Vom warmen Montpellier in Südfrankreich über einen Zwischenstopp in meinem Heimatort in Deutschland über Weihnachten und Silvester ins kühle Norwich in Ostengland – eine ganz schön große Umstellung innerhalb weniger Wochen! Immerhin hat mich Deutschland mit seinem recht bescheidenen Wetter wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, sodass ich in Norwich sogar positiv überrascht war, dass gefühlt jeden zweiten Tag die Sonne für mindestens ein paar Stunden scheint, wenn nicht sogar den ganzen Tag lang.
Außerdem hat es bisher auch nicht wirklich mehr geregnet als normalerweise in Münster. So viel zu meiner Befürchtung, in Norwich kaum Sonne zu sehen 🙂 … verrückt nur, dass gestern den ganzen Tag die Sonne schien und blauer Himmel zu sehen war, es aber gleichzeitig schneite!
Die Stadt Norwich – typisch Englisch?
Vor einem Monat bin ich für mein dreimonatiges Praktikum im French Department der Norwich School, welches ich über das Angebot des ZfL der Universität Münster organisieren konnte, hier in Norwich angereist – und bereits jetzt hat mich diese Stadt und das Leben hier in den Bann gezogen.
Norwich liegt ca. 160km nord-östlich von London in der Region Norfolk in East Anglia und ist etwas kleiner als Münster. Laut den Einwohnern der Stadt und der ein oder anderen Broschüre aus der Touristeninformation gibt es 365 Pubs – einen für jeden Tag des Jahres – und 52 Kirchen – eine Kirche für jeden Sonntag im Jahr. Das könnte tatsächlich stimmen, denn genauso wie man in Münster sagt, dass entweder die Glocken läuten oder es regnet, könnte man hier in Norwich sagen, dass man – egal wo in der Innenstadt – entweder eine Kirche oder einen Pub in direkter Nähe hat.
Und da geht es mit den Vergleichen auch schon weiter: Montpellier konnte man seinen (süd-)französischen Charakter nicht abstreiten – und genauso hat auch Norwich für mich den Charakter einer typisch englischen Stadt. Als Erstes ist mir hier aufgefallen, dass es viele Möwen gibt, deren Schrei für mich aufgrund von Kindheitserinnerungen bedeutet, dass ich in England bin. Überall gibt es Backsteinhäuser mit großen Kaminen, Tearooms (bspw. Harriets Cafe Tearooms & Biddy’s Tearoom), Pubs, Cafés und Bars sowie neben ein paar kleinen, lokalen Geschäften (bspw. Lisa Angel) auch die großen englischen Ketten Waterstone’s, WHSmith, Boots, Superdrug, Morrissons, u.v.m. Außerdem ist es sehr angenehm, dass das Stadtzentrum von einem Fluss, dem River Wensum, umflossen wird und man an seinem Ufer auch im Grünen spazieren gehen kann. Da man vom Norwich Castle im absoluten Stadtzentrum einen tollen Blick über die Stadt hat, lohnt es sich, vor allem bei Sonnenuntergang (der ja derzeit schon gegen 16.40 Uhr ist) dorthin zu gehen und am Ende eines Sightseeing-Tages zu versuchen, alles, was man gesehen hat, wiederzufinden – und man wundert sich, wie viel man schon nach einem Tag erkennt! Außer dem Castle ist eine wahre Attraktion auch Norwich Cathedral, die protestantische Kathedrale der Stadt, an die meine Praktikumsschule angegliedert ist. Eine wahrhaftig imposante Kulisse, die ich tagtäglich vor der Haustüre und vor meiner Nase bei jedem Gebäudewechsel oder Mittagessen habe!
Backsteinhäuser, Kamine & der River Wensum
Ansonsten lohnt es sich einfach, durch die Gassen zu spazieren und Gegenden wie Elm Hill, The Close rund um Norwich Cathedral, Pulls Ferry, Cow Tower, ein Antiquitätengeschäft in einer Kirche auf Pottergate mit teils bizarren Ausstellungsgegenständen, das Kaufhaus Jarrolds, die Royal Arcade, Norwich Market, die Roman Catholic Cathedral, diverse weitere Kirchen sowie die weitläufigen Fußgängerzonen in der zu großen Teilen verkehrsberuhigten Innenstadt zu erkunden. Zum Charakter der Stadt gehört natürlich auch das British English, welches einen umgibt – selbst wenn manchmal auch der ein oder andere schwieriger verständliche Akzent darunter gemischt ist. Alles in allem ist Norwich für mich tatsächlich bereits mein persönliches Montpellier Ostenglands geworden: eine tolle Stadt mit viel Charme und Charakter, in der man auch nach einem Monat noch neue Ecken entdeckt. Ich bin schon gespannt auf dieses Wochenende, wenn ich Norfolk, die Region um Norwich herum, kennenlernen kann!
Englische Kultur – Vorurteile & Wahrheiten
Bereits vor meinem Auslandsaufenthalt in Norwich war ich sehr vertraut mit der englischen Kultur, da ich zur Hälfte Engländerin bin. Und obwohl ich noch nie für längere Zeit in England gelebt habe, kenne ich natürlich besonders die englische Küche aus Urlauben und Familienbesuchen. Leider wird die englische Küche aus deutscher Sicht häufig nur mit dem englischen Frühstück und nicht selten mit negativen Assoziationen verbunden – ganz nach dem Motto „Wie kann man das nur essen?“. Im Gegensatz dazu habe ich mich ganz besonders auf alles Altbekannte und typisch Englische gefreut, was es in Deutschland nicht zu kaufen gibt oder was es zwar gibt, aber für mich einfach nicht nach Deutschland passt. Dazu gehören z.B. Scones with Clotted Cream and Strawberry Jam, Crumpets – die bei den Deutschen, denen ich sie empfohlen habe, sehr positiv angekommen sind! –, Apple Pie and Mince Pie, Baked Beans on toast oder Beef Pie with mash and vegetables. Yummy! Natürlich sind Geschmäcker verschieden (Fish & Chips ist bspw. nichts für mich), aber manchmal muss man auch einfach wissen, welches Essen in einer anderen Kultur schmeckt und sich auch trauen, Neues zu probieren. Wie mein bisheriger deutscher Besuch gezeigt hat, ist es möglich, mit positiven kulinarischen Erfahrungen wieder abzureisen! 🙂 Allerdings sollte man gerade als Nicht-Engländer beispielsweise Marmite (einen „Brotaufstrich“) tunlichst vermeiden, wenn man nicht komplett vom englischen Essen abgeschreckt werden möchte: selbst viele Engländer mögen es nicht! Jede Kultur hat nunmal ihre speziellen Eigenheiten. Tearooms und Pubs sind aber immer einen Besuch wert!
Harriets Cafe Tearooms & Adam and Eve Pub
Ein zweiter Eindruck, den ich nicht auslassen möchte, ist das Feier-Verhalten, genauer gesagt die Kleidungswahl beim Feiern. Beim Buchen von Urlaub denkt man ja häufig an das Bild der stereotypischen „lauten Engländer“, die sich trotz tiefrotem Sonnenbrand wieder in die Sonne legen, auch bei kalten Temperaturen in Shorts und T-Shirt herumlaufen und wo die Frauen relativ knappe Kleidung tragen. Vorurteil oder Wahrheit? Nunja, in der Schule merkt man davon nichts, denn alle Schülerinnen und Schüler tragen eine Schuluniform und müssen sich an einer independent school (Äquivalent zur Privatschule) natürlich auch entsprechend verhalten. Selbst tagsüber fällt in der Stadt höchstens auf, dass manche Engländer und Engländerinnen ohne Jacke oder in Shorts unterwegs sind, während man selbst mit Winterjacke, Schal und dicken Winterschuhen durch die Stadt läuft.
An einem Freitag oder Samstag Abend sieht das Bild allerdings anders aus. Während die Engländer eher „normal“ gekleidet zu sein scheinen, legen sich viele Engländerinnen bei ihrer Kleiderwahl „mächtig ins Zeug“. Nicht selten sieht man Kleider, Röcke oder Oberteile, die so gerade das Wichtigste bedecken – und dann sind die Engländerinnen auch noch ohne Jacke oder Strumpfhose und mit offenen Schuhen bei um die 0 Grad unterwegs! Natürlich kann man auch nicht alle Engländerinnen über einen Kamm scheren, denn einige gehen auch wie „die Durchschnittsdeutsche“ aus. Außerdem gibt es eine solche Kleidungswahl sicherlich auch teilweise in Deutschland (besonders an Karneval?! 😀 ) – allerdings bestimmt nicht so massenhaft. Den absoluten Vogel hat vergangenes Wochenende eine junge Frau abgeschossen, die auf eine Hose einen Body trug, der wie ein Badeanzug geschnitten war, sodass der gesamte Rücken frei war und es von hinten tatsächlich so aussah, als würde sie kein Oberteil tragen! Auch sie war ohne Jacke und mit offenen Schuhen bei um die 0 Grad unterwegs. Ein wahres Kontrastprogramm zu Montpellier, wo besonders die Französinnen bei Temperaturen um die 15 Grad bereits ihre Wintermäntel und Winterschuhe trugen. Aber wie heißt es nicht so schön: Andere Länder – andere Sitten!
Wohnung & soziale Kontakte
Um das Nachtleben in Norwich kennenzulernen, ist die Lage meiner Wohnung super – keine zwei Minuten Fußweg trennen mich von der Prince of Wales Road, wo man die meisten Clubs findet. Bisher habe ich mich aber tatsächlich (u.a. wegen meiner Garderobe 😀 ) lieber an die Pubs und Bars gehalten. Wie man also heraushören kann, liegt meine Wohnung zentral in der Innenstadt, keine fünf Minuten zu Fuß vom Bahnhof und von der Schule an der Norwich Cathedral und damit auch einen Katzensprung von Einkaufsstraßen und Sehenwürdigkeiten entfernt. Die Norwich Cathedral kann ich sogar aus meinem Zimmer sehen – das war natürlich das Highlight, als ich am ersten Morgen aufgewacht bin, die Vorhänge aufgemacht habe, die Sonne schien und ich sah, wo ich gelandet bin.
morgendlicher Blick aus meinem Fenster
Mit meiner Vermieterin, einer Dame in den 60ern, mit der ich zusammen wohne, verstehe ich mich sehr gut und die Wohnung hat auch alles, was man für den kurzen Zeitraum braucht. Ein bisschen gewöhnungsbedürftig ist zwar der Teppichboden, der in der gesamten Wohnung außer in der Küche – also auch im Badezimmer und in der Toilette! – ausgelegt ist. Aber eins ist es auf jeden Fall: typisch Britisch – und ansonsten gibt es ja immer noch Henry the Hoover (Staubsauger) 😉 . Bei der Wohnungssuche hatte ich tatsächlich einfach Glück, denn ich habe meine Wohnung über mehrere Ecken gefunden (eine Sprachassistentin, eine ehemalige Praktikantin aus Münster, meinen deutschen Mitpraktikanten, den Schulchor, etc.). Im Lehrerzimmer konnte ich über meine Betreuungslehrerin aber auch einen Aushang mit meinem Wohnungsgesuch machen und hatte dort auch eine Antwort erhalten (aber abgelehnt, weil es weiter außerhalb war). Für Norwich gestaltete sich die Wohnungssuche also ein bisschen einfacher als für Montpellier, was aber auch Zufall sein kann.
Bezüglich der sozialen Kontakte war es hier in Norwich einfacher, Leute kennenzulernen, als in Montpellier. Das liegt aber vor allem an der Tatsache, dass die Lehrkräfte in der Schule alle recht jung sind und auch viel zusammen unternommen wird. Dadurch, dass im Englischen sowieso kein Unterschied zwischen „Du“ und „Sie“ besteht und alle Kollegen sich mit Vornamen ansprechen, ist auch direkt die Atmosphäre für einen freundschaftlichen Umgang geschaffen. Besonders toll fand ich es, dass mich meine Betreuungslehrerin vom Bahnhof abholte (obwohl ich ja wirklich nicht weit entfernt untergekommen bin), mich zu meiner Wohnung brachte und mir ganz kurz gezeigt hat, wie ich montagsmorgens am Besten zur Schule komme und wo wir uns treffen. Zudem wohnen die anderen Sprachassistenten der Schule (eine Schweizerin, eine Französin und eine Chilenin) im gleichen Haus wie ich und meinen deutschen Mitpraktikanten konnte ich schon während der Anreise nach Norwich kennenlernen, weil wir organisiert hatten, gemeinsam zu fliegen. Generell standen bisher verschiedene Aktivitäten auf dem Plan wie bspw. den Schultag oder Samstagabend im Pub ausklingen zu lassen, privat organisierte Abende, der Besuch abendlicher Schulveranstaltungen oder auch einfach ein gemütliches Schlendern durch die Stadt. Zwar hatte ich mir für Norwich im Voraus weniger Gedanken über soziale Kontakte gemacht, weil ich den Plan hatte und habe, meine Familie in Süd- und Nordengland zu besuchen, und es im Notfall auch ohne großartige Kontakte „über die Bühne gebracht hätte“. Allerdings bin ich jetzt natürlich sehr erleichtert und glücklich, dass ich hier direkt und automatisch durch die Schule tolle Menschen kennengelernt habe. Dadurch erhält man natürlich eine ganz andere Lebensqualität und die Zeit vergeht wie im Flug!
Praktische Tipps
A propos Flug: hier kommen noch ein paar kleine praktische Tipps für zukünftige Norwich-Studenten oder -Praktikanten. Aus Deutschland fliegt man am besten nach London (wir sind nach Stansted geflogen) und fährt dann mit dem Zug weiter nach Norwich. Mit einem Umstieg dauert die Zugfahrt ca. zwei Stunden. Die Zugverbindung ist sehr gut und als unter 25-Jähriger kann man sich die Young Persons Railcard holen, die 30 Pfund kostet, aber durch die man bei allen Zugfahrten Vergünstigungen erhält. Man kann sie direkt am Schalter im Bahnhof in Stansted erwerben und dann auch gleich für die erste Fahrt nutzen. Durch meine Hin- und Rückfahrt zum Flughafen, eine Fahrt in den Süden und eine in den Norden Englands wird sie sich sicherlich auszahlen.
Ein weiterer Tipp betrifft Wechselkurse, Umtauschen von Euro in Pfund und Geldabhebungen. Generell sollte man sich vorher in Ruhe informieren, was am besten funktioniert. Dabei sollte man dabei beachten, dass Banken teilweise recht lange brauchen können, um neue Karten auszustellen, was bei mir ein bisschen holprig gelaufen ist. Viele Geldautomaten hier sind „Free Cash Automaten“, was bedeutet, dass man ohne Gebühren der hiesigen Bank Geld abheben kann. Allerdings gibt die deutsche Bank häufig schlechte Wechselkurse. Soweit ich es gehört habe, kann man hier auch nicht so einfach ein Bankkonto eröffnen und aus meiner Erfahrung möchten die Vermieter die Miete am Liebsten in Bar erhalten. Ach, und generell würde ich auch allen England-Reisenden empfehlen, alles an altem Pfund mitzunehmen, was man ggf. noch zu Hause hat: denn die alten 5 Pfund Scheine wurden bereits aus dem Verkehr gezogen und die 10 Pfund Scheine wird es auch bald treffen – man kann also nicht mehr mit ihnen normal bezahlen, sondern muss sie in einer Bank umtauschen lassen.
Montpellier vs. Norwich?
Bereits jetzt steht für mich fest, dass ich die Erfahrung, in England zu leben, absolut nicht missen möchte. Mein Leben in Norwich ist obviously wirklich sehr anders als mein Leben in Montpellier, aber dadurch nicht weniger schön. Ich finde es toll, dass beides so unterschiedlich ist, sodass ich es eigentlich gar nicht miteinander vergleichen kann. Gerade habe ich aber das Gefühl, dass es mir hier in Norwich sogar noch ein bisschen besser gefällt – aber da spielt bestimmt das „Heimatgefühl“, was ich grundsätzlich in England habe, eine große Rolle. Ich bin gespannt, was ich am Ende meines Aufenthaltes rückblickend sage.
Für den Moment sage ich aber erst einmal „See you later!“
(Anmerkung: Dass dieser Ausdruck so verwirrend sein kann, war mir vorher nie bewusst. See you later kann hier tatsächlich alles bedeuten und muss nicht einmal implizieren, dass man sich auch wirklich später sieht. Man lernt nie aus 😉 )
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