese Interpretation. Die Strukturparameter aus der hier durchgeführten Einkristall-Röntgenstrukturanalyse zeigen keine signifikanten Unterschiede zu denen, die BUSS und KREBS 1971 anhand eines verzwillingten Einkristalls ermittelten.


[TeCl4].C4H8O2 (2) (C4H8O2 = 1,4-Dioxan) konnte in Form von farblosen Kristallen durch Reaktion von Tellurtetrachlorid mit 1,4-Dioxan erhalten werden. Die farblose Verbindung kristallisiert im monoklinen Kristallsystem (Raumgruppe P21/m, a = 6.140(2) Å, b = 12.819(3) Å, c = 6.700(3) Å, b = 90.63(0)° bei 150 K). Die Struktur besteht aus monomeren TeCl4-Einheiten, die über je zwei cis-ständige Dioxan-Moleküle zu Ketten entlang der b-Achse verknüpft sind. Die TeCl4-Einheiten sind disphenoidal aufgebaut. Bei den Dioxan-Koordinationen handelt es sich um schwach bindende Wechselwirkungen. Die TeCl4-Einheiten können somit angenähert als isoliert vorliegende Moleküle betrachtet werden. Mit Verbindung 2 ist es erstmals gelungen, ein monomeres TeCl4-Molekül als Bruchstück der Te4Cl16-Cubanstruktur zu isolieren und kristallographisch zu charakterisieren.


[H5O2][Te2Cl9].2C4H8O2 (3) (C4H8O2 = 1,4-Dioxan) wurde durch Umsetzung von TeCl4 mit konzentrierter wäßriger HCl in Dioxan in Form farbloser Kristalle erhalten. Das Kristallsystem ist orthorhombisch (Raumgruppe Pnma, a = 17.023(4) Å, b = 13.389(4) Å, c = 10.900(3) Å bei 150 K). In 3 ist es erstmals gelungen, ein monomeres [Te2Cl9]--Anion zu isolieren. Die kationische Einheit wird von einem [H5O2]+-Ion gebildet. Das Nonachloroditellurat(IV)-Anion ist aus einer verzerrt quadratisch pyramidalen TeCl5-Einheit aufgebaut, die über eine ihrer Grundflächenkanten mit einem TeCl6-Oktaeder verknüpft ist. Das quadratisch pyramidale TeCl5-Fragment wird durch schwach bindende Wechselwirkungen mit einem Sauerstoffatom der kationischen [H5O2]+-Einheit zu einem stark verzerrten Oktaeder ergänzt. Die Bindungen zu den terminalen Chloratomen sind deutlich kürzer als zu den verbrückenden. Im ionischen Grenzfall kann das Anion in 3 somit auch als [(TeCl3)+(Cl­)2(TeCl4)] formuliert werden. Die Raman-spektroskopischen Untersuchungen an 3 zeigen jedoch, daß die Aufstellung von ionischen Grenzstrukturen nicht eindeutig ist. Die kationische Einheit in 3 wird von [H5O2]+-Ionen gebildet, die über Dioxan-Moleküle zu einem zweidimensionalen supramolekularen Netzwerk parallel zur b,c-Ebene verknüpft sind.


[(C4H8O)2H][Te3Cl13] (4) (C4H8O) = THF) kann durch Umsetzung von TeCl4 mit konzentrierter wäßriger HCl und anschließende Zugabe von einigen Tropfen THF dargestellt werden. Die farblose Verbindung kristallisiert im monoklinen Kristallsystem (Raumgruppe P21/n, a = 8.601(5) Å, b = 12.301(7) Å, c = 26.997(19) Å, b = 96.13(0)° bei 170 K). Die Struktur besteht aus [Te3Cl13]--Anionen und Protonen, die von je zwei THF-Molekülen koordiniert werden. Die trimeren Anionen bestehen aus drei cis-kantenverknüpften TeCl6-Oktaedern. Sie sind direkt in die Abbaureihe der Te4Cl16-Cubanstruktur einzuordnen. Jedes Telluratom ist von einem µ3-verbrückenden, zwei µ2-verbrückenden und drei terminalen Chloratomen umgeben. Die Bindungen zu den terminalen Chloratomen sind deutlich kürzer als die zu den verbrückenden. Daher läßt sich das Anion in 4 im ionischen Grenzfall auch als [(TeCl3+)3(Cl-)4] beschreiben. Die Anionen sind über schwache intermolekulare Abstände zu einer Kette parallel der a-Achse verknüpft. Die kationische Einheit besteht aus einem von zwei THF-Molekülen koordinierten Proton. Die dadurch zwischen den beiden THF-Molekülen entstehende Wasserstoffbrückenbindung ist sehr kurz. Es handelt sich somit um eine kovalente Dreizentrenbindung. Das Proton kann keinem der beiden THF-Moleküle allein zugeordnet werden.


[TiO((CH3)2SO)5][TeCl6].3(CH3)2SO (5) kann durch Reaktion von TiCl4 mit TeCl4 in DMSO dargestellt werden. Die blaß gelbe Verbindung kristallisiert im triklinen Kristallsystem (Raumgruppe P-1, a = 9.518(2) Å, b = 12.185(2) Å, c = 19.347(4) Å, = 86.45(3)°, b = 87.38(3)°, g = 72.45(3)° bei 210 K). Die Kristallstruktur besteht aus [TeCl6]2--Anionen, [TiO((CH3)2SO)5]2+-Kationen und eingelagerten DMSO-Molekülen. In den Anionen sind die Telluratome oktaedrisch von Chloratomen umgeben. Die kationische Einheit besteht aus einem TiO2+-Ion, dessen Koordinationssphäre von fünf DMSO-Molekülen zu einem verzerrten Oktaeder ergänzt wird.


[H3O][Te3Br13].3C4H8O (6) (C4H8O = THF) wurde durch Reaktion von TeBr4 mit konzentrierter wäßriger HBr in THF in Form roter Kristalle erhalten. Die Verbindung kristallisiert im monoklinen Kristallsystem (Raumgruppe P21/m, a = 9.171(4) Å, b = 16.091(7) Å, c = 12.784(6) Å, b = 99.59(3)° bei 170 K). Die Struktur wird von [Te3Br13]­­Anionen und [H3O]+-Kationen, die von je drei THF-Molekülen koordiniert werden, gebildet. Die [Te3Br13]--Anionen bestehen aus je drei cis-kantenverknüpften verzerrten TeBr6-Oktaedern. Sie sind direkt in die Abbaureihe der Te4Br16-Cubanstruktur einzuordnen. Jedes Telluratom im Tridekabromotritellurat(IV)-Anion ist von einem µ3­verbrückenden, zwei µ2-verbrückenden und drei terminalen Bromatomen umgeben. Die Bindungen zu den terminalen Bromatomen sind deutlich kürzer als die zu den verbrückenden. Die Struktur läßt sich daher im ionischen Grenzfall auch als [(TeBr3+)3(Br-)4] beschreiben. Die Anionen sind über schwach bindende Br...Br-Wechselwirkungen zu einem zweidimensionalen Netzwerk parallel zur b,c-Ebene verknüpft. Die kationische Einheit wird von einem [H3O]+-Ion gebildet. Dieses wird von drei THF-Molekülen koordiniert. Das Oxoniumion und die drei THF-Moleküle sind über eine Spiegelebene fehlgeordnet.


[H3O][Te3Br13].3C4H8O2 (7) (C4H8O2 = 1,4-Dioxan) entsteht bei der Umsetzung von TeO2 mit konzentrierter wäßriger HBr in 1,4-Dioxan. Die rote Verbindung kristallisiert im monoklinen Kristallsystem (Raumgruppe P21/m, a = 10.524(4) Å, b = 16.144(5), c = 12.278(4) Å, b = 112.44(3)° bei 170 K). In der Kristallstruktur liegen [Te3Br13]--Anionen und [H3O]+-Kationen, die von je drei Dioxan-Molelülen koordiniert werden, vor. Das Tridekabromotritellurat(IV)-Anion in 7 besteht aus drei cis-kantenverknüpften verzerrten TeBr6-Oktaedern. Es ist in die Abbaureihe der Te4Br16-Cubanstruktur einzuordnen. Jedes Telluratom ist von einem µ3-verbrückenden, zwei µ2-verbrückenden und drei terminalen Bromatomen umgeben. Die Bindungen zu den terminalen Bromatomen sind deutlich kürzer als die zu den verbrückenden. Daher läßt sich die Struktur im ionischen Grenzfall auch als [(TeBr3+)3(Br-)4] beschreiben. Die Anionen sind über bindende Br...Br-Wechselwirkungen zu einer Kette entlang der b-Achse verknüpft. Die kationische Einheit wird von einem [H3O]+-Ion gebildet. Drei Dioxan-Moleküle koordinieren mit je einem Sauerstoffatom an das Oxoniumion. Eine weitere Vernetzung der Oxoniumionen über die Dioxanmoleküle wird von den voluminösen Anionen verhindert. Die kationische Einheit ist über eine Spiegelebene fehlgeordnet.


[Cu((CH3)2SO)6][TeBr6] (8) wurde durch Umsetzung von CuBr2 mit TeBr4 in DMSO in Form rot-brauner Kristalle erhalten. Die Verbindung kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem (Raumgruppe R-3, a = 13.965(2) Å, b = 13.965(2) Å und c = 15.873(3) Å bei 210 K). Die Kristallstruktur besteht aus [TeBr6]2--Anionen und [Cu((CH3)2SO)6]2+-Kationen. In den [TeBr6]2--Ionen sind die Telluratome fast ideal oktaedrisch von Bromatomen umgeben. Die von den DMSO-Molekülen gebildete Koordinationssphäre des Cu2+-Ions ist ebenfalls nahezu ideal oktaedrisch.


[CH3C(NH2)(OH)]2[TeI6].2H2O (9) kann durch Reaktion von Te, I2 und HI in Acetonitril erhalten werden. Die metallisch glänzende, tief schwarze Verbindung kristallisiert im triklinen Kristallsystem (Raumgruppe P-1, a = 7.953(5) Å, b = 8.089(5) Å, c = 9.174(4) Å, a = 99.79(4)°, b = 90.89(4)° und g = 106.71(4)° bei 170 K). In der Kristallstruktur liegen [TeI6]2--Anionen und wasserkoordinierte [CH3C(NH2)(OH)]+-Kationen vor. Die [TeI6]2--Ionen sind verzerrt oktaedrisch aufgebaut. Sie sind durch starke intermolekulare Anion-Anion-Wechselwirkungen zu einem dreidimensionalen Netzwerk verknüpft. Die kationische Einheit wird von protonierten Essigsäureamid-Molekülen gebilden. Sie sind durch Verseifung des als Lösungsmittel eingesetzten Acetonitrils entstanden. Je zwei Wassermoleküle verknüpfen je zwei [CH3C(NH2)(OH)]+-Moleküle zu dimeren kationischen Einheiten.