Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 40 (1999): Bildung und Bildungspolitik
Vorwort
Das Thema Bildung – Bildungspolitik steht im Zentrum des diesjährigen Jahrbuchbandes. Bildung als Mittel des sozialen Ausgleichs, als notwendige Voraussetzung von Demokratie, als eine der wichtigsten Ressourcen unseres rohstoffarmen Landes , als unverzichtbare Voraussetzung für Beteiligungsgerechtigkeit ist bis jetzt kein ausgewiesenes Thema christlicher Sozialethik. Dabei sollte Bildung als entscheidende Zukunftsinvestition und als Medium gesellschaftlicher Beteiligung gerade auch die christliche Sozialethik zur Reflexion herausfordern. Das Jahrbuch 1999 will sich diesem Desiderat für das eigene Fach stellen und zugleich einen Beitrag leisten für eine möglichst breite gesamtgesellschaftliche Debatte über das "Megathema" Bildung in Deutschland.
Nach der Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Christliche Sozialwissenschaften durch Herrn Prof. Dr. Dr. Karl Gabriel hat dieser als Direktor des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften die herausgeberische Verantwortung für das Jahrbuch übernommen. Mit dem Erscheinen dieses Bandes des Jahrbuchs legt Frau Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins die Schriftleitung für das Jahrbuch, die sie nach ihrem Ausscheiden aus dem ICS noch als Übergangsregelung während der Lehrstuhlvakanz inne hatte, nieder. Der Herausgeber dankt ihr für die langjährige Mitarbeit am Jahrbuch, dessen Profil sie seit 1988 bis zu dem jetzt vorgelegten Band deutlich mitgeprägt hat, sehr herzlich.
Die Beiträge des Jahrbuchs gruppieren sich nach drei thematischen Teilen. Der erste Teil widmet sich grundlegenden Fragen der Bildung und Bildungspolitik aus sozialethischer Perspektive. Arno Anzenbacher eröffnet die Diskussion mit der Reflexion über den Rahmen einer Bildungspolitik, die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft sowohl einer speziellen Bildung für einzelne Teilsysteme der Gesellschaft als auch einer allgemeinen Bildung förderlich sein kann. Ausgehend von der Differenzierung des Bildungsbegriffs schlägt er die Brücke zum modernen Staat, dem gerade die Bestimmung der Rahmenbedingungen zur Sicherstellung der allgemeinen Bildung Schwierigkeiten bereiten. Er zeigt die Probleme auf, vor denen der moderne Staat von seiner politisch-liberalen und damit weltanschaulich neutralen Grundkonzeption her steht, wenn er die Rahmenbedingungen allgemeiner Bildung setzen möchte, die für seine demokratische Grundstruktur unerläßlich sind. Abschließend entwickelt Anzenbacher verschiedene Möglichkeiten, das Anliegen der Vermittlung von allgemeiner und spezieller Bildung bildungspolitisch zu realisieren. Ausgehend von der Tatsache, daß Bildung für die Entwicklung eines Landes von kaum überschätzbarer Wichtigkeit ist, aber auch nicht einseitig unter der Rücksicht auf ökonomische Nützlichkeit und Verwertbarkeit gesehen werden darf, beschreibt Johannes Müller die Rolle und Funktion der Bildung in einem umfassenden Kontext. Er zeigt die strukturelle Verbindung zwischen Bildung und Aspekten der Armut auf, thematisiert die gesamtgesellschaftliche Funktion von Bildung und begründet aus sozialethischer Perspektive das Recht auf Bildung. Abschließend nennt er Leitlinien einer Entwicklungsgerechten Bildungspolitik.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit Subjekten und Institutionen, die in der Verantwortung für Bildung stehen. Der Beitrag von Annette Schavan behandelt die staatliche Schulpolitik, die sich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen im Bereich der Familie, der Lehrerschaft, der Arbeitswelt und schließlich der Öffentlichkeit stellen muß. Die in diesen Bereichen aufgezeigten sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen verweisen zurück auf den Grundauftrag der Schule, gesellschaftliche Teilhabe dauerhaft für alle zu sichern und die Gesellschaft damit zukunftsfähig zu machen. Dazu ist es – so ihre These – notwendig, daß sich die Schule wieder mehr auf die Vermittlung von Grundlagen- und Orientierungswissen sowie von Schlüsselqualifikationen konzentriert und die Suche nach einem neuen grundlegenden Bildungskanon intensiviert wird. Ausgehend von der aktuellen Situation der Universitäten versucht der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Klaus Landfried, notwendige Veränderungen der Hochschule zu beschreiben, die es auf der einen Seite ermöglichen, dem traditionellen Selbstverständnis der Hochschule Rechnung zu tragen, auf der anderen Seite aber auch den Anforderungen des Arbeitsmarktes und dem Ausbildungsziel vieler Studierender gerecht zu werden, von denen sich nur ein geringer Teil für die Wissenschaft als Beruf qualifizieren möchte. Landfried plädiert für eine breitere Differenzierung der Hochschulabschlüsse, die den Anforderungen des Arbeitsmarktes eher entsprechen, ebenso für die Ausbildung von Schlüsselqualifikationen wie Selbständigkeit, Teamfähigkeit, Eigeninitiative und Kreativität an den Universitäten. Als Zielperspektive nennt er die "unvollständige Universität", die sich gerade durch die Kooperation mit anderen Universitäten und im internationalen Dialog auszeichnet und der eine sinnvolle Verbindung von Forschung und Lehre gelingt. Hanni Breuer und Marita Estor reflektieren in ihrem Beitrag die Zukunft der beruflichen Bildung. Ausgehend von den Aussagen des Gemeinsamen Wortes "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" werden die Probleme beruflicher Bildung herausgearbeitet und ethische Perspektiven für deren Weiterentwicklung genannt. Berufliche Bildung soll neben spezifischen Fachkenntnissen vor allem Schlüsselqualifikationen vermitteln, zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen, zu selbständigem, kreativem und flexiblem Arbeiten in wechselnden Teams befähigen und so zu einer dauerhaften Integration in unsere Gesellschaft beitragen.
Der dritte Teil der Beiträge fragt nach Zielen von Bildung in und für die Gesellschaft. Benno Haunhorst beschäftigt sich mit der Diskussion um Religionsunterricht und LER an staatlichen Schulen. Er entschlüsselt den Streit um LER als Symptom unserer gesellschaftlichen Krise und als Paradigma für einen unsensiblen Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Er vermutet hinter der Diskussion um LER die tieferliegende Frage der Relevanz von Religion in unserer Gesellschaft. Die Bedeutung des Religionsunterrichtes geht seiner Meinung nach über die Werteerziehung hinaus. Religionsunterricht kann durch seine Ausrichtung an Jesus Christus Orientierungen eröffnen, die der "Alltagsmoral" entgegenstehen. Er vermag einen neuen Horizont von Lebenssinn und Lebensgestaltung zu eröffnen und ist in der Lage, die bestehenden Plausibilitäten zu durchbrechen. Die Aufgabe des Religionsunterrichtes besteht für Haunhorst vor allem in der "Weitergabe einer Herausforderung". In der Diskussion um Schlüsselqualifikationen und Schlüsselprobleme kann der Religionsunterricht den Blick für neue Probleme und weitere Qualifikationen schärfen. Der Zusammenhang zwischen Bildung, Geschlechterstereotypen und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung bildet den Rahmen für den Beitrag von Regina Ammicht Quinn und Verena Wodtke-Werner. Sie reflektieren die Thematik ausgehend von der Tatsache der ungleichen Teilhabe von Frauen an bestimmenden Strukturen in der Gesellschaft trotz formal verwirklichter gleicher Bildungschancen. Anhand eines geschichtlichen Rückblicks zeigen sie die Relativität der heutigen Geschlechterrollen auf. Für die tatsächliche Beseitigung von Geschlechterstereotypen und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ist ihrer Meinung nach die Reformulierung des gesamten Bildungsbegriffs notwendig. Nur so sei das Problem der ideologischen Tiefenstruktur von Denk- und Lebenswelt, sowie deren mangelnde Reflexion im Hinblick auf neue, andere und gerechtere Lebensform aufzubrechen. Die Bedeutung der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung steht im Mittelpunkt des Beitrags von Markus Vogt. Er kennzeichnet eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Bildung als "ethische Wende", die eine konsequente Verknüpfung von Grundlagen-, Orientierungs- und Handlungswissen braucht. Er zeigt inhaltliche Kernpunkte einer ethisch orientierten Pädagogik der Nachhaltigkeit auf und zieht daraus Konsequenzen für den Schulunterricht. Gerfried Hunold und Andreas Greis weisen in ihrem Beitrag die Medienkompetenz, die in sich wieder eine Vielzahl anderer Kompetenzen vereinigt, als Schlüsselkompetenz aus. Medienkompetenz solle – so ihre Forderung – zur Zielkoordinate politischer Bildung werden, da sie zum entscheidenden Aspekt von Identität und Selbstfindung wird und eben dadurch eine immense gesellschaftspolitische Relevanz enthält.
In der Rubrik Berichte stellt Lukas Rölli das neu erarbeitete Selbstverständnis der AKSB vor und leistet damit einen Beitrag zur Standortbestimmung katholisch-sozialer Bildungseinrichtungen innerhalb der politischen und sittlichen Bildung. In einem weiteren Bericht gibt Matthias Sellman Auskunft über das Projekt "Umweltbildung und ihre sozialethische Fundierung", das von 1994-1998 am Katholisch-Sozialen Institut der Erzdiözese Köln in Bad Honnef durchgeführt wurde. An diese dem Rahmenthema zugeordneten Berichte schließt sich der Bericht von Wilfried Lochbühler und Judith Wolf über die achte Tagung des Forum Sozialethik an, die dem Themenkomplex Kirche und Öffentlichkeit gewidmet war. Elisabeth Hasse berichtet abschließend über die Einrichtung der "Franz-Furger-Stiftung" zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Yaundé und der deutschsprachigen Sozialethik. Wie in jedem Jahr schließen die Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik den Band ab; sie seien der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser besonders empfohlen.
Unsere herzlichsten Segenswünsche gelten dem emeritierten Kollegen Theodor Herr zum 70. Geburtstag sowie Peter Inhoffen und Bruno Schlegelberger zum 65. und Hans Halter zum 60. Geburtstag.
Dank gesagt sei allen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben: allen voran den Autorinnen und Autoren, sodann Frau Judith Wolf, die als Redaktionsassistentin am ICS die Betreuung des Bandes zuverlässig besorgt hat, Herrn Andreas Fisch, der die EDV-Bearbeitung der Manuskripte übernommen hat, sowie den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Verlages Regensberg für die verläßliche und stets unkomplizierte Zusammenarbeit.
Münster, im Januar 1999
Karl Gabriel,
Marianne Heimbach-Steins
Inhaltsverzeichnis
I. Grundlegende Fragen
- Arno Anzenbacher: Bildungsbegriff und Bildungspolitik
- Johannes Müller: Recht auf Bildung als Voraussetzung für das Recht auf Entwicklung. Bildungspolitik zwischen globaler und lokaler Kultur