Australien, Neuseeland, die USA. Was ich über die letzten Jahre in Puncto Auslandsaufenthalt so mitbekommen habe, sind diese Länder die großen Drei, von denen man mindestens eines als zeitweiligen Wohnsitz im Lebenslauf notieren möchte. Dort gelebt zu haben, bringt anscheinend ein gewisses Prestige mit sich.
Vor allem im Hinblick auf die jeweiligen Landschaften kann ich den Reiz dieser Länder durchaus nachvollziehen, dennoch stehe ich deren Vormachtstellung kritisch gegenüber, da zahlreiche europäische Staaten in den Schatten der Top Drei gestellt werden, obwohl diese mit ihrem ganz eigenen Charme begeistern und ein hohes Maß an Lebensqualität bieten.
Nehmen wir mal Ungarn, mit Budapest als Paradebeispiel. Bis auf eine nach New York geschickte Bewerbung hatte ich meine Praktikumssuche auf Europa zentriert, zum Großteil aus finanziellen Gründen. Ein Flug drei, vier Nachbarstaaten weiter ist nun einmal deutlich günstiger als einer bis zum Kap der Guten Hoffnung. Als dann endlich der Moment der Entscheidung gekommen war, fiel meine Wahl tatsächlich erstaunlich leicht auf die Zusage in Budapest. 2015 hatte ich die Donaumetropole bereits mit einer Freundin unter die Lupe genommen und mich vermutlich stärker in diese Stadt verliebt als geahnt. Selbstverständlich war die Natur meiner Praktikumsstelle das Hauptkriterium schlechthin, aber zu wissen, dass es mich wieder nach Budapest verschlägt, ließ mich doch vor Freude ziemlich schief grinsen.
Nachdem ich drei Monate am Stück in Budapest verbracht habe und von der Touristenperspektive zu der einer Ortsansässigen aufgestiegen bin, kann ich nun mit Sicherheit sagen, dass diese Stadt für mich perfekt ist. Nicht perfekt im Wörterbuchsinne, nichts und niemand kann das jemals sein. Aber die perfekte Mischung aus alt und jung, Ruhe und Hektik, Kultur und Party, Natur und Asphalt. Bereits der Name der Hauptstadt Ungarns deutet auf diese Geteiltheit hin, besteht er aus den Namen der Städte Buda und Pest, die 1873 zusammengeschlossen worden sind (ja, da war auch noch Óbuda dabei, aber anscheinend war der neue Name bereits lang genug). Heutzutage bezeichnet man den Teil der Stadt westlich der Donau immer noch als Buda, den östlich gelegenen als Pest. Ich hatte das Glück in einer Wohnung im 7. Bezirk, dem Erzsébetváros, zu residieren, da dieser auf der Pestseite und direkt im Herzen der Stadt liegt. Die Lage war aber auch das einzig Positive, was man dieser Wohnung lassen konnte. Doch dazu mehr in meinem nächsten Beitrag.
In Pest pulsiert das Leben. Vor allem im Downtownbereich zieren unzählige Cafés, Restaurants, Bars und Clubs die Straßen, die in den hochaufragenden, das Stadtbild dominierenden Altbauten untergebracht sind. Wo ich gewohnt habe, war es schwer, auch nur einen ruhigen Moment für sich zu haben – sobald man das Haus verlassen hatte, wurde man von der geschäftig umherziehenden Masse, bestehend aus Touristen und Einheimischen, absorbiert und Teil der Gemeinschaft. Manchmal war die schiere Menge an Menschen kurz davor mich in den Wahnsinn zu treiben, zum Beispiel in den Supermärkten mit winzig-schmalen Gängen, in denen man sich kaum umdrehen konnte, oder in der Tram, wenn mir drei Fremde gleichzeitig aufgrund von Platzmangel aus kürzester Entfernung ins Gesicht geatmet haben. In den meisten Momenten habe ich die Geschäftigkeit jedoch genossen und mich in ihr treiben lassen. Endlich konnte ich nachts im Stockdunklen alleine nach Hause laufen, ohne mir größere Sorgen machen zu müssen, da auf eine dubiose Gestalt jederzeit mindestens sieben weniger zu Fürchtende kamen.
Generell ist das nächtliche Downtownbudapest das natürliche Habitat junger Leute, die sich vor allem in der Umgebung rund um die Kazinczy utca tummeln, wo man nicht nur die berühmtberüchtigte erste Ruinenbar Szimpla Kert findet, sondern auch zahlreiche hippe Essgelegenheiten, wie zum Beispiel den dauerhaft eingerichteten Street Food Court Karaván. Budapests Gastroszene boomt. Ein Traum für jeden Foodie wie mich. Trotz all der Party ab Sonnenuntergang bietet Pest tagsüber auch viel kulturell Wertvolles. Das Parlamentsgebäude an der Donau, den Heldenplatz am weitläufigen Stadtpark, Museen verschiedenster Art vom Schokoladenmuseum bis hin zur Kunsthalle, die große Markthalle und die St.-Stephans-Basilika sind nur ein Bruchteil der Sehenswürdigkeiten, die man sich hier nicht entgehen lassen sollte.
Wer es gerne ruhiger und weniger wild hätte, sollte eine der unzähligen Brücken überqueren und sich die Budaseite vornehmen. Obwohl es hier, vor allem nachts, wahrnehmbar gesitteter zugeht als in Pest, strömen die Besucher zu Tausenden dorthin, wenn auch primär, um sich die Touristenhotspots schlechthin anzusehen. So gelangt man nach einem vergleichsweise kurzen aber dennoch intensiven Aufstieg zum Gipfel des Gellérthügels, der mit der Zitadelle und dem imposanten Freiheitsdenkmal gekrönt ist. Der atemberaubende Ausblick auf das Budapester Panorama entschädigt die Krämpfe in den Beinen so sehr, dass man die Schmerzen schnell vergisst und diesen Berg bald darauf erneut bezwingt. Ebenfalls auf einem Hügel gelegen, der jedoch mit Bus oder Standseilbahn erreichbar ist, ist das Budaer Burgviertel inklusive Burgpalast, Matthiaskirche und der malerischen Fischerbastei, die durchaus der Schöpfungskraft Walt Disneys hätte entsprungen sein können.
Neben der Kettenbrücke und der Margareteninsel zählt dieses Bauwerk zu meinen favorisierten drei Orten in Budapest. Womit wir zur Margareteninsel kommen. Dieses idyllische Fleckchen Erde war meine persönliche Oase der Entspannung, die ich aufgesucht habe, wenn ich abschalten wollte, wozu die weitläufigen Parkanlagen dort auch definitiv einladen. Neben Spaziergängen bis hin zum japanischen Garten oder Minizoo, habe ich oft auch einfach nur mit einem Buch am Donauufer der Insel gesessen, einen Túró Rudi inhaliert und mich meines Lebens gefreut. War schön. Túró Rudi ist übrigens ein original ungarischer Schokoriegel, der immer mit Quarkcreme, manchmal zusätzlich noch mit einem Schoko- oder Marmeladenkern gefüllt ist. Ich war süchtig. Einen adäquaten Ersatz gibt es in Deutschland leider nicht, weshalb ich sehnsüchtig darauf warte, dass Pöttyös anfängt, hierhin zu exportieren.
Auch wenn ich den Großteil meiner Zeit in Budapest selbst verbracht habe, habe ich doch jede Gelegenheit genutzt, um andere Teile des Landes kennenzulernen, die sich zum Teil wesentlich von dieser hektischen aber dennoch liebenswerten Metropole unterscheiden. Neben Trips nach Győr (sechstgrößte Stadt Ungarns, bemerkenswerte Architektur) und Bratislava (einmal über die Grenze hinaus und dank einem unzuverlässigen Fernbusunternehmen beinahe dort hängen geblieben), machte ich mit meinen Freunden Ausflüge in die Natur, unter anderem in den Hortobágy Nationalpark.
Nach knapp zwei Stunden Autofahrt waren wir mitten in der Puszta, eine unvergleichliche Landschaft, die ich nie zuvor so gesehen hatte. Voller Enthusiasmus mehr über die heimische Fauna und Flora zu erfahren, begaben wir uns auf eine Safaritour, die uns immer tiefer in die ungarische Steppe bis hin zu Przewalskipferd- und Heckrinderherden führte. So wurden wir dann auch Zeugen einer Stampede aufgebrachter Bullen. Nachdem unser Jeep zweimal beinahe gerammt worden war, war mein Adrenalinbedarf für die folgenden drei Wochen gedeckt. Wesentlich risikofreier war ein Trip zum Balaton, auf dem wir mehrere romantische Dörfchen abgeklappert haben und neben einer spektakulären Aussicht auf den Plattensee sowie zwei kleinere Kraterseen auch in den Genuss lokaler Köstlichkeiten wie Lavendeleis und Pizza mit Tiefkühl-Suppengrün gekommen sind.
Auf gleiche Weise entspannend war ein Bahnausflug nach Szentendre, ein kleines Künstlerdörfchen nördlich von Budapest. Hier möchte ich einmal betonen, wie unfassbar preiswert der öffentliche Nah- und Fernverkehr in Ungarn im Vergleich zu Deutschland ist. Mein Studententicket, mit dem ich drei Monate lang Busse, Bahnen und ein paar bestimmte Bootslinien in Budapest benutzen durfte, hat keine 35€ gekostet, Zugtickets nach Győr und zurück knappe 10€. Zurück zu Szentendre. Auch wenn relativ viele Touristen dieses Örtchen aufsuchen, ist es hier deutlich ruhiger als in Budapest. Kleine, malerische Häuschen säumen die Straßen und beherbergen liebevoll gestaltete Läden, die lokales Kunsthandwerk verkaufen, sowie urige Restaurants mit deftiger ungarischer Hausmannskost. Den historischen Ortskern hat man schnell durchschritten, doch Szentendre lädt definitiv zum weiteren Verweilen und einem ausgiebigen Spaziergang am Donauufer ein.
Für einen geringen Betrag kann man auch per Fähre zurück nach Budapest reisen, sodass man noch einmal den größten Fluss des Landes aus einer ganz anderen Perspektive betrachten kann. Meinen Tagestrip nach Szentendre habe ich mir Mitte Oktober gegönnt, also kurz bevor ich wieder ins gute alte Deutschland zurückgekehrt bin. Als ich an Deck der Fähre saß und nach knapp einer Stunde Bootsfahrt gut durchgefroren die ersten Züge der Margareteninsel erkennen konnte und kurz darauf auch das Parlamentsgebäude in mein Blickfeld geriet, habe ich zum ersten Mal wirklich realisiert, dass diese Stadt mein Zuhause geworden ist. Mein zweites Zuhause. Und ich kann es kaum abwarten, nächstes Jahr diesem Zuhause einen weiteren Besuch abzustatten.
Annie
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