Wie, du machst Theoretische Chemie? Wie soll das aussehen? Was macht man eigentlich so in einer theoretischen Arbeitsgruppe an der Uni? Das sind Fragen, die mich immer mal wieder von Freunden und Bekannten erreichen und die sich, glaube ich, auch einige Chemiestudenten stellen.
Zugegeben, mit der Laborarbeit aus dem Grundstudium oder praktisch arbeitenden Forschungsgruppen hat die Arbeit im Büro vorm Bildschirm nicht mehr ganz so viel gemein, aber der wissenschaftliche Arbeitsansatz bleibt der gleiche und zwischen dem Laborexperiment und der Computersimulation gibt es doch mehr Parallelen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Aber das ist Stoff aus dem Chemie-Bachelorstudium (4. Semester, wenn ich mich nicht irre) und soll hier nicht weiter behandelt werden. Vielmehr möchte ich versuchen, einen typischen Arbeitstag in einer Arbeitsgruppe am Instituto Superior Técnico da Universidade de Lisboa zu schildern, um euch so einen kleinen Einblick in die Forschungsarbeit eines theoretischen Chemikers zu geben.
Forschungsthema für meinen 100-tägigen Aufenthalt in Lissabon sind sogenannte Solvate Ionic Liquids auf LiTFSI-Glyme-Basis (LiTFSI = Lithium Bis(trifluoromethane)sulfonimide, Glymes = kleine Oligoehter). Wer Näheres zu dieser Stoffklasse erfahren möchte, kann mich gerne kontaktieren, aber ich denke die meisten Leser würde ich mit einer ausführlichen Beschreibung, worum es sich hierbei handelt, nur langweilen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle nur kurz das Ziel meiner Arbeit erläutern. Dieses ist die Gewinnung neuer Erkenntnisse über die Struktur dieser Mischungen auf atomistischer Ebene (also im Nanometerbereich), wobei es vor allem um Fragen der Lithium-Koordination geht. Diese ist nämlich mitunter entscheidend für die Beweglichkeit der Lithiumionen und somit für einen möglichen Einsatz dieser Verbindungen als Elektrolyt für Lithiumionen-Batterien. Neben der Verwendung als Elektrolyt sind aber auch noch viele andere Anwendungen dieser Stoffklasse denkbar, wie z.B. als Lösungsmittel in diversen Synthesesprozessen. Ein genaues Verständnis der Struktur ist daher wichtig, um die Eigenschaften der Verbindung gezielt verändern und auf das gewünschte Einsatzgebiet zuschneiden zu können.
Warum verwende ich dafür Computersimulationen (genauer: sogenannte Molekulardynamik-Simulationen) und keine klassischen Experimente? Mit ein wenig Spektroskopie lässt sich doch auch Strukturaufklärung betreiben? Das sind Fragen, die ab und an von experimentellen Chemikern und Simulationsskeptikern gestellt werden. Die Antwort ist, dass mit Computersimulationen (ob jetzt Molekulardynamik-, Monte-Carlo- oder ab initio Simulationen, wobei letztere noch einmal von den vorherigen beiden abzugrenzen sind) Einblicke in Längen- und Zeitskalen erhalten werden können, die im Experiment nicht oder nur mit sehr großem Aufwand zu bekommen sind. So ist es in Simulationen kein Problem, sich einzelne Moleküle oder Atome und deren Koordination anzuschauen oder Veränderungen des Systems im Pico- bis Nanosekundenbereich zu betrachten, während dies im Experiment nur schwer bis gar nicht möglich ist.
Aber jetzt genug mit theoretischer Einführung in Thema und Methoden und endlich zum Arbeitsalltag. Um 07:15 Uhr klingelt mein Wecker. Es ist jetzt Anfang Dezember und zu dieser Jahreszeit sinken auch in Lissabon die Temperaturen nachts auf 2-4 °C. Wie die meisten Häuser hier hat auch meine Wohnung keine Heizung und dementsprechend kalt ist es auch. Also zuallererst vom Bett unter die warme Dusche. Nach ausgiebigem Aufwärmen unter der Dusche und einem ausgedehnten Frühstück ist es 08:30 Uhr. Zur Uni brauche ich jetzt noch nicht loszufahren, denn vor 10:30 Uhr ist dort sowieso keiner im Büro und außerdem ist ein Vorankommen auf den Straßen zu dieser Tageszeit kaum möglich und die Busse sind vollkommen überfüllt. Warum bin ich dann schon so früh aufgestanden, mögen sich manche fragen? Tja, vielleicht bin ich für diejenigen ja ein Frühaufsteher, aber ich mag es zusammen mit der Sonne aufzustehen, dann hat man am meisten vom Tag.
Ich setze mich also erst mal an den Schreibtisch in meinem Zimmer, klappe den Laptop auf und checke per Remoteverbindung zu unserem Rechencluster, ob irgendwelche Simulationen über Nacht fertig geworden sind. Je nach Größe des modellierten Systems und gewünschter Zeitdauer kann eine Molekulardynamik-Simulation mehrere Tage bis Wochen oder sogar Monate dauern. Heute morgen ist eine Simulation zu einem LiTFSI-Triglyme-System fertig geworden. Jetzt geht es daran, die Simulation auszuwerten. Dazu stehen verschiedene Programme und selbst geschriebene Auswertungsskripte (meistens Python- und Bash-Skripte) zur Verfügung. Das Schreiben dieser Skripte geschieht in der Regel in den ersten Wochen nach Beginn des Projekts. In der jetzigen Phase der Projektarbeit müssen sie nur noch einmal kurz gestartet werden und verrichten dann ihre Arbeit. Diese Auswertungsprogramme extrahieren z.B. aus den Rohdaten der Simulation die Koordinationszahlen von Lithium, radiale Verteilungsfunktionen, den Strukturfaktor oder Diederverteilungen von Glyme und TFSI. Einige von diesen Auswertungen dauern nur ein paar Minuten, andere mehrere Stunden. Es ist jetzt 09:45 Uhr. Ich stecke meinen Laptop in den Rucksack und gehe zur Bushaltestelle um die Ecke.
Um 10:30 Uhr bin ich im Büro im 11. Stock des Südturms mit der herrlichen Aussicht über Lissabon (s. Titelbild vom ersten Post). Die meisten Auswertungsprogramme, die ich zu Hause gestartet habe, sind jetzt fertig und ich mache mich daran die Datentabellen in anschauliche Graphen zu überführen. Dann geht es an die Interpretation der Ergebnisse: Was kann man anhand der Graphen erkennen? Sind die Ergebnisse wie erwartet oder gibt es überraschende Abweichungen? Was könnte die Ursache für diese Abweichungen sein? Welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Vergleich mit anderen durchgeführten Simulationen und Literaturdaten ziehen?… Am besten macht man sich gleich ein paar Notizen, dann fällt einem das Schreiben des Forschungsberichts später einfacher.
13:00 Uhr: Zeit fürs gemeinsame Mittagessen. Unser Büro, d.h. mein betreuender Professor, eine Postdoktorandin und ich, geht meistens zusammen mit zwei benachbarten Büros in die Uni-eigene Cafeteria. Studenten aus meiner Altersgruppe sind leider nicht dabei und gesprochen wird in der Regel auf portugiesisch, sodass ich kaum etwas verstehe. Lese- und Hörverstehen sind eben doch zwei Paar Schuhe und während ersteres bei mir mehr oder weniger vorhanden ist, hapert es doch immer noch sehr bei letzterem.
Nach dem Mittagessen wird weiter ausgewertet und interpretiert. Da wieder freie Rechenressourcen zur Verfügung stehen, kann ich außerdem eine neue Simulation starten. Die Leerlaufphasen zwischen Beendigung der Auswertung einer Simulation und dem Fertigwerden der nächsten Simulation verbringe ich mit Literaturrecherche oder dem Anpassen und Optimieren von Auswertungsskripten. Auch den Forschungsbericht sollte ich so langsam mal in Angriff nehmen. Aber um 18:30 Uhr ist für mich der Arbeitstag beendet. Ich packe meinen Laptop ein und mache mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Der Feierabendverkehr hat sich mittlerweile etwas gelegt haben, aber von einer entspannten Verkehrssituation kann wohl noch nicht die Rede sein.
Lassen Sie einen Kommentar da