Fachmann für Krisen
Das Barett auf dem Kopf, die Uniform sitzt, diverse Orden und Ehrenzeichen an der Brust – es ist schnell erkennbar, dass Dr. Hans-Ulrich Holtherm schon lange bei der Bundeswehr arbeitet. Als Generalstabsarzt bekleidet der 60-Jährige den zweithöchsten Rang im Sanitätsdienst. Umso überraschender, dass er in seiner Jugend gern Zivildienst leisten wollte. „Es war schon immer mein großer Wunsch, Medizin zu studieren“, erzählt er. „Als Zivildienstleistender hätte ich mich beispielsweise im Krankenhaus schon darauf vorbereiten können.“
Der Sinneswandel kam in seinem letzten Schuljahr im Leistungskurs Geschichte. Beim Erforschen der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts stellte sich Hans-Ulrich Holtherm die Frage: „Was kann ich persönlich tun, um zu verhindern, dass sich solche Krisen wiederholen?“ Für ihn lag die Antwort im Eintritt in die Bundeswehr. 1983 kam er als Reserveoffiziersanwärter zum Transportbataillon 170 in Rheine und legte zwei Jahre später seine Offiziersprüfung ab. Ein Entschluss, den er bis heute als „einen der besten seines Lebens“ bezeichnet.
Für sein anschließendes Studium der Humanmedizin an der Universität Münster wurde er von der Bundeswehr beurlaubt und erhielt weiterhin seinen Sold. Eine komfortable Situation für den damals 21-Jährigen. Auch wenn er sein Studium in guter Erinnerung hat, war es sein Auslandsaufenthalt, der ihn in dieser Zeit besonders prägte. „Unser Dekan war ein großer Befürworter von Pflichtpraktika im Ausland und ermutigte uns, diesen Schritt zu wagen“, sagt er.
Sein Auslandssemester führte ihn nach Tansania, genauer gesagt in ein Lehrkrankenhaus am Fuß des Kilimandscharo. Dort lernte er den Umgang mit Medizin in von Armut geprägten Gebieten kennen. „Ich kam aus einer sehr privilegierten Situation und lernte in Tansania, wie Menschen ohne die notwendigen Ressourcen leben und sterben“, erinnert sich Hans-Ulrich Holtherm.
Nach seiner Promotion im Jahr 1992 bestimmte diese Erfahrung seinen weiteren Werdegang. Auf die Weiterbildung zum Tropenmediziner im Hamburger Bernhard-Nocht-Institut und im Senegal folgte das Postgraduiertenstudium „Public Health for Developing Countries“ in London sowie zusätzlich eine Weiterbildung in der Infektiologie. Hans-Ulrich Holtherm meint, er sei zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen: „Nach der Wiedervereinigung stieg die Zahl der Auslandseinsätze in tropischen Regionen stark an. Deshalb gab es eine deutlich stärkere Nachfrage nach Tropenmedizinern.“ Sieben Jahre lang war er genau dafür im Sanitätsamt der Bundeswehr zuständig und wurde nach zahlreichen weiteren Ämtern und Auslandseinsätzen am 15. Januar 2020 zum Kommandeur und Direktor des Bundeswehrkrankenhauses in Ulm ernannt.
Nur vier Tage später, direkt nach der Ausstrahlung des sonntäglichen „Tatorts“ in der ARD, erreichte ihn eine schicksalhafte Nachricht. Absender war Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Er suche eine Leitung für die neue Abteilung „Gesundheitsschutz, Gesundheitssicherheit, Nachhaltigkeit“, schrieb der Minister – und habe dabei an ihn gedacht. Eine wichtige Neugründung, denn in Asien und Amerika machte sich langsam ein neues Virus namens Covid-19 breit, das schon bald Deutschland erreichen sollte.
Hans-Ulrich Holtherm sagte zu. Wenig später wurde er zum Abteilungsleiter und anschließend zum Leiter des Corona-Krisenstabs im Gesundheitsministerium ernannt. In seiner Funktion führte er den Krisenstab, erarbeitete mit seinem Team Empfehlungen zum Umgang mit der Covid-Pandemie und begleitete den Gesundheitsminister als Fachberater zu Parlamentsterminen. „Die Arbeit war intensiv und umfangreich“, erzählt er. „Aber ich hatte ein großartiges Team und eine tolle Arbeitskultur.“
Inzwischen ist Corona kein großes Thema mehr, der Krisenstab hat sich aufgelöst. Seitdem nimmt Hans-Ulrich Holtherm als ständiger Gast an Treffen des ExpertInnenrats „Gesundheit und Resilienz“ im Bundeskanzleramt teil. Das Gremium beschäftigt sich mit allen Fragen zu aktuellen und zukünftigen Gesundheitsrisiken.
Hauptsächlich ist Hans-Ulrich Holtherm aber nun als Kommandeur der Sanitätsakademie in München tätig. Seinen 20 Kilometer weiten Arbeitsweg legt er gerne mit dem Fahrrad zurück und erinnert sich dabei an seine Zeit in Münster. Besonders sind ihm die Mediziner-Partys in Erinnerung geblieben, die beim Getränkemarkt Lappe stattfanden. „Dort habe ich zwei meiner besten Freunde kennengelernt, zu denen der Kontakt nie abgebrochen ist“, sagt der Alumnus. Noch heute hat er beim Einfahren in den münsterschen Bahnhof den Song „The Boys are back in town“ von Thin Lizzy im Kopf – eine Art Hymne seines Freundeskreises. „Das Studium war eine sehr unbeschwerte Zeit in meinem Leben. Und als Westfale in der Westfalenmetropole zu studieren, hat das Ganze noch besser gemacht“, schwärmt der gebürtige Rheinenser.
Beim Spaziergang durch seine alte Heimat Münster macht der Generalstabsarzt kurz halt vor seiner ehemaligen Wohnung: In einer WG an der Robert-Koch-Straße wohnte er mit einem alten Schulfreund zusammen. Hans-Ulrich Holtherm lacht, als er eine Parallele zu seiner Karriere bemerkt: „Robert Koch hat einen Nobelpreis für die Entdeckung des Tuberkulose-Erregers erhalten. Tuberkulose ist eine Infektionskrankheit. Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.“
Autor: Tim Zemlicka
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 2. Oktober 2024.