STADT – LAND – MORA MORA
Wenn ich heute an Madagaskar denke, so denke ich nicht länger an Lemuren, Baobabs und vielleicht den witzigen Film Madagaskar.
Ich kann es selber fast gar nicht glauben, aber es ist nun schon fast zwei Monate her, dass ich Ende Juli von Amsterdam aus nach Antananarivo geflogen bin. In dieser Zeit hat sich mein Bild von dem, was ich erwartet habe, stetig erweitert und verändert.
Wie ihr vielleicht auf der interaktiven Karte gesehen habt, war auf Madagaskar bislang kein Punkt – jetzt vertreten wir die WWU hier in Übersee sogar in Doppelbesetzung. Marjam und ich arbeiten beide in Antananarivo, kurz Tana genannt, was mir wesentlich leichter fällt auszusprechen, geschweige denn zu schreiben. Mit Blick auf die Landkarte Madagaskars habe ich übrigens den Eindruck, dass 90% aller Städtenamen mit einem „A“ beginnen sowie alle Haltestellen in Tana.
Womit wir auch schon mitten im Geschehen wären. Tana in seiner Funktion als Hauptstadt gilt unter den Madagassen als stressig. Vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Prinzips „mora mora“ – auf das Marjam in ihrem Artikel bereits hingewiesen hat und was ich nur bestätigen kann – kann man sich nun vorstellen, wie es in der ländlichen Region ist 😉
Zurzeit bin ich auf Mission in Tuléar (Toliara) im Süden, rund 928km entfernt von Tana. Mit dem Taxi-brousse, dem Überlandtaxi, braucht man dafür knappe 22 Stunden. Im Vergleich zum Flugzeug, das circa 1h05 braucht, kostet das Taxi-brousse hingegen ganze 10 Euro. Auch hier lässt sich die „mora mora Kultur“ erkennen. Anstatt wie geplant um 12h abzufahren, starten wir um 16h, da sich einige Fahrgäste verspäten.
Im Vergleich zu Tana zirkulieren im Zentrum Tuléars deutlich weniger Taxi-b, da Tuléar weniger hügelig ist und somit das Fahrradfahren ermöglicht. Ein beliebtes Verkehrsmittel ist daher das „Cyclo-brousse“ oder auch „pousse-pousse“ genannt. Eigentlich ist das Fahrradtaxi auf zwei Personen ausgelegt. Das bedeutet aber nicht, dass man es auch nicht zu viert benutzen kann, wahlweise damit 3 große Säcke Reis transportieren kann. Alles eine Frage des Verhandlungsgeschicks 😉
SAKAFO
Apropos Reis – Stichwort Sakafo – Essen. Umso länger ich hier bin, umso mehr gewinne ich den Eindruck, eine Reispflanze müsste bald in mir wachsen. Morgens wird gesüßter Reis gegessen, in einer Art Suppe. Mittags gibt es trockenen Reis, mit Gemüse, Fleisch oder Fisch. Abends „variiert“ man und kocht den Reis erneut mit mehr Flüssigkeit, im Kontrast zu morgens eher salzig. Reis ist das Grundnahrungsmittel Nummer 1 für den Großteil der Bevölkerung. In verschiedenen Gesprächen, in denen ich gewagt habe, vorsichtig nachzufragen, ob man „reismüde“ sei, wurde der Reis stets vehement verteidigt, bei Jung sowie bei Alt. Vary (Reis) gehört zu jeder Mahlzeit dazu.
Landestypisch ist auch das Reiswasser. Dabei wird die Sud aus dem gekochten Reis mit neuem Wasser noch einmal aufgekocht und zum Essen serviert. Am Anfang etwas befremdlich und ungewohnt, frage ich mittlerweile sogar aktiv danach nach.
Beeindruckend finde ich immer noch, wie und was auf einem kleinen Feuer mit Holzkohle alles gekocht wird. Wohingegen ich teilweise in Deutschland mit vier Herdplatten verzweifle – entstehen hier mit relativ geringer Ausstattung auf einem Hügel Holzkohle köstliche Mahlzeiten, Gebäck etc.
Neben Reis und Reiswasser wird die Reispflanze selbstverständlich noch anderweitig genutzt, z.B. als Reismehl, woraus dann die angesprochenen süßen Köstlichkeiten entstehen.
LANDSCHAFTSBILDER – FLORA UND FAUNA
Tana ist umgeben von Reisfeldern. Hier in Tuléar gibt es ebenfalls Reisfelder, doch finden sich auch zahlreiche Süßkartoffel- wahlweise Zuckerrohrfelder. Umso mehr die RN7 – die teils betonierte Nationalroute einen in den Süden führt, umso grüner, sandiger und felsiger wird es. Wohingegen Tana weniger grün ist, wachsen hier in Tuléar cocotiers, bananiers und viele andere ertragreiche Pflanzen und Bäume ganz natürlich im Garten – wovon ich momentan jeden Morgen Gebrauch machen darf. Ich pflücke mir meine eigenen Guaven, bevor ich am Stand gegenüber meine gegrillte Süßkartoffel zum Frühstück aussuche. Paradiesisch!
Auch die Temperaturen sind hier im Süden – unterm Capricorne – wesentlich angenehmer. Da entscheidet man sich für Madagaskar als Praktikumsort und denkt an sommerlich warme Temperaturen, wird man am Abend von der Kälte überrascht, sobald die Sonne um 18h untergeht. Vor allem in Tana, was zum Hochland gehört, wird es abends so kalt, dass ich bislang mit Wolldecke und Wärmflasche geschlafen habe – und ich bin nicht die einzige. Unsere bisher ausgeklügelte Theorie dazu: Die Kälte am Abend nimmt man so stark war, da es tagsüber schöne 25 Grad warm ist. Zudem sind die Häuser nahezu gar nicht isoliert – man ist eher froh, wenn sich Fenster und Türen schließen lassen. In diesem Kontext gewinne ich oft den Eindruck, dass die Madagassen, was körperliche Resistenz angeht – uns um einiges voraus sind. Sei es im Barfußlaufen über heiße Teerstraßen, Kälteempfinden im Überlandtaxi, in dem ein dauerhafter Durchzug herrscht, weil alle ihr Fenster öffnen oder sei es die Magenresistenz – über die sich madagassischen Freunde von mir unter dem Stichwort „Vazah belly“ oder „ventre d’un vazah“ prächtig amüsieren.
GESELLSCHAFT & GEMEINSCHAFTLICHER UMGANG
Als „Vazah“ werden übrigens alle „als Ausländisch geltenden“ bezeichnet. Es bezeichnet nicht nur einen möglichen Unterschied in Bezug auf die Hautfarbe, sondern meint im ursprünglichen Sinne „va“ – neu und „zah“ gesehen. Da man sich noch nicht kennt und auch keinen Namen, wird man demnach mit „Salut Vazah“ gegrüßt. Dabei habe ich den Eindruck, dass man als „Vazah“ überdurchschnittlich viel gegrüßt wird, und gerade die Frauen und Kinder freuen sich sehr, wenn man zurückgrüßt, sei es auf Madagassisch mit einem kurzen „Manahoana“ oder „Salama“, oder sei es auf Französisch. Interessant ist dabei, dass die Männer, die oft mehr und eindringlicher grüßen, schüchtern und verlegen lachen, wenn man antwortet. Im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern – so unsere Theorie der Praktikanten – ist das vielleicht der asiatische Einfluss, da Madagaskar aus Afrika und Asien hervorgegangen ist.
Mit Blick auf verschiedene Situationen, sei es im Büro oder auf der Straße, würde ich bestätigen, dass das madagassische Volk eher zurückhaltend ist und beispielweise bei Problemen oder Konfrontationen jeder für sich schaut, wo er bleibt.
KURIOSITÄTEN & HERAUSFORDERUNGEN
Als Herausforderung gilt für mich nicht nur die tägliche Menge Reis, die pro Mahlzeit ca. 1/3 die Menge meiner Kollegen ist, zu essen.
Auch die Taxi-b, die in Tana umherfahren, sind eine wahre Herausforderung. Im Vergleich zu einem privaten Taxi, das meist ca. 10000 Ariary (3 Euro) kostet, nehmen die Taxi-b Fahrer für eine Strecke 400 Ariary. Die Herausforderung der Taxi-B besteht jedoch darin, die Nummern der Taxis schnell zu entziffern, sobald sie anrollen, anhand der Farbe zu erkennen, ob sie in die richtige Richtung fahren, und zum Sprint bereit zu sein, falls sie nicht anhalten – was häufig der Fall ist.
Hinzu kommt, Termine mit Taxi-B zu vereinbaren. Wohingegen sich Deutsche oft über die Unpünktlichkeit der DB oder von Bussen beschweren, stellt man sich hier an die Straße und wartet, bis das nächste Taxi-B angerollt kommt. Das kann zwei oder 15 oder 30 Minuten dauern. Sitzt man dann mehr oder weniger gedrängt in dem Bulli, ist jedoch noch nicht gesagt, wie lange man für die Strecke von eigentlich 15 Minuten braucht. Busfahrer sind hier äußerst gesprächig und halten mit den entgegenkommenden Bussen häufig ein kurzes Geplänkel oder ihnen fällt ein, dass sie noch was einkaufen müssen, weshalb der ganze Bus eine Zwangspause einlegt.
Kurios ist der Name eines typisch-madagassischen Standard-Crackers: „Caca Pigeon“ zu Deutsch „Taubenkacke“. Wurde ich anfangs knallrot beim Kauf, ist es inzwischen eine Selbstverständlichkeit auf dem Markt geworden, nach Taubenkacke in verschiedenen Geschmacksrichtungen wie Knoblauch oder mit Piment zu fragen. Ein witziges Video zum möglichen Ursprung dieser Bezeichnung findet ihr von Nirina auf Youtube.
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