Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 47 (2006): Gesundheit
Vorwort
Die Auseinandersetzung um Fragen der Gesundheitspolitik hat sich in den letzten Jahren verschärft. Häufig ist diese Auseinandersetzung und sind vor allem gesundheitspolitische Entscheidungen von politischem Pragmatismus geprägt. Fragen der Gesundheitspolitik liegen aber wichtige sozialethische und ökonomische Fragen zu Grunde: Welchen Umfang und welche Qualität soll die allgemeine Gesundheitsversorgung haben? Welche Art der Finanzierung ist – in sozialethischer und in ökonomischer Hinsicht – die vorzugswürdige Alternative? Wie reagieren wir auf sinkende Einnahmen einerseits und steigende Ausgaben andererseits? Der 47. Band des Jahrbuchs für Christliche Sozialwissenschaften stellt sich den gegenwärtigen ethischen, ökonomischen und politischen Fragestellungen der Debatte um die Gesundheitsversorgung auf mehreren Ebenen. Dazu ist der Band in vier Teile gegliedert: Drei Zugängen zum Thema (einer philosophischen, einer theologischen und einer sozialwissenschaftlichen Zugangsweise) im ersten Teil folgen im zweiten Teil drei Perspektiven der normativen Begründung einer allgemeinen Gesundheitsversorgung (eine theologisch-ethische, eine neoaristotelische und eine annerkennungsethische Begründungsperspektive). Für den dritten Teil wurden aus dem weiten Spektrum der gesundheitsethischen Debatte drei Aspekte ausgewählt (die Frage der Vereinbarkeit von Patienten- und Kostenorientierung, das Problem der sozialethischen Relevanz der versicherungsförmigen Organisation der Finanzierung der Gesundheitsversorgung sowie die Frage, ob eine allgemeine Basisabsicherung hinreicht oder ob es eine umfassende Gesundheitsversorgung beibehalten werden sollte). Im vierten Teil werden die beiden gegenwärtig offenkundig zentralen Kontroversen (die Rationierungskontroverse auf der Ausgabenseite und die Finanzierungskontroverse auf der Einnahmenseite) in jeweils zwei Beiträgen diskutiert. Berichte vom Berliner Werkstattgespräch der Sozialethikerinnen und Sozialethiker (2005) und vom Forum Sozialethik in der Kommende Dortmund (2005) sowie die Mitteilungen aus der deutschsprachigen katholischen Sozialethik über aktuelle wissenschaftliche Arbeiten schließen den Band ab. Für den ersten Teil wurden Zugänge ausgewählt, die die wichtigsten Bezugswissenschaften christlicher Sozialethik repräsentieren: Philosophie, Theologie, Sozialwissenschaften. Dirk Lanzeraths philosophischer Zugang zum Thema führt die Bedeutung der Grundkategorien Gesundheit und Krankheit für die menschliche Existenz vor Augen. Sie bestimmen wesentlich unser Selbstverhältnis einerseits und unsere Position in der Gesellschaft andererseits. Jeder Mensch kann Phänomene gesundheitlicher Art nur in der Weise wahrnehmen, wie es seinen individuellen Wahrnehmungs- und Erkenntnisvoraussetzungen entspricht. Weil er sich selbst und damit auch seine Krankheit jedoch immer im Kontext eines konkreten historischen, sozialen und kulturellen Umfelds erlebt – also immer auch insofern und in der Weise krank ist, wie es dem konstruierten Krankheitsverständnis entspricht –, müssen die Begriffe von Gesundheit und Krankheit als relationale Begriffe im jeweiligen soziokulturellen Gefüge bestimmt werden. Auch etwa Probleme der Diskriminierung und Eugenik auf der einen Seite sowie die Art und Weise, wie sich die Gesellschaft in solidarischer oder auch fürsorglicher Weise gegenüber ihren kranken Mitgliedern verhält, auf der anderen Seite, bestimmen insofern, was es bedeutet, krank zu sein. Insbesondere die Medizin als gesellschaftliches Subsystem und dessen fundamentaler Strukturwandel in modernen Gesellschaften bestimmen unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit – bis hin zu fragwürdigen Entwicklungen wie einer ‚Medikalisierung der Lebenswelt‘ und der Ausweitung des ärztlichen Handelns von der Heilung auf die ‚Verbesserung der menschlichen Natur‘. Lanzerath bewertet einige der gegenwärtigen Entwicklungen vor dem Hintergrund eines drohenden Verlusts einer klaren Zielbestimmung medizinischer Praxis und Forschung außerordentlich kritisch und warnt vor den Folgen des Wandels der Medizin zu einer zieloffenen ‚Anthropotechnik‘; dieser Wandel könnte die Legitimation ärztlichen Handelns und medizinischer Forschung und Entwicklung einerseits und das Vertrauen im Arzt-Patienten-Verhältnis andererseits empfindlich bedrohen. Ulrike Kostkas Beitrag bietet einen Überblick über das sehr weite Interpretationsspektrum von Gesundheit und Krankheit im Alten und Neuen Testament, in Teilen der theologischen Tradition, in der kirchlichen Lehrverkündigung des vergangenen Jahrhunderts und in der Theologie der Gegenwart. Eine lineare Entwicklung der biblischen bzw. theologischen Deutungen kann ebensowenig festgestellt werden wie eine wenigstens tendentielle Einheitlichkeit dieser Deutungen. Überdies erscheint insbesondere die biblische Behandlung des Phänomens der Krankheit außerordentlich zeitbedingt. In der Lehrverkündigung Papst Pius’ XII. und des Zweiten Vatikanums rückt dann der Gedanke einer allgemeinen und individuellen Menschenwürde in den Mittelpunkt auch der Äußerungen zu Fragen von Gesundheit und Krankheit. Den kritischen Maßstab für aktuelle theologische Interpretationen sieht Kostka dennoch im biblischen Verständnis von Gesundheit und Krankheit, wobei sie einzelne Motive besonders hervorhebt, beispielsweise die körperliche und kultisch-religiöse Aspekte umfassende Deutung von Krankheiten in den Heilungstexten. Auf der Grundlage dieser Bibelrezeption kann Kostka schließlich die Idee einer ‚therapeutischen Kompetenz der Theologie‘ und sogar einer ‚therapeutischen Theologie‘ entwickeln. Einen sozialwissenschaftlichen Zugang zu den ökonomischen und ethischen Problemen um die Gesundheitsversorgung und deren Finanzierung bietet Rainer Müller. Seine systematischen und empirischen Erörterungen können als Einführung in die gesundheitpolitische Debatten- und Faktenlage gelesen werden. Die Entwicklungen auf der Einnahmen- und auf der Ausgabenseite stellen sich dabei zum Teil weit weniger dramatisch dar als es manche politisch motivierte Formulierungen (‚demographischer Kollaps‘, ‚Kostenexplosion‘) suggerieren. So erscheint eine Steigerung des Anteils der Gesundheitsausgaben von 8,4% am BIP (1977) auf 10,9% (2002) im Vergleich zu den meisten anderen Industrieländern maßvoll. Damit soll auf keinen Fall das zweifellos bestehende Finanzierungsproblem geleugnet und ein auch auf der Ausgabenseite vorhandener politischer Handlungsdruck bestritten werden. Aber eine differenzierte Betrachtungsweise kann im Gegensatz zu strategisch motivierten Dramatisierungen Perspektiven auf politische und soziale Gestaltungsspielräume eröffnen: Welche gesundheitspolitischen Entscheidungen wir treffen (können), ist eben nicht vollständig durch ökonomische Sachzwänge determiniert, sondern auch abhängig von den normativen Auffassungen und Positionen, die in öffentlichen Diskursen ins Spiel gebracht werden und sich im demokratischen Prozess durchzusetzen vermögen. Genau in diesem Sinne sind auch die drei im zweiten Teil des Bandes versammelten Begründungsperspektiven zu verstehen. Während in den meisten anderen Publikationen ein deutlicher Schwerpunkt auf im liberalen Spektrum angesiedelten Positionen liegt, handelt es sich im vorliegenden Band um drei Ansätze, die bestimmte liberale Grundsätze zwar selbstverständlich aufnehmen, diese aber um (im ersten Fall) theologische bzw. (in den beiden anderen Fällen) philosophisch-anthropologische Annahmen ergänzen, um auf diese Weise normative Gehalte in die Argumentationen einzubauen, die es erlauben, bestimmte Aporien liberaler Ansätze im Hinblick auf die Begründung sozialpolitischer Leistungen zu vermeiden. Markus Zimmermann-Acklin wählt einen dezidiert theologischen Begründungsweg, ordnet diesen aber in das Spektrum philosophischer und theologischer Begründungsdiskurse so ein, dass er durchaus in ‚Nachbarschaft‘ zu bestimmten philosophischen Konzepten steht – ein theologisches Proprium möchte der Autor aber ganz ausdrücklich erhalten. Dass dieses theologische Proprium in vielen ethischen Ansätzen fehlt, die im Rahmen der christlichen bzw. katholischen Theologie und Sozialethik entwickelt werden, führt Zimmermann-Acklin erstens auf eine große kontextuelle Kluft zwischen theologischen Aussagen und aktuellen Fragen der politischen Gestaltung, zweitens auf den für die neuzeitliche Medizin signifikanten Prozess der Emanzipation von der Religion und und drittens auf das Bestreben der Grundkonzeptionen von katholischer Soziallehre und autonomer Moral, eine christliche Ethik auch unabhängig von direkt und explizit religiösen und theologischen Bezügen zu plausibilisieren, zurück. Im Sinne einer ‚Genealogie der Moral‘ möchte Zimmermann-Acklin genuin theologische Elemente ins Spiel bringen, die den christlichen Kulturkreis bis heute prägen, und zwar auch noch dessen grundlegende und dem Selbstverständnis nach säkularen Institutionen, wie etwa das Menschenrechtsethos. Als solche Elemente nennt er die Heiligkeit der menschlichen Person, den Aspekt der Relationalität des Menschen und die damit zusammenhängende Idee der Solidarität, die christliche Heilszusage sowie eine diakonische Ekklesiologie. Auf der Basis dieses theologischen Begründungsverfahrens schließt Zimmermann-Acklin auf der Anwendungsebene an die gegenwärtige gesundheitsethische Diskussion an und überwindet insofern die eingangs konstatierte kontextuelle Kluft zwischen Theologie und aktuellen Problemen der Sozialstaatsgestaltung. Ein philosophisches Begründungsverfahren schlägt Katja Winkler vor und bestreitet von vornherein die Möglichkeit der Neutralität politisch-philosophischer Ansätze hinsichtlich der zu Grunde gelegten Annahmen über den Menschen. Die Richtigkeit dieser Behauptung, dass jede politische Philosophie letztlich eine gewisse Vorstellung über die menschliche Existenz impliziert, vorausgesetzt, unterscheiden sich die Konzeptionen nicht mehr dadurch, dass sie ein Menschenbild zu Grunde legen, sondern nur noch darin, welches Menschenbild sie wählen und welche Plausibiltät sie dafür reklamieren können. Winkler unterscheidet im Anschluss an Martha C. Nussbaums neoaristotelischen Capabilities-approach bestimmte unbeliebige Aspekte der menschlichen Lebensform (Sterblichkeit, Körperlichkeit und Schmerzempfinden, Sozialität, Individualität etc.) und entsprechende Grundfähigkeiten (für die vorliegende Fragestellung relevant ist beispielsweise die Fahigkeit, sich angemessen zu ernähren) und daraus resultierende Aufgaben des Staates, die unbedingt und für alle erfüllt werden müssen. Sowohl mit dem Rekurs auf unbeliebige Bedingungen des Menschseins als auch mit dem normativ-verpflichtenden Charakter der Grundfähigkeiten für die staatliche Politik kommen zweifellos Motive des klassischen Naturrechts ins Spiel. Winkler problematisiert diese Bezüge – auch vor dem Hintergrund der neuscholastischen Naturrechtsinterpretation – ausdrücklich, meint jedoch, die Einwände hinreichend entkräften zu können, um schließlich eine umfassende allgemeine öffentliche Gesundheitsversorgung im Rahmen eines ‚systematischen Dreischritts‘ zu legitimieren: Aus bestimmten Aspekten der Körperlichkeit resultiert die Grundfähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen (mithin, wie Winkler meint, ein Recht auf Gesundheit), und daraus die politische Aufgabe der Bereitstellung eines Gesundheitssystems. Ein ähnliches Anliegen verfolgt Christian Spieß mit einem annerkennungstheoretischen Begründungsverfahren. Ausgehend von einer Kritik der Gesundheitsethik des politischen Liberalismus John Rawls’, die – nach eigener Aussage – allenfalls eine Basisversorgung mit gesundheitsrelevanten Gütern zur Wiederherstellung der vollen Funktionsfähigkeit der Bürger zu legitimieren vermag, vetritt er wie Winkler die Auffassung, dass zur Begründung umfassender sozialstaatlicher Institutionen – also auch einer umfassenden Gesundheitsversorgung für aller Einwohnerinnen und Einwohner eines Staatsgebiets – normative Überlegungen notwendig sind, die über liberale Konzeptionen hinausreichen, und dass es sich dabei um anthropologische Überlegungen handeln muss. Spieß beschränkt sich jedoch auf die Annahme, dass Menschen einander stets mit bestimmten Erwartungen gegenseitiger Anerkennung begegnen, dass die Missachtung dieser Anerkennungserwartungen moralische Relevanz hat, und dass deshalb gesellschaftlich und politisch institutionalisierte Formen der Missachtung von Anerkennungserwartungen soziales Unrecht darstellen. Zur Präzisierung seiner Überlegungen stützt sich Spieß auf die Anerkennungstheorie Hegels, zur Plausibilisierung seiner Thesen auf die psychoanalytische Erforschung frühkindlichen Imitationsverhaltens. In den Mittelpunkt der Überlegungen werden dauerhaft von Gesundheitsversorgung abhängige Menschen (also chronisch Kranke) gestellt, deren Erwartung, in ihrer spezifischen Lebensform durch die Versorgung mit gesundheitsrelevanten Gütern sozial anerkannt zu werden, im Rahmen einer Anerkennungsethik als berechtigt gelten kann. Auf diese Weise kann eine umfassende Gesundheitsversorgung auch jener kranken Menschen normativ begründet werden, die der Gesellschaft wenig nützlich, ihr vielmehr eine erhebliche Belastung sind. Die im dritten thematischen Teil erörterten Einzelaspekte gehören zu den gegenwärtig am heftigsten diskutierten gesundheitsethischen und gesundheitsökonomischen Fragestellungen. Weyma Lübbe diskutiert, ausgehend von der eigenartigen Verschränkung von Kostenorientierung und Patientenorientierung im ärztlichen Handeln, systematische Aspekte der Kostenreduktion und des Umgangs mit knappen Ressourcen. Lübbe problematisiert die in ethischer Hinsicht ausgesprochen fragwürdige Unterscheidung von Rationalisierung und Rationierung, zumindest soweit diese Unterscheidung mit der evaluativen Unterstellung verbunden ist, Rationalisierungsmaßnahmen seien ethisch unbedenklich und wünschenswert, während Rationierungsmaßnahmen nach Möglichkeit zu vermeiden seien. Vielmehr sind mit Entscheidungen über eine effiziente Allokation von Ressourcen stets sehr grundsätzliche ethische Entscheidungen verbunden – auch dort, wo diese ethischen Implikationen nicht so offensichtlich sind. Es handelt sich um Entscheidungen im Spannungsfeld zwischen Effizienz und Gleichheit und damit über das Prinzip der gleichen Achtung vor jedem Menschenleben. Insbesondere die verschiedenen Versionen der Maximierungsregel – die letztlich auf die quantitative Bewertung von Menschenleben oder von so genannnten qualitätsbereinigten Lebensjahren (oder auch behinderungsbereinigten Lebensjahren oder ähnlichem) hinausläuft – kritisiert Lübbe, weil sie den Wert von Menschenleben nicht anders als den Wert von Holzfiguren berechnen. Die Maximierungsregel betrachtet Lübbe in Bezug auf die Triage beim Massenanfall Verwundeter zwar als legitim, weil sie das Ergebnis einer ex ante-Vereinbarung sein könnte, denn keiner der Vertragspartner kennt seine Lage im Katastrophenfall und maximiert deshalb seine Überlebenschancen, wenn er der Maximierungsregel für diesen Fall zustimmt. Gerade dies gilt aber nach Auffassung der Autorin nicht für Rationierungsentscheidungen in Bezug auf die Alltagsmedizin, weshalb ihr hier die Maximierungsregel unter ethischen Gesichtspunkten nach Maßgabe des Gleichheitsprinzips unangemessen erscheint. Das solidarische Ethos der Krankenversicherung erläutert und differenziert Thomas Bohrmann. Die dem Beitrag zu Grunde liegende Frage ist, welche sozialethische Relevenz die Organisation der Finanzierung der öffentlichen Gesundheitsversorgung als Versicherung (näherhin als gesetzliche Sozialversicherung) hat, etwa im Vergleich zu einer reinen Steuerfinanzierung oder im Vergleich zu einer privaten Absicherung. Dazu erläutert Bohrmann zunächst die Genese des deutschen Sozialversicherungssystems und seiner motivationalen Grundlagen. Von maßgeblicher Bedeutung für die sozialethische Bewertung des Sozialversicherungsprinzips und des mit ihm verbundenen Solidarausgleichs ist zweifellos das Solidaritätsprinzip, wie es in der katholischen Soziallehre entwickelt und ausdifferenziert wurde und wie es die katholischen Sozialethik bis heute prägt. Zur Präzisierung stellt der Autor die private der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber und arbeitet die in sozialethischer und solidaritätstheoretischer Hinsicht relevanten Unterschiede heraus – den entscheidenden Unterschied sieht er im sozialen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Einkommen und unterschiedlichen Risiken, wie ihn die GKV leistet, die PKV dagegen nicht leistet. Getragen vom Ethos der Solidarität ist das System der Sozialversicherung den sozialpolitischen Zielen des sozialen Ausgleichs und der sozialen Sicherheit verpflichtet. In dieser Hinsicht muss die GKV wie das Gesundheitswesen insgesamt gesetzlich abgesichert und solide institutionalisiert sein. Das solidarische Ethos der Sozialversicherung gebietet die Aufrechterhaltung dieser Zuverlässigkeit auch über die Zeit einer schwierigen Finanzierungslage hinweg. Der – durchaus auch aus prinzipiellen Gründen berechtigten – Forderung nach der Übernahme eigener Verantwortung muss deshalb immer schon die Gewährleistung und Garantie solidarischer Hilfe vorausgegangen sein. Bohrmann insistiert, dass diese systematische Verschränkung von Solidarität und Subsidiarität konstitutiv für eine in der Tradition der katholischen Sozialethik stehende normative Auseinandersetzung mit Fragen der Gesundheitsversorgung und ihrer Finanzierung ist. Monika Bobbert diskutiert die Frage, ob eine öffentliche Gesundheitsversorgung den Charakter einer umfassenden Absicherung gegen gesundheitliche Risiken haben soll oder ob sie sich auf eine – wie immer näherhin definierte – geringfügige Basisabsicherung beschränken sollte, die von den einzelnen Versicherten durch freiwillige private Zusatzversicherungen zu ergänzen sind. Bobbert rekurriert zur Grundlegung ihres ‚rechtebasierten ethischen Ansatzes‘ auf die Moralphilosophie des US-amerikanischen Ethikers Alan Gewirth, in deren Zentrum der Handlungsbegriff bzw. der Begriff der Handlungsfähigkeit steht. Die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit gehört demnach zu den grundlegenden Rechten, die allen Menschen zukommen und die auch durch die staatliche Politik garantiert werden müssen. Da Gesundheit wiederum zu den Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit gehört, muss eine umfassende öffentliche Gesundheitsversorgung bereitgestellt werden. Zur Spezifizierung dieser Gesundheitsversorgung geht Bobbert schließlich auf einige Anwendungsfragen ein (Priorisierungsentscheidungen, Selbstbestimmungsrecht der Patienten etc.). Im vierten Teil des Bandes werden in jeweils zwei Beiträgen zwei Kontroversen mit ethischen, ökonomischen und politischen Implikationen ausgetragen. Zunächst geht es auf der Ausgabenseite um Fragen der Rationierung, beispielsweise unter dem Kriterium des Lebensalters von Patienten. Peter Dabrock weist auf die öffentlichen Irritationen hin, die einschlägige Forderungen jeweils hervorrufen. Er selbst geht für seinen Diskussionsbeitrag vom biblischen Elterngebot aus; allein die Existenz dieses Gebots dürfte auf Probleme im Umgang mit älteren Gesellschaftsmitgliedern bereits in jenen gesellschaftlichen Kontexten hindeuten, in denen die entsprechenden biblischen Texte entstanden sind. Ein solches Problem stellt in gewisser Weise auch die die demographische Entwicklung dar, von der wir uns gegenwärtig herausgefordert sehen, und die damit einhergehende Forderung nach Therapieverzicht für ältere Versicherte. Dabrock erörtert eine Reihe ethischer Positionen und deren Auffassungen hinsichtlich der Altersrationierung. Diese Ansätze werden aber durchgängig kritisch bewertet. Stattdessen wird – vor dem Hintergrund der Ausführungen zum Elterngebot – ein ‚Generationen integrierender und differenzierender‘ Grundsatz der Befähigungsgerechtigkeit als Kriterium für die Verteilung knapper Mittel im Gesundheitswesen vorgeschlagen. Zurückgewiesen wird damit jedenfalls das Alter als vorrangiges und entscheidenden Rationierungskriterium, während der Aspekt der Altersangemessenheit durchaus ins Rationierungskalkül einbezogen werden darf. Von einem zunehmenden Rationierungszwang geht Joachim Wiemeyer aus. Wenn die zur Verfügung stehenden Ressourcen knapp sind, die Ausgaben dagegen steigen, muss sich auch eine christliche Sozialethik redlicherweise der Rationierungsproblematik stellen. Zunächst muss sie dazu zwischen verschiedenen Rationierungsformen – primärer und sekundärer, harter und weicher, expliziter und impliziter Rationierung – präzis unterscheiden. Dann muss sie sich ihrer eigenen normativen Begründungstrategie vergewissern, wobei Wiemeyer den liberalen Kontraktualismus John Rawls’ vorschlägt. Maßgeblich für die Bestimmung des Umfangs und des Niveaus der solidarischen Absicherung bei Krankheit im Rahmen einer christlichen Sozialethik sind demnach die zu erwartenden Entscheidungen eigennutzorientierter Individuen ohne gegenseitiges Interesse unter dem Schleier des Nichtwissens. Folgende Fragen sind auf diese Weise zu klären: Was gilt als Krankheit? Sollen alle angebotenen Behandlungsmethoden finanziert werden? Welches Qualitätsniveau soll kollektiv finanziert werden? Gilt eine Zahlungsverpflichtung der Versicherung auch für selbstverschuldete Krankheiten und zusätzlich verursachte Kosten? Grundsätzlich konkurrieren Aufwendungen für die Gesundheitsversorgung mit allen anderen öffentlichen Ausgaben, indirekt auch dann, wenn es sich um ein beitragsfinanziertes System handelt. In dieser Hinsicht müssen Rationierungsentscheidungen getroffen werden und durch eine denkbare Vereinbarung unter Schleier des Nichtwissens sind sie nach Auffassung des Autors auch ethisch legitimierbar. Allerdings enthält dieser Rekurs auf die Vertragstheorie auch die ethische Verpflichtung, alle möglicherweise Betroffenen direkt oder indirekt in die Entscheidungsverfahren über Umfang und Niveau der Gesundheitsversorgung bzw. über Rationierungsmaßnahmen einzubinden. Neben einer diskursiven Öffentlichkeit und parlamentarischen Verfahren sowie einer direkteren Beteiligung der Versicherten, nennt Wiemeyer vor allem die Möglichkeit der Einrichtung eines nationalen Gesundheitsrats, in den nach dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichts hochqualifizierte Mitglieder für lange Amtszeiten ohne Wiederwahlmöglichkeit gewählt werden könnten; dieser Gesundheitsrat, der mit Entscheidungskompetenz ausgestattet sein müsste und durch die öffentliche und wissenschaftliche Kritik demokratisch kontrolliert würde, könnte in gemessenem Abstand zu den politischen Alltagsauseinandersetzungen wohlüberlegte Entscheidungen treffen, die, eine entsprechende Akzeptanz des Gremiums vorausgesetzt, in der Bevölkerung möglicherweise besser aufgenommen würden als politische Entscheidungen einer Regierung gegen die jeweilige Opposition. Die zweite Kontroverse – jene um die Form der solidarischen Finanzierung der Gesundheitsversorgung – wird ebenfalls in zwei Beiträgen geführt. Andreas Gerber, Karl Lauterbach u.a. haben an ihrem Kölner Institut eine einflussreiche Variante der Bürgerversicherung entwickelt. In ihrem Beitrag erläutern Sie nun über eine ökonomische Begründung hinaus, warum sie auch auf Grund genuin ethischer Überlegungen für diese Finanzierungsform plädieren. In ihrer ‚ethischen Verortung‘ der Bürgerversicherung spannen sie einen weiten Bogen von der Aleritätsethik Emmanuel Levinas’ über evangelisch-theologische Grundpositionen bis hin zu John Rawls’ Differenzprinzip. Während sie ihre normativen Grundlagen im Solidaritätsbegriff als ‚Zuspruch und Anspruch des Anderen‘ bestimmen, bringen sie die ‚Gerechtigkeit als Fairness‘ auf der Anwendungsebene als ‚Ausführungsbestimmung‘ ins Spiel. In ihren ökonomischen Überlegungen stellen die Autoren vor allem die Zielgenauigkeit der Verteilungswirkungen eines sozialen Ausgleichs über Steuern, wie er in Kopfpauschalenmodellen vorgeschlagen wird, in Frage sowie die unterstellten positiven Beschäftigungseffekte einer Finanzierung über Kopfpauschalen. Ihren eigenen wirtschaftswissenschaftlichen Denkansatz bestimmen Gerber/Lauterbach unter Einbeziehung der Konzeption des Extra-welfarism Amartya Sens, die sie der neoklassischen Perspektive gegenüberstellen und zugleich noch einmal modifizieren. Bei allen Differenzen – formaler und inhaltlicher Art – zwischen den beiden Beiträgen zur Finanzierungsfrage, verbindet beide doch eine grundsätzliche Orientierung an sozialethischen Maßstäben wie Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und einem effizienten Umgang mit den zur Verfügung stehenden Gütern zum Wohle aller. Eben diese Kriterien legt Aloys Prinz seinen Überlegungen zu den Finanzierungsalternativen der GKV zu Grunde. Das Kriterium der Effizienz differenziert er weiter aus in makroökonomische, Produktions- und Konsumeffizienz, das Fairness-Kriterium in horizontale, vertikale und intergenerationale Fairness sowie das Nachhaltigkeitskriterium in langfristige Finanzierbarkeit und langfristige Verlässlichkeit. Diesem differenzierten Beurteilungsinstrumentarium unterzieht er die Status quo-Finanzierung, (in einem Exkurs) ein Bürgerversicherungsmodell und vor allem drei Varianten der Kopfpauschalenfinanzierung. In der Natur einer differenzierten ökonomischen und sozialethischen Beurteilung liegt es, dass sie kein eindeutiges Ergebnis produziert, sondern dass das jeweilige Urteil von der Gewichtung der zu Grunde gelegten Beurteilungskriterien abhängt. So kann man mehr Wert auf Effizienz als auf Fairness, mehr Wert auf Fairness als auf Nachhaltigkeit oder vor allem Wert auf Nachhaltigkeit legen. Die Entscheidung für das eine oder andere Finanzierungsmodell resultiert also nicht objektiv aus Fakten einerseits und Kriterien andererseits, sondern immer auch aus evaluativen Vorüberlegungen. Allein das bestehende Finanzierungsmodell und die Trennung in PKV und GKV scheint in jeder – ökonomischen und sozialethischen – Hinsicht sämtlichen gegenwärtig diskutierten Finanzierungsalternativen unterlegen zu sein. Prinz konstatiert diese Unterlegenheit auch für die Bürgerversicherung gegenüber der Finanzierung über Kopfpauschalen, wobei er auch innerhalb des Spektrums der Kopfpauschalenmodelle zu erheblichen Unterschieden in der Bewertung kommt: Nicht jede Variante einer Kopfpauschale ist von vornherein die bessere Finanzierungsalternative. Prinz schließt mit einer nüchternen Feststellung, die die Intention des ganzen Bandes repräsentiert: Es ist letzten Endes nicht möglich, die richtige Position zu Fragen der Gesundheitsversorgung und ihrer Finanzierung zu definieren. Es ist nur möglich, rational und informiert über unterschiedliche Lösungen zu streiten, womöglich argumentativ die eine oder andere Position plausibel zu machen. In dieser Hinsicht kann auch der vorliegende Band nicht mehr leisten, als unterschiedliche, im besten Fall gut begründete Standpunkte zu einer Sozialethik der Gesundheitsversorgung zusammenzuführen. Am 26. Februar 2006 verstarb Walter Kerber SJ in seinem 80. Lebensjahr. Er lehrte über zwanzig Jahre an der Hochschule für Philosophie in München und leitete von 1976 bis 1986 das Institut für Gesellschaftspolitik. Seine letzten Jahre waren von schwerer Krankheit geprägt. Seine Kolleginnen und Kollegen werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Mit dem Dank für ihre Verdienste um die katholische Sozialethik verbinden sich die Glück- und Segenswünsche für Rudolf Henning zum 85. Geburtstag, Wilhelm Korff zum 80. Geburtstag, Heinrich Hamm SAC zum 75. Geburtstag, Heinrich Pompey zum 70. Geburtstag, Alois Baumgartner zum 65. Geburtstag sowie Isidor Baumgartner, Alberto Bondolfi und Ferdinand Reisinger zum 60. Geburtstag. Ich danke dem Aschendorff-Verlag für die Zusammenarbeit und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung des Jahrbuchs. Schließlich gilt mein Dank dem Redaktionsteam: Christian Spieß, Eva Schröer und Teresa Kues. Münster, 26. April 2006 Karl GabrielZusammenfassung Jahrbuch 2006
Mit der Auseinandersetzung um die Gesundheitspolitik hat sich in den letzten Jahren auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung um deren ethische Implikationen verschärft. Dabei geht es um Fragen der sozialstaatlichen Organisation, der Finanzierung, des Umfangs und der Ausgestaltung des Gesundheitssystems sowie um Probleme der Rationierung und Allokation knapper gesundheitsrelevanter Güter. Der 47. Band des Jahrbuchs für Christliche Sozialwissenschaften befasst sich mit dem Thema Gesundheit aus philosophischer, theologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive, enthält Beiträge zur sozialphilosophischen Grundlegung einer öffentlichen Gesundheitsversorgung, diskutiert Aspekte der Rationierung und Begrenzung dieser öffentlichen Gesundheitsversorgung und die Rolle der Ärzte zwischen medizinischem und ökonomischem Anspruch und thematisiert schließlich die Frage der Finanzierung des Gesundheitssystems. Indem ganz unterschiedliche Perspektiven und Auffassungen zusammengeführt werden, bietet der Band einen weiten Überblick über den derzeitigen Stand der gesundheitsethischen Diskussion.
Inhaltsverzeichnis
I. ZUGÄNGE
- DIRK LANZERATH: Krankheit und Gesundheit. Eine philosophische Annäherung an zwei Grundkategorien menschlichen Daseins
- ULRIKE KOSTKA: Krankheit und Heilung. Zum theologischen Verständnis von Gesundheit und Krankheit und zur therapeutischen Kompetenz der Theologie
- RAINER MÜLLER: Kostenexplosion und demographischer Kollaps. Empirische und systematische sozialwissenschaftliche Präzisierungen zu einigen verbreiteten Annahmen