16h30, Feierabend, Nachhauseweg. Ich gehe schnellen Schrittes bergauf, überhole langsamere Menschen auf dem schmalen, staubigen Bürgersteig indem ich stückchenweise auf der Straße laufe und gleichzeitig aufpasse, nicht von Taxi-B, Autos oder Rollern überfahren zu werden.
Ich passe auf, nicht in das gut einen halben Meter tiefe Loch zu fallen, das sich jeden Tag aufs Neue an derselben Stelle auftut. Meine Füße finden nach fünf Wochen Eingewöhnung ihren Weg fast alleine über die unregelmäßigen Gehwege, mein Kopf darf mittlerweile größtenteils aufschauen und die Umgebung wahrnehmen. Ziemlich schnell bin ich ein bisschen außer Atem, mein Körper kommt wohl immer noch nicht auf die gut 1.400 Höhenmeter klar. “Manahoana!” ruft da ein Automechaniker, der mich bestimmt jeden Tag zweimal – auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Nachhauseweg – sieht. Ich nehme ihn zum ersten Mal wahr, grüße freundlich lächelnd zurück und setze meinen Weg fort. Mir kommen viele Menschen entgegen. Ein junges, händchenhaltendes Pärchen. Eine Oma, die einen Korb mit Orangen auf ihrem Kopf balanciert. Eine mit knielangem Rock schick gekleidete Frau, die schnelle, melodische Worte in ihr Smartphone spricht. Ein Vater, der seine kleine Tochter im Arm trägt. Zwei blödelnde Jungs. Ein mittelalter Mann, der mich nach meiner Handynummer fragt.
Als ich an der Taxi-B Station vorbeilaufe, hält gerade eines an. Der Fahrkartenkontrolleur springt heraus und kündigt in einem knödeligen Singsang die nächsten Haltestellen an. Ich schlängele mich durch die Menschentraube und setze meinen Weg bergauf fort. Jemand hupt, ich drehe mich um, ein Taxifahrer, der mir seine Dienste anbietet. Ich schüttele freundlich lächelnd den Kopf, sage “Misaotra” und gehe weiter. Jetzt muss ich schnell die Straße überqueren, hier, wo sie noch zweispurig ist. Weiter oben, vor dem abgasverseuchten Tunnel, den ich sehr oft und immer ungern in Richtung Innenstadt durchquere, ist die Straße vierspurig. Ohne aufgemalte Spuren, ohne Ampel, ohne Straßenschilder, mit Verkehrspolizist. Die zu überqueren ist etwas für Fortgeschrittene. Dazu zähle ich mich noch nicht. Also jetzt schnell rüber, dabei gegen Ende einen schnellen Laufschritt einnehmen, um gerade noch einem beschleunigenden Jeep zu entwischen. Dasselbe noch einmal, und schon stehe ich vor’m “Score”, einem, meinem, Supermarkt. Dort drinnen fühle ich mich fast wie in Frankreich, wegen der vielen Importprodukte. Aber auch, weil die Preise feststehen und denen der Heimat ähneln, alles ordentlich im Regal steht. Nach ein paar Wochen habe ich meine Standard-Produkte gefunden, bei denen ich nicht mehr jedes Mal überlegen muss, ob ich sie nun kaufe, oder nicht. Nudeln, Joghurt, Chips, Bier, Käse, Reis, alles aus Madagaskar, landen in meinem Einkaufskorb. Das regelmäßige Einkaufen in Supermärkten ist Luxus und bleibt nur einem kleinen Bruchteil der Madagassen vorbehalten. “Veloma!” verabschiede ich mich von der Kassiererin, die ich mittlerweile schon kenne.
Ich trete aus dem Supermarkt in die frühabendliche Stimmung, wende mich nach rechts und gehe die sanft bergaufsteigende Straße entlang in Richtung meiner Wohnung. Obst und Gemüse kaufe ich an einem der vielen Stände am Straßenrand, mehr oder weniger robust aus Holz gezimmert. So sicher ich mich im Supermarkt bewege, so unsicher fühle ich mich hier. Verhandeln soll man die Preise, es fällt mir schwer: Weil ich mit der Währung, dem Ariary, überfordert bin, der Kurs liegt meist bei 1 € zu 3200 Ariary. Die Bevölkerung rechnet jedoch trotz der Währungsreform vor knapp 15 Jahren oft, aber nicht immer, in der alten Währung, den Francs Malagasy. Das sind die Ariary-Preise mal fünf. Aus 15.000 FM werden so 3000 Ariary, was etwas über 90 ct entspricht. Das sorgt bei mir für Kopfzerbrechen, Straßenmathematik war noch nie meine Stärke. Auch habe ich keinerlei Preisvorstellung: Wieviel Ariary sind für ein Kilo Bananen normal? Und ich tue mich schwer mit dem Verhandeln, weil man, in Euro umgerechnet, oft um 6 Cent feilscht. Für mich eine mikroskopische Summe, jedoch nicht in einem Land, in dem der Mindestlohn bei umgerechnet ca. 40 € liegt. Ich lasse das Verhandeln bleiben, heute jedenfalls, verabschiede mich “Amin’ny manaraka” – “Bis bald!” freundlich von der Gemüsehändlerin. Für umgerechnet 1 € habe ich 1 kg Kartoffeln, eine Gurke, drei Tomaten, ½ kg Zwiebeln, drei kleine Zucchini und ½ kg Bananen in bester Bioqualität, da ungespritzt, bekommen. Das sind überteuerte Preise für “vazaha”, Ausländer.
Zwei Männer schieben ein liegen gebliebenes Taxi die Straße hoch, in der Hoffnung, dass der Motor wieder anspringt. Auf der rechten Straßenseite arbeitet ganz vertieft, in seinem ca. 4 m² großen Laden, “mein” Schuhmacher, in zwei Tagen werde ich die neuen Sandalen abholen können. Ich gehe weiter. Ich sehe einen jungen Hahn, der neben dem Gehweg im Sand scharrt. Ich passiere den Kiosk, der von einem immer nachdenklich schauenden riesigen Hund bewacht wird. In der Biegung hinter der Pizzeria, bei der ich abends manchmal noch etwas esse, zweigt ein schmaler Weg mit Treppen ab, der führt zu unserem Haus. Vor allem nachts bei Dunkelheit muss man hier aufpassen nicht in den kleinen offenen Kanalisationsgraben zu fallen, der – meist stark vermüllt – das Abwasser der anliegenden Häuser aufnimmt. Die Dame, die immer neben dem riesigen Straßenmüllcontainer sitzt, grüßt mich freundlich – was sie den ganze Tag über macht bleibt ihr Geheimnis, jedoch habe ich die Vermutung, dass sie den Müll nach brauchbaren Überresten durchsucht. Mein Stadtteil gehört schließlich zu den privilegierteren, und was Abfall ist, liegt schließlich im Auge des Betrachters. Ich schleppe meine Einkaufstaschen die unregelmäßig gepflasterten Treppenstufen hoch und stehe vor meiner Haustür. Das Haus ist mit einer hohen Mauer und einem Stacheldraht ziemlich gut gesichert. Ich sperre die Pforte auf und bin endlich in meinem Garten angelangt, der – nach dem ganzen Rummel draußen auf der Straße – ein sehr erholsamer Platz ist.
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