„Die Krise gibt uns Zeit zum Nachdenken“
Das Interview führte Nora Kluck.
Dieser Text stammt aus dem alumni|förderer-Magazin in der Universitätszeitung "wissen|leben", Ausgabe Sommersemester 2020.
Dr. Julia Draganović, 1963 in Hamburg geboren, studierte ab 1982 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Kunstgeschichte, Germanistik, Philosophie und Italianistik und wurde 1995 im Fach Germanistik promoviert. Im Jahr 2004 gründete sie das Kuratorenkollektiv LaRete Art Projects in Modena (Italien). Ihre internationale Karriere führte sie nach Italien, Kolumbien, Polen, Spanien, Taiwan, in die Schweiz sowie in die USA. Unter anderem war sie Kuratorin des Europäischen Studienprogramms der ACC Galerie und der Stadt Weimar (1999–2003), Artistic Director des Chelsea Art Museums New York (2005–2006) und des PAN Palazzo delle Arti Napoli (2007–2009), Kuratorin des International Award of Participatory Art für die Region Emilia-Romagna (Italien) (2009–2013) und verschiedener internationaler Kunstmessen. Von November 2013 bis Juni 2019 war Julia Draganović Direktorin der Kunsthalle Osnabrück. Seit 1. Juli 2019 leitet sie die Deutsche Akademie Rom Villa Massimo. Wir haben sie Anfang April inmitten der Corona-Krise auf elektronischem Wege für ein Interview erreicht.
Seit einigen Wochen herrscht in Italien wegen des Coronavirus ein Ausnahmezustand. Wie ist die Situation in der Villa Massimo derzeit?
Gegenwärtig sind in der Villa Massimo nur sieben Studios und die dazugehörigen Wohnungen belegt – zwei der Stipendiaten befanden sich gerade in Deutschland, als der Reiseverkehr eingestellt wurde. Wir sind momentan 21 Personen, die auf dem Gelände leben – darunter ein Mitarbeiter und ein Praktikant sowie ich selbst. Alle übrigen Mitarbeiter befinden sich entweder im ‚Zwangsurlaub‘ oder im Homeoffice. Seit dem 11. März ist in ganz Italien eine Ausgangssperre in Kraft, die es den Bürgern nur in dringenden Fällen erlaubt, ihre Wohnungen zu verlassen. Die Römer halten sich mit geradezu eiserner Disziplin daran. Die Villa Massimo besteht aus einem wunderschönen Park mit großzügigen Ateliers und Künstlerwohnungen, dem Haupthaus mit Büros, Bibliothek, Zeitungslesesaal und Veranstaltungssaal, der Galerie, dem Pförtnerhaus mit Wohnung sowie der Direktorinnenwohnung. Wir leben hier idyllisch und abgeschlossen und arbeiten in großer Stille vor uns hin.
Gibt es keinerlei Treffen mehr?
Doch, wir treffen uns täglich auf einen gemeinsamen Kaffee unter Wahrung der gesetzlich gebotenen Distanzen. Wir besprechen die aktuelle Lage und planen gemeinsame Dinge, die noch möglich sind, wie etwa die Präsentation einiger Arbeiten auf einer großen Projektionswand, die von einem der umliegenden großen Wohnblöcke gut sichtbar ist. Wir nennen das Projekt ‚Arte per i vicini – Kunst für die Nachbarn‘. Die Isolation rückt alle näher zusammen, wenngleich wir auf Abstand achten. Wir organisieren gemeinsame Essen und Filmvorführungen, und der Ideenaustausch ist sehr rege. Es entstehen Zusammenarbeiten, die ohne diese Zwangspause vielleicht so nie gelungen wären. Der Sohn eines der bildenden Künstler dreht und schneidet ein Video für einen Komponisten, ein Schriftsteller schreibt die Biografie für eine bildende Künstlerin ...
Die gegenwärtige Situation ist außergewöhnlich. Was finden Sie in ‚normalen Zeiten‘ an Ihrer Position besonders reizvoll?
Nach einem breit angelegten geisteswissenschaftlichen Studium habe ich mich jahrelang schwergetan, mich auf eine einzige künstlerische Disziplin, die bildende Kunst, zu beschränken. In den vergangenen Jahrzehnten als Kuratorin zeitgenössischer Kunst haben mich immer die Schnittstellen zwischen verschiedenen Disziplinen sehr interessiert, und mein Fokus lag in den vergangenen Jahren sehr auf Erfahrungen und Methoden der Zusammenarbeit. Die Villa Massimo fordert von mir eine erneute Öffnung gegenüber anderen Disziplinen, was mir sehr willkommen ist. Ich empfinde es als ausgesprochen anregend, zehn Monate im Jahr diese großen Talente zu begleiten und als Möglichmacherin und Brückenbauerin zur italienischen Kultur wirken zu dürfen. Mein soziologisches Interesse wird hier sehr stimuliert: In der Villa Massimo kreiert sich jährlich eine neue Gemeinschaft von Menschen, die sich nicht gegenseitig als Nachbarn gewählt haben. Es geht zu wie im Alltagsleben überall, nur sind die Beteiligten eben hochgradig talentierte Kreative, die neue Modelle schaffen.
Was sind die wichtigsten Neuerungen unter Ihrer Leitung?
Dazu gehört sicher die Schaffung eines Gemeinschaftsraums, in dem gekocht und gegessen werden kann, mit einer Gartenterrasse. Neu ist auch die durchgehende Bespielung der Galerie der Villa Massimo durch die Rompreisträger, aber auch durch andere Kulturschaffende. Damit hängt eine noch intensivere Vernetzung mit den römischen Kulturschaffenden zusammen, auch aus der alternativen Szene. Zudem gibt es die Initiative, die Arbeiten der Rompreisträger in mehrtägigen Veranstaltungen und Ausstellungen in Deutschland – nicht nur in Berlin – zu zeigen. Unseren Alumni soll demnächst in unseren digitalen Medien mehr Raum gegeben werden. Last but not least versuche ich, allen Mitarbeitern mehr Eigenverantwortlichkeit, aber auch Möglichkeiten der Zusammenarbeit einzuräumen. Besonders freut es mich, dass die Mitarbeiter der Liegenschaftspflege die Corona-Krise nun zum Deutschlernen in Fernkursen am Goethe-Institut nutzen.
Was planen Sie darüber hinaus für die nächste Zeit – nach Corona?
Corona gibt uns sehr zu denken. Die Krise gibt uns momentan auch die Zeit dazu. Sie stellt uns vor die Herausforderung, auf alles Gewohnte zu verzichten und uns vorzustellen, wie wir danach weiterleben und arbeiten werden, welche Alternativen es zum extensiven Reisen gibt, welche digitalen Formate unser Leben erleichtern, wo wir auf das analoge, haptische Leben, die Gegenständlichkeit, die persönlichen Beziehungen auf gar keinen Fall verzichten können, welche neuen Formen der Zusammenarbeit sich daraus ergeben. All das wird die Gestaltung der Aufenthalte der Stipendiaten verändern.
Weil wir gar nicht wissen, wann wir wieder Veranstaltungen im klassischen Sinne durchführen können, spreche ich gerade mit ehemaligen Rompreisträgern, mit Experten der Neuen Medien, mit Urbanisten und Soziologen, um gemeinsam neue Ideen für neue Formate zu entwickeln. Die Rompreisträger vor Ort diskutieren täglich darüber, wie es nach dem Vakuum weitergeht. Klar ist, dass wir uns in dieser Zeit vermehrt mit künstlerischen Arbeiten auseinandersetzen wollen. Das soll sich auch in unseren finanziellen Ausgaben spiegeln. Wir verzichten vielleicht in Zukunft noch mehr auf ausschweifendes Catering und investieren besser in Künstlerhonorare.
Was unterscheidet die Leitung der Villa Massimo von Ihren bisherigen Tätigkeiten?
Der größte Unterschied liegt für mich darin, dass ich die Künstler, mit denen ich arbeite, nicht selbst auswähle. Das ist zugleich Segen und Fluch: Für jede Disziplin gibt es eine alle drei Jahre wechselnde Expertenrunde, die die Rompreisträger aus den Bewerbern auswählt. Ich wäre weder zeitlich noch fachlich in der Lage, mich mit allen Kandidaturen auseinanderzusetzen. Dank der Expertenjury bin ich sicher, dass, wer hierherkommt, Großes geleistet hat. Damit habe ich die einmalige Gelegenheit, jedes Jahr Einblick in die schöpferischen Kosmen der wichtigsten Kreativen Deutschlands zu erhalten. Das ist aber natürlich auch eine große Herausforderung: Ich muss alle begleiten, selbst die, die ich auf Anhieb erst einmal nicht verstehe. Ich sehe darin großes Wachstumspotenzial für mich.
Kommen wir nun zur Stadt Rom. Warum ist Rom so wichtig für Künstler? Und was fasziniert Sie persönlich an Rom?
Rom ist eine der Wiegen der abendländischen Kultur und so reich an Geschichte, dass kein Künstler unbeeindruckt bleibt. Was die Römer und die Italiener wirklich können, ist eine Brücke über die Jahrtausende zu schlagen, Neues zu schaffen, ohne das Alte zu verdrängen. Das ist eine kostbare Erfahrung, die allen Kunstschaffenden guttut. Mich fasziniert der kulturelle Reichtum in Vergangenheit und Gegenwart, die Kultiviertheit und die freundliche Zugewandtheit der Römer, die Lebensqualität, die Flora und Fauna der grünsten Hauptstadt Europas. Die Liste scheint unendlich …
An Ihrer Berufsbiografie und Ihren Studienfächern lässt sich eine Leidenschaft für Italien ablesen. Wie kam es dazu – und was schätzen Sie besonders an diesem Land?
Mein Interesse an der italienischen Sprache und Kultur wurde in Münster geweckt. Grundkenntnisse im Italienischen gehörten zum Curriculum des Kunstgeschichtsstudiums. Ich bin 1986 zum ersten Mal zur Biennale nach Venedig gefahren und fühlte mich dort nicht nur von der Kunst, sondern auch von der Sprache angezogen. Daraufhin habe ich privaten Italienischunterricht genommen. Ich habe eine Hilfskraftstelle am Lehrstuhl des Philosophen Professor Ferdinand Fellmann, der von Haus aus Romanist war, erhalten, und schließlich einfach meine Italienischstudien offiziell gemacht, indem ich mich bei den Romanisten eingeschrieben habe. Was ich an dem Land schätze? Kultur, Geschichte, Mode, Design, Klima, Lebenslust und -qualität. Auch hier ließe sich die Liste endlos fortsetzen.
Was ist die schönste oder kurioseste Erinnerung an Ihre Studienzeit in Münster?
Wahrscheinlich waren die Vorlesungen von Hans Blumenberg am konstantesten kurios. Er kam mir vor wie eine Erscheinung. Er erschien und verschwand wortlos, richtete an niemanden ein Wort und ließ uns keine Fragen stellen. Dennoch haben er und der Mythos, der ihn schon zu Lebzeiten umgab, mich sehr beeindruckt. Meinen Doktorvater Prof. Dr. Hans Geulen habe ich fachlich wie menschlich sehr geschätzt. Am meisten für das Leben gelernt habe ich aber sicher vom Akademischen Oberrat Dr. Alwin Binder. Der war ursprünglich als Polsterer ausgebildet und hatte sich seine akademische Laufbahn hart erworben. Er hat unsere Seminare mit demselben Wissenshunger geleitet, den er sich von uns wünschte. Wenn er uns kritisiert hat, wegen mangelnder Neugier oder mangelndem politischen Bewusstsein, dann war ich wirklich betroffen, weil ich bemerkt habe, wie privilegiert jeder ist, der lernen darf.