Den ganzen Tag lang über nichts anderes als darüber nachgedacht, das Blog einzustellen, nicht zum ersten Mal, die mühsame Verschriftlichung meiner peinlichen Existenz. Wenn ich noch eine Chance sähe, Isa fertigzustellen, wäre mit dem Blog Schluss, Beschränkung auf das Notwendigste, Rückkehr zur ursprünglichen Mitteilungsveranstaltung für Freunde und Bekannte in Echtzeit. Dafür war das gedacht. Aber funktioniert hat es nie. Statt alle Fragen zu beantworten und Zeit zu sparen, kostet es mich welche.
Am 19. April 2013 um 17:26 Uhr wird der Leser Zeuge eines Zwiespalts: Wolfgang Herrndorf postet einen Eintrag auf seinem Blog Arbeit und Struktur, in dem er mit dem Projekt hadert. Die Arbeit an den Romanen – Isa ist der Arbeitstitel des nachgelassenen Romans Bilder deiner großen Liebe – hat für Herrndorf oberste Priorität. Das Blog sollte als »Mitteilungsveranstaltung […] in Echtzeit« Herrndorfs soziales Umfeld über den Zustand des Autors, der an einem Hirntumor erkrankt ist, informieren. Doch offenbar erweist sich die klare Hierarchisierung zwischen autobiografischem und literarischem Schreiben als schwierig und Arbeit und Struktur konkurriert mit Herrndorfs literarischem Œuvre um die knappe verbleibende Zeit des Autors.
Als nicht-fiktionaler Text in Form eines Tagebuch-Blogs entsteht Arbeit und Struktur parallel zum Leben Herrndorfs seit der Diagnose der Krebserkrankung. Neben seiner Funktion als Kommunikationsinstrument nutzt Herrndorf das Blog als Taktgeber seines Alltags, Ort der Selbstreflexion und Sammelstelle für Informationen und Rechercheergebnisse. Arbeit und Struktur erscheint aus dieser Perspektive als Konvolut von Texten, die für Herrndorf funktionalen Charakter haben, als Gebrauchstext. Im Herbst 2010 entscheidet Herrndorf, das Blog öffentlich einsehbar zu machen. Dazu erweitert er es um einen atmosphärischen Auftakt mit dem Titel »Dämmerung« (AuS 7) und eine zehnteilige Rückblende, in der er schildert, was vor dem ersten datierten Blogeintrag vom 8. März 2010 geschah. Damit beginnt, wie Kathrin Passig und Marcus Gärtner im Nachwort der Buchausgabe von Arbeit und Struktur schreiben, die »Metamorphose« zu etwas, das man, »wenn man mag, Literatur nennen« kann. Arbeit und Struktur ist noch immer »Mitteilungsveranstaltung« und faktualer, autobiografischer Text – zugleich aber zusehends auch komponierte Erzählung für einen unbekannten Leser.
Dieser Beitrag möchte der Ambivalenz von Arbeit und Struktur zwischen Gebrauchstext und autobiografischer Literatur nachgehen. Zentral ist dafür die Auseinandersetzung mit den beiden Aggregatszuständen des Texts: Erscheint das Blog Arbeit und Struktur als sich beinahe täglich fortschreibender Gebrauchstext, geht er als abgeschlossene Erzählung in Buchform nach Herrndorfs Tod in dessen literarisches Werk ein. Da der Text Arbeit und Struktur in Blog und Buch im Wesentlichen derselbe bleibt, ist es offenbar die Haltung gegenüber diesem Text, die sich mit dessen Darreichungsform verändert. Heteronome und poetische Signale, die dem Text immer schon eingeschrieben sind, werden, so meine These, von dessen Darreichungsform und ihrer jeweiligen medialen Spezifik unterschiedlich privilegiert und inszeniert. Wird das Blog Arbeit und Struktur eher als dynamisches Protokoll und Alltagspraxis des Autors gelesen, treten im Buch Perspektiven auf Arbeit und Struktur als literarisches Narrativ und gleichberechtigter Teil von Herrndorfs Œuvre in den Vordergrund.
Um meine These in einer genauen Lektüre von Arbeit und Struktur zu belegen, werde ich in drei Schritten vorgehen: Ein erster Teil soll Arbeit und Struktur als Blog und Buch sowie deren mediale Eigenschaften kurz vorstellen. Spuren der jeweils anderen Publikationsform in Blog und Buch weisen Arbeit und Struktur als Mischform aus. Diese mediale Ambivalenz schlägt sich in der Möglichkeit einer doppelten Lesart von Arbeit und Struktur als Gebrauchstext oder literarischem Werk nieder, die ich exemplarisch an einer Passage verdeutlichen werde. In den beiden folgenden Schritten möchte ich zeigen, wie Blog und Buch Arbeit und Struktur jeweils verschiedene Lesarten befördern: Während im Blog eine Lesart als digitaler Gebrauchstext dominiert, erscheint derselbe Text in Buchform als literarisches Werk. Dabei ist es jeweils das Zusammenspiel von inhaltlichen Aspekten und deren Akzentuierung durch mediale Gegebenheiten der Publikationsart, die diese dominanten Lesarten begründen. Der zweite Teil des Aufsatzes widmet sich demnach Arbeit und Struktur als Gebrauchstext in Blogform. Im Anschluss an die von Michel Foucault formulierten techniques de soi – Praktiken der Subjektkonstitution – kommt das in Arbeit und Struktur realisierte spezifische Potential des Blogschreibens als schriftliche Selbsttechnik in den Blick. Dieses Potential liegt wesentlich in der medialen Verfasstheit des Blogs, in dem Erleben, Textproduktion und Rezeption nah beieinander liegen, begründet. Ein dritter Teil setzt sich mit einer Perspektive auseinander, aus der Arbeit und Struktur als literarisches Werk erscheint. Das Buch garantiert mit Abgeschlossenheit und der Nennung eines Urhebers zwei wichtige Kriterien von Werkhaftigkeit. Herrndorf, so wird zu zeigen sein, hat seinen Text hinsichtlich dieser Kriterien gestaltet: So inszeniert er sich als starke Autorenpersönlichkeit in der Tradition des realistischen Romans und formt seine Lebenserzählung unter literarischen Gesichtspunkten. Am Ende steht eine Erzählung, die unabhängig von der Existenz des bio-physischen Subjekts Wolfgang Herrndorf fortbesteht.

Abb. 1: Startseite des Blogs Arbeit und Struktur.
1. Arbeit und Struktur zwischen Blog und Buch
Arbeit und Struktur heißt das Blog von Wolfgang Herrndorf, das seit September 2010 unter wolfgang-herrndorf.de öffentlich einsehbar ist (vgl. Abb. 1.). Seine Einträge datieren von März 2010 bis zu Herrndorfs Tod im August 2013. Anders als die URL vermuten lässt, handelt es sich nicht um eine Autorenhomepage. Vielmehr beheimatet die Seite ausschließlich das Blog Arbeit und Struktur und enthält keine weiteren Infos zu Herrndorf oder seinen Büchern. Das Blog basiert auf einer beliebten Vorlage des Blogdienstes WordPress. Das sogenannte Manifest-Theme ist zurückhaltend als weiße, von schlichten grauen Linien unterteilte Seite designt. Die Kopfzeile enthält den Titel des Blogs in schwarzer Schrift, zwei Buttons mit Archiv und Impressum sowie den wesentlich kleiner und kursiv geschriebenen Namen des Autors in grauer Schrift. Am unteren Ende der Seite verweist Older posts auf ältere Blogbeiträge, unterhalb einer Linie finden sich ein Link zum Wordpress-Login sowie eine Suchmaske. Eine Sidebar und die oft auf ihr versammelten Widgets fehlen.
Zwischen den beschriebenen statischen Seitenelementen standen bis zu Herrndorfs Tod die aktuellsten Blogeinträge, jeweils zu einzelnen, nummerierten Kapiteln zusammengefasst. Von der Möglichkeit, Medieninhalte in die einzelnen Postings einzubinden, macht Herrndorf in Bezug auf Fotos, darunter viele Selfies, Gebrauch, auch Links integriert er in seine Texte. Auffallend für Herrndorfs Blog vor seinem Tod ist, dass sich nicht der jüngste Beitrag zuoberst befand, sondern neue Texte jeweils unten anschlossen. Herrndorf weicht hier von der konventionellen Leserichtung von Blogs ab, wenngleich er in der Rubrik Archiv die Kapitel in blogtypischer, umgekehrt chronologischer Reihenfolge auflistet. Seit Herrndorfs Tod und der Stilllegung des Blogs findet sich auf der Startseite folgende Leseanweisung:
Dieses Blog war ursprünglich nicht öffentlich. Zur Veröffentlichung wurden Namen anonymisiert, Passagen gekürzt oder gestrichen. Unklarheiten waren teilweise nicht zu vermeiden. Um das Blog in Gänze zu lesen, beginne man bei dem Eintrag Dämmerung.
Das Wort »Dämmerung« ist durch Unterstreichung und graue Schriftfarbe als Link kenntlich gemacht und leitet den Benutzer zum ersten, undatierten Eintrag des Blogs weiter. Die Stillstellung des Blogs ist nicht nur hinsichtlich des Aussehens der Startseite relevant, vielmehr verändern sich damit auch wesentliche mediale Eigenschaften des Blogs: Wurden neue Beiträge zu Herrndorfs Lebzeiten als aktuelle Statusmeldungen gelesen, deren Produktion in unmittelbarer Nähe zur Rezeption liegt, kommen mit Herrndorfs Tod keine neuen Texte mehr hinzu. Das unabgeschlossene, dynamische Blog kommt zum Stillstand. Änderungen finden nach dem knappen Posting der Todesnachricht nicht mehr statt. Das Blog ist gewissermaßen mortifiziert und gleicht sich insofern bereits der erst später folgenden Buchpublikation an. Um die Unterschiede der beiden Publikationsformate möglichst konturiert darstellen zu können, werde ich mich in meinen Ausführungen auf die unabgeschlossene Version des Blogs, wie sie von September 2010 bis August 2013 im Netz vorzufinden war, beziehen.
Arbeit und Struktur heißt auch das Buch von Wolfgang Herrndorf, das am 6. Dezember 2013 im Rowohlt Berlin Verlag erschien. Herrndorf hatte im Blog angedeutet, dass er eine Buchpublikation des Blogs nach seinem Tod vorbereitet. Binnen weniger Tage schafft es das Buch auf die Bestsellerlisten. Inhalt und Anordnung der Texte sind im Buch bis auf orthografische Korrekturen mit denen des Blogs weitgehend identisch. Lediglich die zuletzt zitierte Leseanweisung und die unter dem Titel »Schluss« publizierte Nachricht von Herrndorfs Tod fehlen im Buch. Die Leseanweisung erübrigt sich im Buch, weil für das (Tage)Buch die chronologisch vom ältesten zum jüngsten Beitrag aufsteigende Leserichtung konventionell ist. Und auch das Aussparen der Todesnachricht im Buch ergibt sich aus der medialen Differenz zwischen Blog und Buch: Während jedem Buchleser durch die geringe noch verbleibende Seitenanzahl die Endlichkeit des Textes bewusst ist, braucht der Blogleser, der das Blog peu à peu verfolgt hatte, die Nachricht, um das Ende des potentiell unabgeschlossenen Formats zu erkennen. Auch erscheint die zeitliche Kongruenz zwischen Leben und Lebensnachricht im Blog die Information über den Tod des Autors notwendig zu machen. Der Buchleser, dem Herrndorfs Tod beispielsweise im Klappentext in Erinnerung gerufen wird, ist sich von Beginn an über das Ende der Geschichte im Klaren. Herrndorf ist für den Buchleser mehr überzeitliche literarische Figur als lebendiger Zeitgenosse.
Gerade die Leseanweisung zeigt aber auch, wie sich Blog und Buch im Fall von Arbeit und Struktur wechselseitig beeinflussen: Die Leseanweisung hält den Leser dazu an, das Blog wie ein Buch zu lesen und damit gegen die Konventionen des Formats zu verstoßen. Auch in einem weiteren Punkt gleicht das Blog Arbeit und Struktur sich einem analogen Textverständnis an: Die für Blogs konstitutive Möglichkeit, in Kommentaren auf einzelne Posts Bezug zu nehmen, mit dem Autor zu interagieren und dabei dessen Text zu erweitern, ist für das Blog Arbeit und Struktur nicht gegeben. Herrndorfs Texte stehen dort wie in einem Buch, als für den Leser unverfügbare und unveränderliche Entitäten. Aber auch das Buch Arbeit und Struktur enthält Spuren des Blogs, wenn etwa sämtliche Links, die Herrndorf in den Blogtext eingefügt hatte, als Fußnoten in einem umfangreichen Anhang ausgewiesen werden. Wir sehen also, dass der Text Arbeit und Struktur nicht nur in zwei verschiedenen Publikationsformaten mit ihren jeweiligen medialen Eigenschaften vorkommt, sondern auch, dass sich Spuren des jeweils anderen Formats in Blog und Buch finden lassen. Blog und Buch Arbeit und Struktur erscheinen als ambivalente mediale Formate. Arbeit und Struktur ist ein Blog, das über buchtypische Elemente verfügt, wie es später ein Buch wird, dem man seine Entstehung als Blog ansieht. Nichtsdestotrotz bleiben Blog und Buch natürlich als eigenständige Formate bestehen. Nur unterscheidet sich offenbar die Lesart des Texts, je nachdem ob er im Blog oder im Buch gelesen wird, wie die folgende Anekdote verrät:
Im Sommersemester 2015 schrieb mich eine Studentin der Uni Göttingen an, die vorhatte, eine Hausarbeit zu Arbeit und Struktur zu verfassen. Sie hatte gesehen, dass ich mich in einem Vortrag mit dem Text beschäftigt hatte und fragte mich, ob man sich treffen und über literaturwissenschaftliche Zugänge zu diesem Text austauschen könne. Schnell kam die Studentin auf lyrische Elemente in Arbeit und Struktur zu sprechen, die sie sehr interessant fände. Neben kurzen Gedichten und Merksätzen ging es ihr vor allem um »Nonsens-Gedichte«, in denen Herrndorf stereotype Aussagen in einer Art dadaistischer Collage aneinanderreihe. Ich war ratlos, welche Gedichte sie meinen könnte, bis die Studentin mir ein solches in ihrer Ausgabe zeigte:
Wir treffen uns wieder in meinem Paradies
Und Engel gibt es doch
In unseren Herzen lebst du weiter
Einen Sommer noch
Noch eine Runde auf dem Karussell
Ich komm’ als Blümchen wieder
Ich will nicht, daß ihr weint
Im Himmel kann ich Schlitten fahren
Arbeit und Struktur (AuS 47)
Es handelte sich um jene vier Passagen in Arbeit und Struktur, die ich als Listen anderer Krebsbücher gelesen hatte. Anders als die Studentin hatte ich Arbeit und Struktur zuerst als noch unvollendetes Blog gelesen und hielt es für plausibel, dass der Autor in diesen Listen eine Einordnung seines im Entstehen begriffenen Texts unternimmt. Die Liste erfüllte für Herrndorf meiner Interpretation nach etwa die praktische Funktion einer, wenngleich durchaus ironischen, Marktanalyse. Die Studentin wiederum, die den Text zuerst als Buch gelesen hatte, hatte die identischen Textstellen als poetischen Text aufgefasst, an dem sie sich in ihrer Hausarbeit abarbeiten würde.
Ohne den epistemologischen Gehalt dieser Begebenheit überbewerten zu wollen, deutet sie doch an, dass erstens der Text Arbeit und Struktur heteronom oder autonom im Sinne eines zweckgebundenen einerseits und eines poetischen Sprachgebrauchs andererseits gelesen werden kann und dass zweitens die jeweilige Lesart nicht zwangsläufig durch unterschiedlichen Textstellen gestützt wird. Die Frage, ob Arbeit und Struktur als Gebrauchstext oder literarisches Werk aufgefasst wird, muss folglich in der Haltung begründet liegen, mit der dem Text gegenübergetreten wird. Diese Haltung wird maßgeblich dadurch beeinflusst, ob der Text als unabgeschlossenes Blog oder Buch gelesen wird, denn das jeweilige Publikationsformat betont nebeneinander existierende Elemente eines Gebrauchs- oder literarischen Texts. So beschreibt der Literaturkritiker des Berliner Tagesspiegels Gerrit Bartels wenige Wochen nach der Veröffentlichung der Buchversion von Arbeit und Struktur, wie im Buch etwas sichtbar wird, was zuvor im Blog nicht in gleicher Weise wahrgenommen wurde:
Seit 2010 konnte man Monat für Monat im Internet nachlesen, wie es dem kranken Schriftsteller so ging, was er machte, dachte oder las. Das haben viele Freunde und Fans von Herrndorf getan. Trotzdem dürften viele, die sich den Blog jetzt nochmal als Buch und also am Stück zu Gemüte geführt haben, verblüfft sein ob der literarischen Qualität, die darin steckt, mitsamt einer ganzen Poetologie. Erstaunlich ist, dass sich das womöglich zwischen zwei Buchdeckeln viel besser erkennen lässt als auf einem Bildschirm, auf dem man nach oben und unten, nach rechts oder links scrollt.
Bartels resümiert: »Das Beständige, das Herrndorfs ja nicht besonders großes Werk ganz sicher haben wird, findet hier [im Buch; E.M.] seinen formalen Ausdruck – und nicht in der Flüchtigkeit des Netzes.« Laut Bartels werden also durch das Buch Eigenschaften von Arbeit und Struktur privilegiert, die als Kriterien eines literarischen Werks (»Beständigkeit«) taugen. Zugleich tritt damit aber auch der funktionale Charakter des Texts, der wesentlich an die Form des noch nicht abgeschlossenen Blogs gebunden war, in den Hintergrund. Mein Vorhaben ist es im Folgenden zunächst, diese Aspekte, die Arbeit und Struktur als Gebrauchstext im Blog erscheinen lassen, nachvollziehbar zu machen, um anschließend die Funktionsweise des Texts als literarisches Werk in Buchform zu erläutern, die heute dominant für seine Rezeption ist.
2. Arbeit und Struktur als digitaler Gebrauchstext: Sammelstelle und Statusmeldung
Folgt man Herrndorfs Leseanweisung und beginnt die Lektüre des Blogs mit dem ältesten Eintrag, schließt sich an den atmosphärischen Auftakt »Dämmerung« der erste tagebuchartige Eintrag vom 8. März 2010 um 13:00 Uhr an: »Gestern haben sie mich eingeliefert.« (AuS 9), situiert Herrndorf den Leser in seiner Gegenwart. Schon kurz darauf thematisiert das Blog das Führen eines Tagebuchs als Praxis, die sich aus Herrndorfs Situation fast notwendig ergibt: Auch andere Patienten der Psychiatrie protokollieren »minutiös ihren Tagesablauf« (AuS 11). Herrndorf schleicht sich zum Aufschreiben einer »Gedankenkette« auf die Toilette oder schreibt »unter der Bettdecke im Licht des Handydisplays« (AuS 12). »Sind wir verrückt, weil wir alles aufschreiben, oder schreiben wir alles auf, weil wir verrückt sind?« (AuS 11), fragt Herrndorf eine Mitpatientin und tatsächlich scheint der Versuch, der eigenen Situation schreibend eine Ordnung abzuringen, sowohl Ausweis der Manie als auch ihre Therapie. Denn Herrndorf wird von seinen Ärzten dazu angehalten ein – allerdings stark formalisiertes – »Stimmungstagebuch« (AuS 16) zu führen.
Dem täglichen Schreiben kommt in Arbeit und Struktur eine unmittelbare Funktionalität zu. Das Tagebuch wird als Werkzeug eingeführt, mit dessen Hilfe das schreibende Subjekt seine Situation reflektiert und das den Ärzten gleichzeitig Auskunft über die Stimmungslage des Patienten gibt. Es erscheint zunächst als Gebrauchstext, der »der Sache [dient], von der [er] handel[t]«. Diese funktionale Dimension des ›Über sich selbst Schreibens‹ thematisiert Michel Foucault in seinem gleichnamigen Aufsatz. Foucaults Beschäftigung mit schriftlichen Praktiken der Subjektkonstitution muss im Zusammenhang seines Vorhabens einer »Geschichte des Subjekts« betrachtet werden. Grundlegend für dieses Vorhaben ist die Einsicht, dass Subjekte »sich im historisch variablen Wechselverhältnis von Wissen, Macht und Selbstverhältnis« ausbilden. Subjektivität ist demnach nicht nur bestimmt durch die Wissens- und Machtordnungen, die Foucault in seinen früheren Schriften beschrieben hatte, sondern kommt beim späten Foucault auch als Selbstverhältnis in den Blick, das Individuen im Rahmen der jeweils verfügbaren »Technologien des Selbst« ausprägen können. Diese definiert er wie folgt:
Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper, seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.
Foucault gewinnt seinen Begriff solcher techniques de soi aus antiken Praktiken der Askese sowie des Memorierens, der Meditation und des Schreibens. Dabei geht es Foucault, wie Martin Saar erläutert, nicht um »historische Forschung um ihrer selbst willen«, vielmehr leitet er aus den antiken Praktiken »die Einsicht in die grundsätzliche praktische Verfasstheit des Bezugs zu sich« ab. Mein Vorhaben ist es im Folgenden, die von Foucault in seinem Aufsatz »Über sich selbst schreiben« behandelten antiken Beispiele schriftlicher techniques de soi für eine Lektüre des Blogs Arbeit und Struktur fruchtbar zu machen. Foucaults Ausführungen zu hypomnêmata und Korrespondenz möchte ich dazu als spezifische historische Ausformungen autobiografischer Praxis verstehen, die sich in anderen Medien bis in die Gegenwart fortsetzen. Ich möchte zeigen, dass Herrndorfs autobiografisches Blogprojekt mit den Selbsttechniken im Foucault’schen Sinne strukturverwandt ist – und letztere aufgrund der medialen Eigenschaften des Blogs in ihrer Wirksamkeit sogar übertrifft.
»L’écriture de soi« – »Über sich selbst schreiben« erschien im Februar 1983 und ist, wie Foucault zu Beginn des Aufsatzes sagt, Teil »einer Reihe von Studien über die ›Künste des Selbst‹ […] in der griechisch-römischen Kultur der ersten beiden Jahrhunderte.« Foucault geht darin auf zwei Typen schriftlicher Selbsttechniken ein, die sog. hypomnêmata und die Korrespondenz. Hypomnêmata definieren sich nach Foucault nicht ihrer Form nach, es können »Rechnungsbücher, öffentliche Register oder auch private, als Gedächtnisstütze dienende Notizbücher sein,« sondern durch ihren spezifischen Gebrauch:
Sie bildeten gleichsam ein materielles Gedächtnis des Gelesenen, Gehörten und Gedachten, einen zur neuerlichen Lektüre und weiterer Reflexion bestimmten Schatz an Wissen und Gedanken. […] Es geht nicht darum, dem Unsagbaren nachzugehen, Verborgenes zu enthüllen, das Ungesagte zu sagen, sondern darum, bereits Gesagtes festzuhalten, Gehörtes oder Gelesenes zu sammeln, und das zu einem Zweck, der nichts Geringeres ist als die Konstituierung des Selbst.
Die hypomnêmata erscheinen in dieser ersten Beschreibung als Sammelstelle für Informationen, Einsichten, Zitate, Erfahrungen, mit denen das Individuum unmittelbar vor der Niederschrift in Berührung kam. In ihnen verortet sich das Subjekt in den es gegenwärtig betreffenden Diskursen. Ein Blick in die Anfangszeit des Blogs Arbeit und Struktur macht unmittelbar klar, was mit dieser Sammelstellen-Funktion gemeint sein könnte: Am 29. März 2010 berichtet Herrndorf im Blog von einem Arzttermin. Es wird festgestellt, dass er eine bestimmte genetische Eigenschaft besitzt, die die Wirksamkeit eines Medikaments negativ beeinflusst. Herrndorf fügt in den Text ein Diagramm zur Wirksamkeit des Medikaments ein und resümiert: »Statistisch ist es aber auch so: Nach zwei Jahren wird die Kurve flach.« (AuS 36) Überhaupt ist das Blog im März 2010 durchzogen von Fachtermini, die der Autor aus den Gesprächen mit seinen Ärzten übernimmt. Die Rede ist von »Herden«, der »NOA« (AuS 30), einer Vielzahl verschiedener Medikamente sowie deren Wirkung als »Angiogenesehemmer« oder »Apoptoseauslöser« (AuS 32). Mit der Diagnose ist Herrndorf plötzlich einem ihm bis dato fremden, medizinischen Diskurs ausgesetzt. An vielen Stellen berichtet er von seiner Recherche im Internet und trägt die gefundenen Informationen wie im Fall des Diagramms auf seinem Blog zusammen. Aber auch Dinge, die seit der Erkrankung zu seinem Leben gehören, trägt er gewissenhaft ins Blog ein. So zitiert er im Juli 2011 den Wortlaut seines Behindertenausweises: »Feststellung: Der Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100. Begründung: Bei Ihnen liegen folgende Funktionsbeeinträchtigungen gemäß §69 Abs. 1-3 SGB IX vor: a) Erkrankung des Gehirns.« (AuS 216) Im Dezember dann notiert er seine tägliche Medikation kommentarlos im Blog. Die sperrigen Medikamentennamen und ihre Dosierung für morgens, mittags und abends geben dem mit der Materie nicht vertrauten Leser Rätsel auf, verdeutlichen aber die Funktion des Blogs als Sammelstelle relevanter Informationen rund um die Erkrankung.
Foucault schreibt weiter zur Beschaffenheit der hypomnêmata: »So persönlich die hypomnêmata auch sein mögen, dürfen wir dennoch keine intimen Tagebücher darin erblicken.« Bei aller Sensibilität der Informationen, die Herrndorf auf seinem Blog preisgibt, stehen die nüchternen Fakten der Statistiken, Medikationen, Untersuchungsabläufe doch weit mehr im Vordergrund als seine emotionale Verfassung. Selbst wenn Herrndorf in den Rückblenden von seiner manischen Phase erzählt, tut er das distanziert wie ein leicht befremdeter, mitunter auch belustigter Beobachter. Die Blogtexte haben nie den Impetus von Geständnissen oder Vermächtnissen, sondern sind tatsächlich das langsam anwachsende Protokoll dessen, was Herrndorf seit der Diagnose beschäftigt, was er liest und tut. Aus dieser Beschreibung heraus lässt sich ein weiteres Charakteristikum der hypomnêmata nach Foucault ableiten, ihre Heterogenität:
Der gewollt disparate Charakter schließt Einheit nicht aus. Aber diese Einheit entsteht nicht durch die Kunst, Dinge zu einem Ganzen zusammenzufügen, sondern muss sich im Schreibenden selbst herstellen, als Ergebnis der hypomnêmata, ihrer Zusammenstellung (also im Akt des Schreibens) und ihrer Konsultation (also beim Lesen und Wiederlesen).
Auf Herrndorfs Blog kommen ganz unterschiedliche Textsorten zusammen. Erst in der Zusammenschau der zitierten, dekontextualisierten Texte und Herrndorfs eigenen Beschreibungen entsteht die von Foucault beschriebene Einheit der hypomnêmata als individuelle und gegenwärtige Textdokumente eines Subjekts, die im Akt des Lesens nachvollzogen werden müssen. Wie Foucault fortfährt, bestehen die hypomnêmata stets aus den beiden Elementen der schreibenden »Zusammenstellung« und der wiederlesenden »Konsultation« der bereits geschrieben Texte. Die regelmäßige Wiederholung dieser beiden Tätigkeiten gehört zur Praxis der hypomnêmata als »Übung, die immer wieder absolviert werden sollte«. Auch für Herrndorf wird die Arbeit am Blog schnell zum integralen Bestandteil seines Alltags, der nach Diagnose, OP und Psychiatrieaufenthalt erst wieder etabliert werden muss: »Teetrinken, Stendhal lesen, bisschen Blog, abwaschen, Wäsche machen, staubsaugen« (AuS 258), beschreibt er im Oktober 2011 das Blog als alltägliche Praxis. Auch für Herrndorfs Blogpraxis ist das Wiederlesen des bereits Geschriebenen zentral: Er nutz das Blog als Archiv, um wichtige, tröstliche Gedanken zu konservieren und bei Bedarf konsultieren zu können. So schreibt er von einem »kleinen Abendgebet« aus »trostreich scheinenden Sätzen und Gedanken« (AuS 110), welches er wie einen Merksatz im Blog festhält. Als Sammelstätte fungiert das Blog auch dort, wo Herrndorf seinen Zustand und dessen Veränderung dokumentieren muss. So fügt er seiner Patientenverfügung den Hinweis an: »Alles Weitere, insbesondere Angaben über meinen körperlichen und geistig einwandfreien Zustand zur Zeit der Abfassung dieser Nachschrift entnehmen Sie bitte meinem Blog.« (AuS 335)
Bei aller Anschlussfähigkeit des Blogs Arbeit und Struktur an die Praxis der hypomnêmata fällt doch ein wesentlicher Unterschied auf: Herrndorfs Texte sind immer schon dafür verfasst, gelesen zu werden. Neben der selbsttherapeutischen Funktionalität verfolgt Herrndorf mit dem Blog auch ein kommunikatives Anliegen. Foucault thematisiert eine solche kommunikative Dimension in der zweiten, von ihm in »Über sich selbst schreiben« angeführten Selbsttechnik, der »Korrespondenz«: Der Briefwechsel, so schreibt Foucault, sei in der »Doppelfunktion« von Schreiben (der Briefe) und Lesen (der Antworten) mit der Praxis der hypomnêmata verwandt, unterscheidet sich von ihr aber durch ihren dialogischen Charakter:
Trotz dieser Gemeinsamkeiten dürfen wir in der Korrespondenz keine bloße Fortsetzung der Praxis der hypomnêmata sehen. Sie ist mehr als ein bloßes Training durch Schreiben und das Erteilen von Ratschlägen oder Anweisungen an den anderen. Sie ist zugleich eine Form, sich dem anderen und sich selbst zu zeigen. Im Brief ist der Schreiber dem Empfänger präsent, und zwar nicht nur durch die darin gegebenen Informationen über sein Leben, sein Tun, seine Erfolge und Misserfolge, sein Glück und Unglück, sondern in einer Weise, die als unmittelbare und nahezu physische Präsenz erscheint.
Das entscheidende Moment des Briefwechsels als Technologie des Selbst ist also der intersubjektive Austausch zwischen den beiden Briefpartnern. Beide Teilnehmer der Korrespondenz setzen sich in ihren Briefen, wie Foucault schreibt, dem Blick des Empfängers aus und fühlen sich durch die Briefe des anderen angesehen: »Der Brief schafft in gewisser Weise ein Verhältnis von Angesicht zu Angesicht.« Gegenstand des Briefwechsels seien nicht etwa außergewöhnliche Ereignisse, sondern im Gegenteil die Beschreibung des Alltags der Korrespondenten und ihres Gesundheitszustands. Die räumliche Nähe, die die Briefe zwischen den Korrespondenten erzeugen, spiegelt sich also auch in ihrem Inhalt wider. Denn die Briefe setzen die Korrespondenten auf den Kenntnisstand von Personen, die eng zusammenleben, indem sie über die »Beschaffenheit einer Lebensweise« informieren.
Das Blog Arbeit und Struktur war ursprünglich durch ein Passwort geschützt und als »Mitteilungsveranstaltung« (AuS 405) für Herrndorfs Freundeskreis gedacht. Über das Blog war es möglich, alle Freunde gleichzeitig über Herrndorfs Zustand zu benachrichtigen. Diese reagieren per Mail, SMS und in einem »Forum« (AuS 420) oder treffen Herrndorf persönlich, wie das Blog vielfach belegt. Als Herrndorf das Blog im September 2010 der breiten Öffentlichkeit zugänglich macht, verzichtet er auf die Kommentarfunktion. Es handelt sich dabei um eine bewusste Entscheidung, denn Herrndorf kannte die interaktiven Möglichkeiten und responsiven Gepflogenheiten digitaler Literaturproduktion genau. Die Leser, die Herrndorf persönlich nicht kennen, haben also im Blog selbst keine Möglichkeit mit ihm in Austausch zu treten. An anderen Orten im Netz finden sich allerdings sehr wohl Rezeptionsdokumente zum Blog Arbeit und Struktur, die die zeitnahe Lektüre des Blogs belegen sowie Urteile über diesen enthalten. Trotz fehlender Kommentarfunktion scheint das Blog keineswegs eine kommunikative Einbahnstraße zu sein, wie die folgenden Beobachtungen zeigen:
So erlangt das Blog Arbeit und Struktur in Mailinglisten und Foren für Hirntumorpatienten und -angehörige früh Bekanntheit. Herrndorf selbst offenbart im Blog, dass er diese Foren liest, wie z.B. im April 2010, wenn er die spezifische Vorstellungspraxis auf einer Mailingliste für Hirntumorpatienten wiedergibt:
Aber auch auf der Hirntumorliste ist es üblich, Chiffren an seinen Namen zu hängen, die zu den Ansichten über Strahlen, Haarausfall und Boswellia serrata hinzuaddiert werden müssen: ›LG Karen AA III/07‹ oder ›Heinz Astro 2.2003‹. Wenn ›Christina 35, GBM IX/03‹ postet, hört man, wie die anderen Glioblastome in Deutschland die Luft anhalten. (AuS 43f.)
Die »Hirntumorliste« hirntumor.de/liste/, die Herrndorf laut obigem Posting abonniert hat, ist eine Mailingliste über die sich Betroffene, Angehörige, Ärzte und Psychologen austauschen. Neben der Liste gibt es das Diskussionsforum hirntumor.de/forum/. In diesem Forum weist ein User unter der Überschrift »Lesenswert: Blog eines GBM-Patienten« im März 2011 auf Arbeit und Struktur hin. »Der Autor«, so schreibt der User, »scheint auch hier mitzulesen und freut sich – falls das tatsächlich so ist – vielleicht über einen Gruß.« Entsprechend wendet sich ein User mit einer an ihn adressierten Nachricht im Forum direkt an Herrndorf. In einem anderen Forum beschreibt eine Userin wie sie auf Herrndorfs Blog im Zuge einer Medikamentenrecherche aufmerksam wurde und seine Berichte als treffend und anschlussfähig für ihre eigenen Erfahrungen empfand. Die regelmäßige Konsultation von Herrndorfs Blog ist auch in einem anderen Hirntumor-Forum dokumentiert, wo das stetige Anwachsen des Blogs verfolgt wird.
Von großer Bedeutung für diese Kommentare ist das Wissen der Leser, dass es sich bei Arbeit und Struktur um ein Protokoll in Echtzeit handelt. Foucault schreibt dazu, die schriftlichen Technologien des Selbst seien nicht dazu gedacht wie eine Autobiografie ein abgeschlossenes, »totes Bild« eines Lebens oder einer Lebensphase wiederzugeben, sondern im Gegenteil im momentanen Vollzug des Schreibens und Lesens »die eigene Seele […] zu bilden.« Wenn die Leser die Texte mit nur wenig zeitlicher Verzögerung lesen und darauf reagieren, tun sie das in dem Bewusstsein, über die gegenwärtige Situation des Autors Bescheid zu wissen. Zwar antwortet Herrndorf auf die Kommentare nicht bzw. nicht öffentlich, wesentlich ist jedoch, dass sie belegen, dass es eine mit dem Autor persönlich nicht bekannte Leserschaft des Blogs gab und gibt, die das Blog rezipiert und so eine unmittelbare Publizität herstellt. In den Internet-Communities der Hirntumorpatienten entsteht ein Raum, in dem Herrndorfs Blog verfolgt wird. Herrndorf wiederum, so zeigen seine Kenntnisse der kommunikativen Codes der Foren, weiß um diesen Raum und seine Leserschaft dort. Zwar ist eine direkte Korrespondenz wie Foucault sie beschrieben hatte im nicht über eine Kommentarfunktion verfügenden Blog Arbeit und Struktur nicht festzustellen. Eine gewisse Dialogizität, d.h. die Gewissheit, dass die Texte gelesen werden und es Rückmeldungen zu diesen Texten gibt, ist aber sehr wohl gegeben.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Arbeit und Struktur sich als Gebrauchstext im Blog darstellt. Das Blog erscheint als Ort digitaler Selbsttechnik, das Aspekte beider von Foucault beschriebenen Textgattungen vereint: Wie in den hypomnêmata vollzieht sich im Blog die schrittweise Verortung des Autors in die Diskurse um seine Krankheit. Wie im Briefwechsel sind die so entstehenden Texte aber immer schon an Leser gerichtet und fordern diese zu einer Reaktion heraus. Erzählte Zeit und Lebenszeit ist in den Blogtexten beinahe deckungsgleich, Schreiben und Leben überlagern einander und tragen sich performativ in den Text ein. Es ist vor allem diese spezifische zeitliche Struktur, die das Blog als digital potenzierte schriftliche Technologie des Selbst erscheinen lässt: Die verfassten Texte können sofort veröffentlicht und der Leserschaft zugänglich gemacht werden. Zudem ist das Zitieren und Einbinden fremder Gedanken durch die Möglichkeit der Verlinkung und des Copy/Paste im Blog wesentlich vereinfacht. Im Zusammengehen von individueller Schreibpraxis, Einbinden von Fundstücken und unmittelbarer Veröffentlichung der Texte erscheint das Blog als wirkungsvolle digitale Technologie des Selbst.
3. Arbeit und Struktur als literarisches Werk: Autormanifestation und Krankheitsdramaturgie
Wie wir im ersten Teil dieses Texts gesehen haben, war Arbeit und Struktur mit seiner am Buch orientierten Leserichtung und den fehlenden Kommentaren immer schon ein untypisches Blog. In gewisser Weise löst also die Überführung in ein Buch die Spannungen, die das Blog begleiten. Wenngleich Arbeit und Struktur auch als Blog die Kategorie der Gebrauchsgattung an vielen Stellen literarisch übertrifft, erlangt der Text doch vor allem im Buch den Status eines literarischen Werks: Das Buch macht Arbeit und Struktur als literarisches Artefakt sichtbar(er); so wird der Text beispielsweise erst als Buch im Feuilleton besprochen. Jenseits der pragmatischen Gründe für eine Buchveröffentlichung, möchte ich im Folgenden textimmanenten Signalen nachgehen, die Arbeit und Struktur als literarisches Werk inszenieren. Die Wahrnehmung dieser Signale ist eng mit der Buchförmigkeit des Texts verbunden. Ich verwende den Werk-Begriff dabei bewusst in seiner Doppelbedeutung als einzelner Text (Opus) und Gesamtheit von Texten (Œuvre), wird doch zunächst dem Einzeltext Arbeit und Struktur Werkstatus zugeschrieben und geht er schließlich in Herrndorfs Gesamtwerk ein. In einem ersten Schritt gilt es dazu den Werkbegriff als maßgeblich von zwei Aspekten bestimmt zu charakterisieren: Das Vorhandensein eines Autors als Schöpfer eines Werks, sowie die Abgeschlossenheit eines literarisch geformten Texts. Arbeit und Struktur erfüllt, wie in zwei Schritten zu zeigen sein wird, diese Kriterien: Zum einen manifestiert sich im Text ein Subjekt als literarischer Autor und Protagonist des Literaturbetriebs. Zum anderen sind Herrndorfs Schilderungen als literarische Texte immer schon unmittelbaren Funktionalitäten enthoben und erscheinen in der Gesamtschau als Erzählung mit ästhetischem Mehrwert.
Der Begriff des Werks ist, aller Problematisierung zum Trotz, eine Grundkategorie der Literaturwissenschaft und von »pragmatischer Relevanz«, wenn es darum geht, literarische Kommunikation und Handlungsmuster des literarischen Feldes zu analysieren. Die »Buchförmigkeit« ist entscheidend dafür, ob einem Text Werkcharakter zukommt, garantiert doch das Buch – auch als Ebook – die grundlegenden Eigenschaften eines Werks:
Im Kontext von Literatur und Literaturwissenschaft […] meint Werk das fertige und abgeschlossene Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so daß es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten.
Demnach wäre das Blog Arbeit und Struktur zumindest vor dem Tod Herrndorfs kein Werk, da es nicht abgeschlossen und damit auch nicht dem Zugriff des Autors entzogen wäre. Auch läge das Blog nicht in »fixierter, die Zeit überdauernder Form« vor, denn schließlich hätte Herrndorf es jederzeit aus dem Internet entfernen können. Als »Ergebnis literarischer Produktion« flicht die obige Definition ein ästhetisches Moment in den Werkbegriff quasi en passant ein. Ob es sich bei Arbeit und Struktur überhaupt um »literarische Produktion« handelt, ist zumindest unklar: Als autobiografischer Text ist er bestimmt von der Unentschiedenheit zwischen individuellem Zeugnis zum Selbstgebrauch und literarischem Kunstwerk. Je weiter Herrndorfs Projekt fortschreitet, desto deutlicher treten darin allerdings Spuren der Überformung und bewussten Gestaltung zu Tage, die Arbeit und Struktur auch als literarisches Artefakt erscheinen lassen. Die Buchpublikation von Arbeit und Struktur schließlich beglaubigt nicht nur die Abgeschlossenheit des Texts, sondern akzentuiert als »Gegenwartsliteratur« des Schriftstellers Herrndorf seinen Status als literarisches Werk.
Neben den genannten Eigenschaften des Texts kommt dem Autor eine wichtige Rolle in Bezug auf den Werkbegriff zu: Der abgeschlossene Text soll »einem Autor« zugehörig sein – eine Eigenschaft, die Herrndorfs Blog erfüllt, die andere Blogs aber dezidiert ablehnen. Die zentrale Position des Autors datiert, wie Steffen Martus ausführt, aus dem späten 18. Jahrhundert, wo »die Entwicklung des Urheberrechts […] juristisch die Bindung von Autor und Werk und damit die Vereinheitlichung des Werks über die Zurechnung auf einen ›Schöpfer‹ als Eigentümer« entstand. Das heutige Urheberrecht basiert noch immer auf einem starken Autor als Eigentümer eines Werks und bildet die Grundlage für das Geschäftsmodell der Verlagsbranche, wonach der Autor sein Werk an den Verlag veräußern kann, damit dieser es in Form einzelner Ausgaben verkauft. Werkhaftigkeit erscheint somit als Eigenschaft eines Textes, die einerseits im Text selbst begründet liegt und sich andererseits in der Rolle des Autors als Schöpfer und Eigentümer des Texts manifestiert. Ich möchte im Folgenden zeigen, wie der Text Arbeit und Struktur beiden Erfordernissen Rechnung trägt. Dazu gehe ich zuerst auf die Manifestation der Autorpersönlichkeit Wolfgang Herrndorf im Text ein. Im Anschluss setze ich mich mit textimmanenten Strategien auseinander, die Arbeit und Struktur als literarisches Werk erscheinen lassen.
Als autobiografischer Text ist die Lektüre von Arbeit und Struktur von der Annahme bestimmt, Ich-Erzähler und Autor seien identisch. Wolfgang Herrndorf ist also nicht nur Autor von Arbeit und Struktur, sondern auch Hauptfigur des Texts. Der Leser wird Zeuge einer extrem produktiven Phase dieser Autor-Figur: Die Entstehung der beiden Romane Tschick und Sand sowie des »unvollendete[n] Roman[s]« Bilder deiner großen Liebe erlebt der Leser des Blogs gleichsam live mit; die beiden erstgenannten Romane kann er von ihrer ersten Erwähnung im Blog bis hin zu ihrem Erscheinen als physische Bücher verfolgen. Seine Arbeit, das legt Arbeit und Struktur schon im Titel nahe, hat für Herrndorf oberste Priorität. Unermüdlich arbeitet er an seinen Romanen und stellt auch das Schreiben des Blogs trotz mehrfacher Überlegungen nicht ein. In Arbeit und Struktur schildert er sich als Autor, der alle anderen Belange seiner Arbeit unterordnet und mit Verweis auf die wenige, ihm noch verbleibende Zeit, die Kommunikation nicht nur mit den Bloglesern, sondern oftmals auch mit Bekannten und Freunden verweigert. »Ich arbeite in der Straßenbahn an den Ausdrucken, ich arbeite im Wartezimmer zur Strahlentherapie, ich arbeite die Minute, die ich in der Umkleidekabine stehen muß, mit dem Papier an der Wand.« (AuS 44), beschreibt Herrndorf seine Arbeitswut. Anstelle privater Erlebnisse und intimer Gedanken dominiert die Beschreibung der Arbeit in Herrndorfs Krankheitstagebuch. Arbeit und Struktur ist das Selbstporträt des Autors als Workaholic.
Herrndorf ist sich der Rückkopplungseffekte seiner Selbstaussagen aus Arbeit und Struktur auf die Wahrnehmung seiner Person und seiner Werke bewusst: »Was Status betrifft, ist Hirntumor natürlich der Mercedes unter den Krankheiten. Und das Glioblastom der Rolls-Royce. Mit Prostatakrebs oder einem Schnupfen hätte ich dieses Blog jedenfalls nie begonnen.« Sarkastisch registriert er, dass »die Schwere seiner Erkrankung« nicht nur »dem autobiographischen Projekt« Gewicht verleiht, sondern auch die Wahrnehmung seiner Person und seiner Romane verändert. Er versucht eine »diskret […] gezogene Grenze zwischen Blog und Marketing« (AuS 277) aufrechtzuerhalten und verwahrt sich dagegen, dass sein Verlag einen »Bloglink mit Psychiatrisierungseintrag als Werbemittel rumschickt.« (AuS 96)
Gleichzeitig hatte Herrndorf ja selbst entschieden, Arbeit und Struktur einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. Seine Haltung ist ambivalent, einerseits gibt er Informationen zu sich und seiner Arbeitsweise preis, andererseits ist es ihm unrecht, wenn Krankheitstagebuch und Romanwerk aufeinander bezogen werden. Es sind zwei Schriftstellerkollegen, Joachim Lottmann und Juli Zeh, die das Verhältnis von autobiografischem und literarischem Schreiben Herrndorfs öffentlich thematisieren: Im Juni 2013 fragt Juli Zeh auf Facebook: »Und was wäre, wenn sich herausstellte (Gedankenspiel, nicht Unterstellung!), dass Wolfgang Herrndorf gar nicht krank ist?« Bereits im Jahr zuvor attestiert der Borderline-Journalist Joachim Lottmann auf der Suche nach einem Nachfolger für den Koeppen-Preis Arbeit und Struktur fiktionalen Charakter:
Herrndorf hätte ich noch vor zwei Jahren blind ausgezeichnet, doch zwischendurch hatte der Mann drei Bestseller und sieben Literaturpreise mit einem sechsstelligen Gesamtwert aufgestellt. Der war satt. Und wieder gesund. Jahrelang hatte es geheißen, sein tragischer junger Tod stünde unmittelbar bevor.
Zeh wie Lottmann betätigen die »Drehtür« der Autobiografie, indem sie Herrndorfs Projekt im Kontext autofiktionaler Literatur verorten und seinen faktualen Charakter in Zweifel ziehen. Auch wenn sich angesichts der Schwere von Herrndorfs Krankheit derartige Spekulationen zynisch und unpassend ausnehmen, zeigen sie doch, wie eng der Autor Herrndorf durch Arbeit und Struktur mit seinem Werk verbunden ist. Seine durch das Krankheitstagebuch bekannte Geschichte bildet den Hintergrund für die Rezeption seines Werks, dessen Schöpfer und dessen Teil er als Figur des eigenen Texts auch ist.
Auch in der Auseinandersetzung mit Textgattungen und literarischen Traditionen manifestiert sich in Arbeit und Struktur eine Autorenpersönlichkeit. Um dies zu untermauern, komme ich noch einmal auf die in Teil 1 bereits thematisierten Listen (bzw. Dada-Gedichte) zurück. Tatsächlich entspricht jede Zeile einer Publikation zum Thema Krebs. Ans Ende jeder Liste setzt Herrndorf sein eigenes Projekt, dessen Titel sich in seiner Nüchternheit stark von der genannten Ratgeber- und Erfahrungsliteratur unterscheidet. Publikationen, die sich aus einer essayistisch-analytischen Perspektive mit Krebserkrankungen auseinandersetzen, spart Herrndorf aus. Vor dem Hintergrund der anderen Krebsbücher erscheint Herrndorfs Arbeit und Struktur einzigartig: Sein Projekt predigt nicht stereotyp Hoffnung und positive Einstellung, sondern ist der nüchterne Imperativ strikten Arbeitens bis zum Ende. Der Autor erscheint als starke Persönlichkeit, die sich mit dem eigenen Sterben schonungslos auseinandersetzt. Ein zweiter Typus Liste aus Arbeit und Struktur zielt hingegen nicht darauf ab, Herrndorf von anderen Autoren abzugrenzen, sondern ihn und sein Schaffen zu verorten: Herrndorf zählt darin Bücher auf, die ihn geprägt haben und die er vor seinem Tod unbedingt noch einmal lesen möchte. Es finden sich darin mit Storm, Brontë, Poe, Proust und Dostojewski die Großmeister des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts und mit Hamsun ein Vertreter seiner Weiterentwicklung unter modernen Vorzeichen. Mit Truman Capote und seinem New Journalism findet sich auch eine amerikanische Spielart realistischen Erzählens auf der Liste, Graf Luckner und Marga Berck lassen auf ein Faible fürs Humoristisch-Populäre schließen. Karen Duve schließlich ist die einzige Zeitgenossin. Die Liste ist nicht nur Lektüreprogramm, sondern gibt als Aufstellung derjenigen Bücher, die Herrndorf »in verschiedenen Phasen [s]eines Lebens aus unterschiedlichen Gründen am stärksten beeindruckt haben« (AuS 44), auch Aufschluss darüber, an welche Ästhetiken und Entwürfe von Autorschaft Herrndorf für sein eigenen Schreiben anknüpft. Herrndorf verortet sich in der Genealogie der »Klassiker« und geriert sich als Autor in der Tradition des realistischen Romans seit dem 19. Jahrhundert. Stendhal, Nabokov und Salinger stehen nur deshalb nicht auf der Liste, weil Herrndorf diese »in den letzten ein, zwei Jahren schon erledigt ha[t]« (AuS 45). Stendhals berühmten Ausspruch, sich stilistisch am napoleonischen Code civil orientiert zu haben, übernimmt Herrndorf für Arbeit und Struktur und verknüpft damit sein Schreiben einmal mehr mit der literarischen Tradition des Realismus. Die auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Beispiele zeigen, wie Herrndorf sich als Autor-Figur in seinem Text inszeniert, sich selbst im Kreis kanonischer Autoren verortet und so eine Wahrnehmung seiner Selbst als renommierte Autorenpersönlichkeit vorbereitet.
Eine weitere Voraussetzung für den Werkstatus ist die Abgeschlossenheit einer Erzählung. Als Blog fehlt Arbeit und Struktur diese Abgeschlossenheit, wächst der Text doch beständig weiter, solange Herrndorf lebt. Erst sein Tod würde Arbeit und Struktur beenden und damit die Publikation des Texts als Buch ermöglichen. Herrndorf hatte früh angekündigt, sich das Leben zu nehmen, wenn seine Erkrankung ein selbstbestimmtes Leben unmöglich machen würde. Er erwähnt seine Pläne für ein Buch Arbeit und Struktur erst kurz vor seinem Tod zum ersten Mal im Blog. Der Autor plant sein Ende und damit auch das Ende seiner und der von ihm erzählten Geschichte. Ich möchte im Folgenden dem dramaturgischen Gestaltungswillen nachgehen, mit dem Herrndorf die eigene Geschichte zunehmend geformt hat. Die Überführung des nahezu live verfassten Blogtexts in ein Buch akzentuiert Tendenzen in Arbeit und Struktur, die den Text als runde Erzählung erscheinen lassen, die jenseits der Existenz des Erzählerkörpers fortbesteht.
Bezugnehmend auf die autobiografisch-literarischen Projekte Jean-Jacques Rousseaus und Karl Philipp Moritz’ beschreibt Herrndorf die Poetik von Arbeit und Struktur wie folgt:
Ich erfinde nichts, ist alles, was ich sagen kann. Ich sammle, ich ordne, ich lasse aus. Oft erst im Nachhinein im Überschwang spontaner Selbstdramatisierung erkennbar falsch und ungenau Beschriebenes wird neu beschrieben, Adjektive getauscht, neu Erinnertes ergänzt. Aber nichts erfunden. Das Gefasel von der Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses und der Unzulänglichkeit der Sprache spar ich mir, allein der berufsbedingt ununterdrückbare Impuls, dem Leben wie einem Roman zu Leibe zu rücken, die sich im Akt des Schreibens immer wieder einstellende, das Weiterleben enorm erleichternde, falsche und nur im Text richtige Vorstellung, die Fäden in der Hand zu halten und das seit langem bekannte und im Kopf ständig schon vor- und ausformulierte Ende selbst bestimmen und den tragischen Helden mit wohlgesetzten, naturnotwendigen, fröhlichen Worten in den Abgrund stürzen zu dürfen wie gewohnt – (AuS 292)
Herrndorf bezeugt darin seinen Anspruch, nichts zu erfinden, ist sich aber zugleich der Konstruiertheit jedes autobiografischen Texts bewusst. Er reflektiert, dass er als Autor fiktionaler Texte einen spezifischen Zugriff auf seine Geschichte hat und beschreibt die Arbeit mit seinem Material: Er sammelt, ordnet, lässt aus, als arbeite er an einem Roman. »Berufsbedingt« erkennt er das narrative Potential seiner Geschichte: Einem erfolglosen, mühsam vor sich hin arbeitenden Autor wird ein Hirntumor diagnostiziert. Er beginnt wie besessen zu schreiben. Seine Bücher werden Bestseller, der Autor zum »six figure author« (AuS 199). Jedoch kann er seinem Erfolg nichts abgewinnen, weil er bald sterben wird. Es ist die Geschichte eines, wie Herrndorf schreibt, »tragischen Helden«, der gegen alle Widrigkeiten seinen Weg gegangen ist und dafür belohnt wird. Sein Erfolg ist allerdings immer schon von der tödlichen Krankheit bedroht. Vor dem Hintergrund der Krankheit verlieren Geld und Ruhm ihre Bedeutung, das soziale Umfeld und die Freude an den kleinen Dingen hingegen halten den Helden aufrecht bis zu seinem Ende, dem er sich tapfer stellt.
Als Autor rückt Wolfgang Herrndorf in Arbeit und Struktur »dem Leben wie einem Roman zu Leibe« und formt die eigene Geschichte wie die einer Figur in seinen Romanen. Seiner Machtlosigkeit gegenüber der Erkrankung begegnet er, indem er das Ende seiner Lebensgeschichte selbst bestimmt: »Was ich brauche, ist eine Exitstrategie.« (AuS 50), schreibt er bereits kurze Zeit nach der Diagnose. Die »Gewißheit, es selbst in der Hand zu haben«, ist für ihn »von Anfang an notwendiger Bestandteil [s]einer Psychohygiene.« (AuS 50) Das »im Kopf ständig schon vor- und ausformulierte« Ende seiner Geschichte ist damit klar. Herrndorf bestimmt es als autonomer Autor und widersetzt sich damit der »strukturellen Offenheit zum Ende hin«, die jeder autobiografischen Erzählung aus der Unmöglichkeit heraus eignet, den eigenen Tod zu schildern. Als Autor der Geschichte, deren Hauptfigur er zugleich ist, entwirft Herrndorf ihren Ausgang. Der Tod widerfährt dem Subjekt Herrndorf nicht, sondern ist der Endpunkt einer durch den Autor Herrndorf geschriebenen Geschichte, die das Subjekt bloß in die Tat umsetzt.
Am 27. August 2013 twittert Kathrin Passig: »Wolfgang Herrndorf starb nicht an Krebs. Er hat sich gestern in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.« Sie gibt damit bekannt, dass das Ende, das Herrndorf entworfen hatte, Wirklichkeit geworden ist, und besiegelt das Projekt Arbeit und Struktur. Im Blog wird unter dem Titel »Schluss« ein Passigs Tweet ähnelnder Satz veröffentlicht. Das letzte Kapitel des Blogs ist damit geschrieben, es erscheinen keine neuen Einträge mehr und bis auf die Anpassungen des Impressums werden keine Änderungen am Text mehr vorgenommen. Mit dem Tod des Autors 42 Monate nach der Krebsdiagnose kommt seine Lebenserzählung im 42. Kapitel zum Ende. Es ist, dafür hatte Herrndorf in seiner dramaturgischen Bearbeitung des eigenen Lebens gesorgt, kein offenes, abruptes Ende, sondern das Beschließen einer auserzählten Geschichte. Diese abgeschlossene Geschichte findet ihre mediale Entsprechung im Buch: Das Zusammenfallen von Erleben, Schreiben und Lesen, das prägend für das unabgeschlossene Blog war, ist aufgekündigt, Lebenszeit und erzählte Zeit sind nicht mehr deckungsgleich. Der Leser muss nun nicht mehr auf neue Nachrichten aus dem Leben Herrndorfs warten, sondern kann dessen Erzählung von vorne bis hinten durchlesen und zu einer anderen Lektüre übergehen. Das Buch bekräftigt die Abgeschlossenheit von Arbeit und Struktur, die mit Herrndorfs Tod auch dem Blog eignet. Anders als das stillgestellte Blog aber, begünstigt das Buch eine Lektüre »am Stück«, durch die sich, wie schon erwähnt, die »literarische Qualität« von Arbeit und Struktur »womöglich […] viel besser erkennen lässt als auf einem Bildschirm.«
Das Buch Arbeit und Struktur ist ein Text, der sich von der Existenz des Autors Herrndorf gelöst hat und unabhängig von ihm als überzeitliche Krankheitsnarration besteht. Die alltägliche Selbstpraxis und Echtzeit-Produktion im Blog hat sich zum autobiografischen literarischen Werk transformiert. Damit soll nicht gesagt sein, eine Lesart von Arbeit und Struktur als digitalem Gebrauchstext im Blog sei nun nicht mehr möglich, wohl aber, dass eine Rezeption des Texts als literarisches Werk in Buchform nun eindeutig dominiert. Herrndorf hinterlässt in diesem Sinne kein autobiografisches Journal, aus dem Unbekanntes zu Tage zu fördern wäre, sondern autobiografische Aufzeichnungen, die er durch dezidiert literarische Techniken des Erzählens selbst bereits zum Teil seines Werks hat werden lassen. Sämtliche andere Aufzeichnungen wie »31 Jahre Briefe, 28 Jahre Tagebücher«, und sogar Bücher, in die er sich Notizen gemacht hatte, hatte er schon beizeiten unwiederbringlich zerstört (AuS 232). Auch Texte und Zeichnungen, von deren Güte er nicht überzeugt war, hatte Herrndorf vernichtet. Was von ihm bleibt, so könnte man Herrndorfs Nachlasspolitik zusammenfassen, ist nichts als seine Kunst.
Sigle:
AuS = Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin 2013.
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USER 2 (anonymisiert): »Re: Lesenswert: Blog eines GBM-Patienten«. In: Hirntumor Diskussionsforum am 20. November 2012, 01:28:25. (Quelle liegt der Verfasserin vor.)
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Abbildungsverzeichnis
Startseite des Blogs Arbeit und Struktur. http://www.wolfgang-herrndorf.de/. Eigener Screenshot
vom 30. August 2016.
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