Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 44 (2003): Religionen im öffentlichen Raum: Perspektiven in Europa
Vorwort
Die Säkularisation von 1803, die sich in diesem Jahr zum zweihundertsten Mal jährt, hat der Zurückdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit moderner Gesellschaften in den Raum des Privaten ihren Namen gegeben: Säkularisierung. Zweihundert Jahre später mehren sich die Stimmen, die von einem Paradigmenwechsel hinsichtlich des Konzepts der Säkularisierung und Privatisierung der Religion sprechen. Den letzten Anstoß zu einem expliziten Umbau der Wahrnehmungs- und Denkmuster mit Auswirkungen bis in den 'common sense' der beteiligten Wissenschaften hinein scheinen die Ereignisse des 11. September 2001 gegeben zu haben. Die ausdrückliche Berufung auf göttliche Missionen auf Seiten der sich zum Islam bekennenden Terroristen wie auf Seiten der einzig verbliebenen Weltmacht im Kampf gegen den Terrorismus hat die religiöse Sprache endgültig in das Zentrum weltpolitischer Öffentlichkeit gerückt. Der spektakuläre Riss des Wahrnehmungsschleiers in Sachen Religion hat unvermittelt das Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit auf die vielen erbitterten Konflikte in der Welt gerichtet, in denen die jeweiligen Kombattanten sich auf eine religiöse Semantik berufen. In den Geistes- und Sozialwissenschaften hat ein hektisches, in einer Vielzahl von Publikationen sich niederschlagendes Unterfangen begonnen, die neue Situation in Sachen Religion auf den Begriff und in den Rahmen einer angemessenen Deutung zu bringen. Für Europa im Verhältnis zur übrigen Welt lässt sich eine komplette Umkehr der bisherigen Fragerichtung beobachten. War man bisher gewohnt, den europäischen Weg einer weitgehenden Privatsierung der Religion als die modernisierungstheoretisch zu erwartende Regel und alles andere als die Ausnahme zu betrachten, so geht es jetzt um die Frage, wie die europäische Ausnahme privatisierter Religiosität von der Regel weltweit öffentlich sichtbarer und wirksamer Religion zu erklären sei.
Aktuell rücken damit zwei Fragen in das Zentrum des Interesses, die dringend einer weiteren Sichtung und Klärung bedürfen:
- Wie lässt sich angesichts des augenscheinlichen 'Öffentlich-Werdens' von Religion ein begriffliches und theoretisches Verständnis von öffentlicher Religion gewinnen, das den Phänomenen gerecht wird und Perspektiven für eine normativ wünschbare Rolle der Religion in der modernen Öffentlichkeit entwickelt?
- Wie steht es in Europa tatsächlich um die Sache öffentlicher Religion? Ist die Religion wirklich in so hohem Maße privatisiert, wie es der bisher geltende wissenschaftliche 'common sense' unterstellen zu können glaubte?
In beiden Fragerichtungen sucht der 44. Band des Jahrbuchs für christliche Sozialwissenschaften nach Klärungen und empirisch gehaltvollen Antworten. Was die Konzeptionalisierung öffentlicher Religion angeht, knüpft das Jahrbuch an den US-amerikanischen Religionssoziologen José Casanova an. Casanova beobachtet seit den 1980er Jahren Entwicklungen, die der Religion globale Publizität bescheren und eine Neubewertung ihrer Rolle in der Moderne nötig machen. Casanova greift zur Neubewertung auf die Konzepte von 'öffentlicher Religion' und 'Entprivatisierung der Religion' zurück. Dabei fragt er danach, wie die Religionen ihr Verhältnis zum öffentlichen Raum moderner demokratischer Gesellschaften bestimmen und wie umgekehrt diese Gesellschaften auf die neuen Entprivatisierungstendenzen innerhalb der Religionen reagieren. Insbesondere thematisiert Casanova die politische Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft als möglichen Raum öffentlicher Religionen, die sich weder den traditionellen staatsöffentlichen Ordnungsmustern einfügen noch den klassisch-liberalen Normen einer Privatisierung der Religion beugen, sondern nach neuen Standorten in und neuen Verhältnissen zu modernen, säkularen Gesellschaften suchen.
In einer ersten 'Annäherung' greift der Einführungsbeitrag des vorliegenden Bandes die Konzeptionalisierung Casanovas von Säkularisierung und öffentlicher Religion auf, sucht sie weiterzuentwickeln und fragt nach Trends von Religion im Raum medialer, diskursiver und politischer Öffentlichkeit in Europa. Den materialen Kernteil des Bandes bilden 'Analysen' in Form von 13 Länderberichten zur Lage von Religion und Kirche in einzelnen Staaten und Regionen Europas, wobei das besondere Augenmerk den Phänomenen öffentlicher Religion gilt. Am Beginn stehen zwei Analysen zur Situation in Deutschland: Joachim von Soosten geht Transformationsprozessen der Religion im Kontext der evangelischen Kirche nach, Antonius Liedhegener fragt nach den pluralen Öffentlichkeitsbezügen der katholischen Kirche. Den Reigen der südeuropäischen Länder eröffnet ein Beitrag von Alois Müller über Frankreich, der auf das aktuelle Spannungsfeld von offener Laizität und ihrer neorepublikanischen Kritik hinweist. Es folgt die Analyse von Carlos Collado Seidel über die widersprüchliche und konflikthafte Situation der katholischen Religion in Spanien zwischen fortdauernder Privatisierung und Reevangelisierungsbemühungen der Hierarchie. Der Beitrag von Hermann Punsmann über Italien verweist auf die starke innere Differenzierung und Pluralisierung der katholischen Religion unter dem Dach eines tradierten Religionsmonopols.
Nach der Region Südeuropa folgt ein doppelter Blick auf die besonders vielfältige und durch weit reichende Transformationsprozesse gekennzeichnete religiöse Landschaft in den gemischtkonfessionellen Ländern Niederlande und Schweiz. Hedwig Meyer-Wilmes bringt ihre Beobachtungen auf das Stichwort einer weiteren Dezentralisierung der Religion im Kontext des krassen Wegbrechens konfessioneller Identitäten in den Niederlanden. Edmund Arens sieht mit Blick auf die Schweiz widersprüchliche Tendenzen religiöser Individualisierung und Entprivatisierung der Religion zugleich am Werk. Für die Frage nach den europäischen Entwicklungen in Sachen öffentlicher Religion sind die skandinavischen Länder mit ihren staatskirchlichen Traditionen von besonderem Interesse. Öyvind Foss hebt in seinem Beitrag hervor, dass die Zeit der lutherischen Staatskirchen im Norden Europas sich ihrem Ende zuneigt, die Kirchen in diesem Prozess aber in scheinbar paradoxer Weise bessere Chancen als bisher haben, ihre Anliegen der Diakonie und Ökumene öffentlich zu vertreten.
Mittel-Osteuropa ist in den Länderanalysen dieses Bandes mit einem orthodoxen und drei katholischen Ländern vertreten. Thomas Bremer macht in seinem Beitrag über Russland deutlich, wie stark die Russisch-Orthodoxe Kirche in den letzten Jahren sowohl zum Adressaten hoher Erwartungen von Seiten der Politik als stabilisierender Faktor für die aus den Fugen geratene russische Gesellschaft als auch zum wichtigsten Garanten der kulturellen Identität Russlands geworden ist. Dies verleiht ihr eine Schlüsselstellung in allen Dimensionen von Öffentlichkeit in der russischen Gesellschaft. Auch in Polen bezieht – so Piotr Mazurkiewicz in seinem Beitrag – die katholische Religion einen großen Teil ihrer Stabilität angesichts wachsender Tendenzen zur Privatisierung nach wie vor aus der tradierten und vornehmlich rituell zum Ausdruck gebrachten Identifikation der Religion mit dem patriotischen Erbe der Nation. Der Beitrag von Sreco Dragoš zur Situation der katholischen Religion in Slowenien zeigt, wie stark die kirchliche Hierarchie auf ihren Einfluss in der Staatsöffentlichkeit fixiert bleibt und wie wenig sie bisher eine Rolle als Akteur in der Zivilgesellschaft gefunden hat. Nediljko A. Ancic betont in seinem Beitrag über Kroatien, dass die katholische Religion als konstitutiver Bestandteil des Nationalbewusstseins eine stabile Verankerung in der Kultur des jungen Staates besitzt, sich aber schwer tut, ihren Gläubigen die politische Dimension ihres Glaubens nahe zu bringen. Die Länderberichte schließen mit einer Analyse der Situation öffentlicher Religion in der Türkei. Der Beitrag von Dietrich Jung verdeutlicht, dass die jüngsten Entwicklungen in der Türkei nicht ohne weiteres als Reislamisierung gedeutet werden können, sondern eher eine Abkehr vom religiös intoleranten kemalistischen Säkularismus indizieren. Angemerkt sei, dass bedauerlicher Weise die geplanten Beiträge über den Islam in Deutschland und die öffentliche Religion in Österreich und in England nicht zu Stande gekommen sind.
Als 'Anschlüsse' folgen auf die Länderberichte zwei theoretisch-systematische Beiträge, die das Thema öffentlicher Religion in den entfaltet modernen Gesellschaften mit unterschiedlichen Akzenten wieder aufnehmen und weiterführen. Hermann-Josef Große Kracht entwickelt die anziehende Perspektive einer zivilgesellschaftlichen, komplementären Verhältnisbestimmung von Religionen und Republik, zu der konstitutiv beides gehört: die strikte staatliche Religionsneutralität einerseits wie eine zivilgesellschaftliche Religionsfreundlichkeit andererseits. Christoph Lienkamp erweitert die Zugangsweise zum Phänomen öffentlicher Religion über die religionssoziologische und politisch-ethische Sicht hinaus um Perspektiven philosophischer und systematisch-theologischer Art. Er geht im Anschluss an Jacques Derrida der Frage nach, ob sich hinter der Formel von der 'Wiederkehr der Religion' nicht ein tieferer Epochenbruch verbirgt, der eine neue Beschäftigung mit dem Gegensatzpaar Öffentlichkeit und Geheimnis herausfordert.
An den thematischen Teil des Bandes schließen sich vier Werkstattberichte aus der aktuellen sozialethischen Arbeit an, die deutlich machen, dass die christliche Sozialethik mit den Fragen von Bioethik, der Wissensgesellschaft und der bildungsbezogenen Beteiligungsgerechtigkeit Themen artikuliert, die im Zentrum der gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stehen, ohne dass die Frage nach dem eigenen Profil in praktischen Diskursen ausgeklammert bleibt.
Herzliche Glückwünsche des Jahrbuchteams gehen in diesem Jahr zum 75. Geburtstag an Rudolf Weiler und natürlich an Anton Rauscher nach Mönchengladbach, der sich über viele Jahre um das Fach besonders verdient gemacht hat, zum 70. Geburtstag an Valentin Zsifkovits und an Johannes Müller, und an Manfred Spieker zum 60. Geburtstag. Glück- und Segenswünsche allen Jubilaren!
Ich schließe mit einem aufrichtigen Dank an alle, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben: zunächst der Autorin und den Autoren aus verschiedenen europäischen Ländern, dann in besonderer Weise Christoph Lienkamp, der an der Planung und Konzeption des Bandes großen Anteil hatte, weiterhin Hermann-Josef Große Kracht, dem als verantwortlichem Redakteur dieser Band besonders am Herzen lag, und nicht zuletzt Bernd Mussinghoff, der in diesem Jahr zum letzten Mal in so hervorragender Weise die Texte für die Drucklegung vorbereitet hat. Nach der Arbeit an drei Jahrbüchern verlässt Bernd Mussinghoff in diesem Jahr das Institut. Wir wünschen ihm für seinen weiteren persönlichen und beruflichen Lebensweg Gottes reichen Segen. Für die gute und zuverlässige Zusammenarbeit mit dem Verlag Regensberg geht der Dank an das Verlagshaus. Ein besonderer Dank gilt in diesem Jahr der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die in Würdigung der Qualität des Jahrbuchs den bisherigen Zuschuss zur Drucklegung nicht nur beibehalten hat, sondern das Jahrbuch in einem erweiterten Umfang zu fördern bereit ist. Herzlichen Dank!
Münster, im Februar 2003
Karl Gabriel
Inhaltsverzeichnis
I. Annäherungen
- Karl Gabriel: Säkularisierung und öffentliche Religion. Religionssoziologische Anmerkungen mit Blick auf den europäischen Kontext