Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Band 38 (1997): Soziale Gerechtigkeit

Vorwort

Der diesjährige Jahrbuchband ist dem Rahmenthema "Soziale Gerechtigkeit" gewidmet, einem der zentralen Anliegen der Christlichen Sozialethik. Zwei Gründe führten dazu, gerade in diesem Jahr die "Soziale Gerechtigkeit" als Thema des Jahrbuches zu wählen. Zum einen feiert der Deutsche Caritasverband 1997 sein hundertjähriges Bestehen. Als einer der großen deutschen Wohlfahrtsverbände hat er den Sozialstaat und damit einen der Garanten der sozialen Gerechtigkeit entscheidend mitgeprägt, ist aber ebenso in seinen Entwicklungen vom Sozialstaat und von der eigenen Rolle im Gemeinwesen geprägt worden. Zum anderen ging in diesem Jahr der Konsultationsprozeß der Katholischen und der Evangelischen Kirche zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland zu Ende. Aufbauend auf einem gemeinsamen Dialogprozeß haben die Kirchen in die Diskussion um die soziale Gerechtigkeit und die Zukunft des Sozialstaats eingegriffen und in ökumenischer Gemeinsamkeit ihr gesellschaftliches Gewicht in der Diskussion geltend gemacht. Diese doppelte Perspektive auf das Thema "Soziale Gerechtigkeit" spiegelt sich auch in der Gliederung der Beiträge des vorliegenden Bandes wider. Der erste Teil widmet sich dem Deutschen Caritasverband. Im zweiten Teil werden besonders brisante Themen der "Sozialstaatsdebatte" aufgegriffen, die sich als eigene Beiträge in der Diskussion zu den Themen des Konsultationsprozesses verstehen und Fragen thematisieren, die auch über das offizielle Ende des Prozesses hinaus der gesamtgesellschaftlichen Diskussion bedürfen.

Die Reihe der Beiträge zum Deutschen Caritasverband eröffnet Ewald Frie, der eine Skizze der Verbandsgeschichte entwirft. Dabei beschreibt der Autor auf der einen Seite, wie der Caritasverband durch seine Ursprünge im Katholischen Milieu und durch die verschiedenen Phasen der eigenen Verbandsgeschichte in seinem Selbstverständnis und Wirken geprägt worden ist. Auf der anderen Seite aber ist er durch die Krisen des Wohlfahrtsstaates herausgefordert worden. In dieser doppelten Verflechtung gewinnt er die Gestalt, in der er sich uns heute präsentiert, nämlich als modernes Dienstleistungsunternehmen mit hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. In dieser Konstitution ist er unverzichtbarer Bestandteil des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaates; wegen der daraus resultierenden Abhängigkeit ringt der Caritasverband aber auch um das eigene kirchliche Profil. Damit arbeitet Frie wichtige Gesichtspunkte heraus, die in den Beiträgen von Norbert Schmeiser und Thomas Broch aufgenommen werden.

Norbert Schmeiser greift die Diskussion um die eigene Orientierung des Caritasverbandes im Hinblick auf das Selbstverständnis des Verbandes als kirchlichem Wohlfahrtsverband auf. Er führt die "Option für die Armen" im Sinne einer vorrangigen und primären Sorge als unverzichtbaren Bestandteil einer christlich-kirchlich motivierten Caritas ein und fordert ihre konsequente Umsetzung in der advokatorischen Vertretung der Caritas für die Randgruppen unserer Gesellschaft. Thomas Broch nimmt die Frage nach der Identität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beim Caritasverband auf, die seit der Kontroverse zwischen Heinrich Pompey und Rolf Zerfaß verstärkt diskutiert wird. Er kritisiert die These, nur sich persönlich mit der Kirche voll identifizierende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter könnten den Caritasverband glaubwürdig verkörpern, und stellt die Bedeutung des Tatzeugnisses in den Vordergrund und plädiert für eine Personalentwicklung, die sich an der Individualität, Personalität und Autonomie der Mitarbeiter ausrichtet und so den Anforderungen des christlichen Menschenbildes in den Organisationsstrukturen und Arbeitszusammenhängen eines modernen Dienstleistungsunternehmens wie dem eigenen christlichen Anspruch gerecht wird. Ergänzt werden die Überlegungen zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Caritasverbandes durch einen Beitrag von Josef Voß, der als ehemaliger Vorsitzender des Diözesancaritasverbandes Münster und der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz aus seiner Erfahrung heraus die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Caritasverbandes darstellt. Mit einem Beitrag zu Heinrich Weber (1888-1946) stellt Manfred Hermanns einen Wissenschaftler exemplarisch vor, der auf dem Gebiet des Zusammenhangs von Caritas und Christlicher Sozialethik Pionierarbeit geleistet hat und dem als zweiten Inhaber des Münsteraner Lehrstuhls für Christliche Sozialwissenschaften (1922-35 und 1945-46) das besondere Interesse des Jahrbuchs gilt.

Der zweite Teil der Beiträge diskutiert ausgewählte Probleme des Sozialstaates. Martin Dabrowski und Judith Wolf eröffnen die Reihe mit einer kurzen Einführung in den Konsultationsprozeß und einer inhaltlichen Auswertung der Stellungnahmen zur Arbeitslosigkeit im Bistum Münster. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit wird als einer der Hauptgründe für die Finanzierungsprobleme des Sozialstaates benannt. Die Autoren zeigen die Vielfalt der zusammenfließenden Lösungsvorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf und diskutieren die sehr weitgehende Forderung nach einem "Recht auf Arbeit" aus sozialethischer und wirtschaftswissenschaftlicher Sicht. Sie weisen das "Recht auf Arbeit" als Zielperspektive aus, auf die hin alle Maßnahmen zur Überwindung der Arbeitslosigkeit zu überprüfen sind. Die Arbeitslosigkeit selbst sei aber nur in der Kombination eines breiten Spektrums von Lösungsvorschlägen zu überwinden. Ausgehend vom Problem der Massenarbeitslosigkeit fordert anschließend Peter Ulrich in seinem Aufsatz eine aktive "Arbeitspolitik" als präventive Sozialpolitik, statt durch Deregulierung und Liberalisierung einer weiteren Spaltung der Gesellschaft Vorschub zu leisten. Aufbauend auf einer Ökonomismuskritik fordert er die Etablierung von neuen Wirtschaftsbürgerrechten, um allen Gliedern eine Partizipation an den gesellschaftlichen Vollzügen auch in Zukunft sichern zu können. Joachim Wiemeyer beschäftigt sich mit der für den Sozialstaat immer neuen Herausforderung einer gerechten Einkommensverteilung, die eine fortlaufende Anpassung an veränderte gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen erfordert. Er erweist den Sozialstaat als unverzichtbaren Bestandteil einer gerechten Gesellschaftsordnung, die sich daran mißt, ob sie für alle, auch die sozial Schwächeren, zustimmungsfähig ist. Darauf aufbauend entwickelt er Reformansätze für eine gerechtere Einkommensverteilung. An die Forderung nach einer gerechten Einkommensverteilung durch den Sozialstaat knüpft Ute Gerhard an und konstatiert die historisch gewachsene Benachteiligung von Frauen durch den Sozialstaat, bedingt durch eine Normalerwerbsbiographie als Zuteilungsgrundlage. Sie denkt dazu alternative Konzepte an und rekurriert schließlich auf die Staatsbürgerschaft als Grundlage politischer, bürgerlicher und auch sozialer Rechte, die die volle Partizipation von Frauen am gesellschaftlichen Leben sichern helfen könnte. André Habisch mahnt in seinem Beitrag, statt einer "Spar-" eine konstruktive "Zukunftsdebatte" über den Sozialstaat zu führen. Er fragt nach sozialen Innovationen, die eine sozialstaatliche Sicherung auch unter veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ermöglichen und verweist auf die Gesellschaft und betriebliche Organisation als Lernorte staatlicher Sozialpolitik. Er fordert neue Solidarpotentiale in Form von Netzwerkbeziehungen zur solidarischen Gestaltung der Gesellschaft, bei gleichzeitiger Unterstützung der gesellschaftlichen Belange durch den Staat in Form einer attraktiven ordnungspolitischen Gestaltung. Franz Furger und Helge Wulsdorf betonen die Notwendigkeit des Sozialstaates als Korrektiv zum unbegrenzten Wirtschaftsliberalismus als Folge der Emanzipation des Menschen. Darauf aufbauend zeigen sie die Dringlichkeit eines ökologischen Korrektivs zur aus der Freiheit des Menschen und seines Wirtschaftens resultierenden Umweltzerstörung als Herausforderung an die Sozialethik auf. Um angesichts dieser Herausforderung Solidarität und Emanzipation in Einklang zu bringen, schlagen sie eine Problemlösung auf einer mittleren und freiwilligen Ebene durch öffentliche Selbstverpflichtungen vor, die sie am Beispiel von Selbstregulierungsmaßnahmen der Verbände im Umweltsektor konkretisieren.

In der Rubrik Berichte greift Eva M. Welskop-Deffaa das Problem einer eigenständigen Alterssicherung für Frauen auf und stellt eine Erklärung des Deutschen Katholischen Frauenbundes und der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands zu eingeständigen Leistungsrenten für Frauen vor. Anschließend legt Hartmut Niehues die Ergebnisse seiner Diplomarbeit vor, in der er sich mit der Entwicklung der Christlichen Sozialwissenschaften am Institut für Christliche Sozialwissenschaften in Münster von 1951-1997 beschäftigte. Er leistet damit einen Beitrag zur historischen Selbstvergewisserung des Faches. Wie in jedem Jahr schließen die Mitteilungen aus der deutschsprachigen Sozialethik den Band ab; sie seien der Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser besonders empfohlen.

Am 28. November 1996 verstarb Prälat Joachim Giers im Alter von 85 Jahren. Von 1963 bis zu seiner Emeritierung war er Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Soziallehre und Allgemeine Religionssoziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Um die Sozialethik hat er sich vor allem durch wichtige Beiträge zur Geschichte der katholischen Sozialbewegung verdient gemacht. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken behalten. Unsere herzlichen Segenswünsche gelten den emeritierten Kollegen Edgar Nawroth zum 85., Franz Martin Schmölz zum 70. sowie den Kollegen Martin Rock zum 65., Norbert Glatzel und Friedhelm Hengsbach zum 60. Geburtstag. Dank gesagt sei allen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben: allen voran den Autorinnen und Autoren, sodann Frau Judith Wolf, die als Redaktionsassistentin am ICS die Betreuung des Bandes zuverlässig besorgt hat, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Regensberg für die verläßliche und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Münster, im Januar 1997

Franz Furger †,
Marianne Heimbach-Steins

Inhaltsverzeichnis

  • Marianne Heimbach-Steins: In memoriam Franz Furger

I. Caritas und soziale Verantwortung im gesellschaftlichen Wandel

  • Ewald Frie: Zwischen Katholizismus und Wohlfahrtsstaat. Skizze einer Verbandsgeschichte der Deutschen Caritas
  • Norbert Schmeiser: Die Option für die Armen als Option der Caritas. Eine sozialethische Reflexion
  • Thomas Broch: Mitarbeit im kirchlichen Dienst
  • Josef Voß: Caritas und Kirche – Caritas der Kirche – Caritasverband
  • Manfred Hermanns: Die Verknüpfung von Sozialethik und Caritaswissenschaft bei Heinrich Weber

"Arbeitslosigkeit" als Thema des Konsultationsprozesses im Bistum Münster

Arbeitspolitik jenseits des neoliberalen Ökonomismus – das Kernstück einer lebensdienlichen Sozialpolitik

Gerechte Einkommensverteilung durch den Sozialstaat

Die soziale Unsicherheit weiblicher Lebenslagen – Perpektiven einer feministischen Sozialpolitikanalyse

Sozialpolitik als Sozialvermögenspolitik. Perspektiven nach dem Ende des Wohlfahrtsstaates

Sozialstaat und Umweltstaat. Verbandliche Selbstverpflichtungen am Beispiel des Umweltschutzes

Alterslohn für Lebensleistung? – Gedanken zur Zukunft eigenständiger Leistungen für Frauen

Christliche Sozialwissenschaften in Münster 1951-1987

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