Der lange Weg zu neuem Wissen
(CiM/sis) Prof. Dr. Stefan Luschnig hat ein Protein entdeckt. Dank dieses Proteins können drei Zellen stabile Verbindungen bilden. Das ist unerlässlich, wenn Zellen Gewebe bilden, etwa Blutgefäße. Woher Stefan Luschnig das weiß? Der Biologe hat mit einem elfköpfigen, internationalen Team fünf Jahre lang daran gearbeitet, dieses Protein in der Fruchtfliege Drosophila zu finden und seine Wirkung zu verstehen. Diese Arbeit der Wissenschaftler ist ein charakteristisches Beispiel für den langwierigen und aufwendigen Prozess von der Idee bis zur verlässlichen Erkenntnis.
Am Anfang war nicht einmal klar, ob es ein solches Protein überhaupt gibt. Denn das Forschungsthema von Stefan Luschnig ist neu. „Wir wissen wenig darüber, wie Zellen diese spezielle Art von Kontakten bilden. Daher suchen wir möglichst unbefangen nach Erkenntnissen“, erklärt der Professor des Exzellenzclusters „Cells in Motion“. Als Grundlagenforscher am Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) erforscht er Mechanismen, die auch im menschlichen Körper eventuell entscheidend dafür sind, wie Gefäßerkrankungen entstehen.
Ein halbes Jahr lang schalteten Doktoranden und Master-Studierende bei tausenden Fruchtfliegen zufällig Gene aus. Dieses Vorgehen war in diesem Fall effizienter als sich ein Gen nach dem anderen vorzunehmen. „Das Zufallsprinzip ist manchmal erstaunlich erfolgreich“, sagt Stefan Luschnig.
Der Biologe analysierte das Tracheensystem der Fruchtfliege Drosophila, das den menschlichen Gefäßen in bestimmter Hinsicht ähnelt. Durch das Ausschalten der Gene entstanden sogenannte Mutanten, die Tracheenröhren nicht mehr normal ausbilden konnten. „Bei solchen fehlerhaften Fliegen haben wir uns angeschaut, welche Gene wir ausgeschaltet haben und welchen Effekt das auf die Entwicklung des Tracheensystems hatte“, erzählt Stefan Luschnig. Im Jahr 2011 hatten Stefan Luschnig und sein Team einen Treffer. Ein Gen enthielt die Bauanleitung für ein Protein, das sich normalerweise an den Stellen ansammelt, an denen drei Zellen aufeinander treffen. Fehlte es, konnten die Fruchtfliegen keine funktionsfähigen Organe bilden. „Die normalerweise dicht verschlossenen Zellkontakte waren durchlässig wie ein Sieb“, sagt Stefan Luschnig. Er nennt dieses Protein den „Drei-Zellen-Verschluss“.
Dieser Fund war spannend, aber hier fing die eigentliche Arbeit erst an. „Wissenschaftler hinterfragen ihre Ergebnisse ständig“, sagt Stefan Luschnig. „Das zählt zu den Grundsätzen der guten wissenschaftlichen Praxis.“ Die Münsteraner schickten ihre mutierten Fruchtfliegen an eine schwedische Forschungsgruppe, mit der sie kooperierten. Die Kollegen sollten sich die Mutanten anschauen, die fehlerhafte Entwicklung ebenso untersuchen, ohne jeglichen Hinweis auf das Ergebnis, ein sogenannter Blindversuch. „Sie kamen zum selben Schluss“, erzählt Stefan Luschnig.
Das war allerdings erst der Startschuss für vier weitere arbeitsreiche Jahre. „Wir hatten uns als Ziel gesetzt zu verstehen, wie die Proteine innerhalb der Zelle zu den Drei-Zellen-Kontakten kommen“, sagt Stefan Luschnig. „Dafür haben wir unterschiedliche mögliche Erklärungen mit Hilfe von Experimenten systematisch getestet.“
„Wir haben unsere Hypothese immer wieder hinterfragt.“
Es folgten rund hundert ausführlich dokumentierte Experimente, mit denen die Forscher das Protein Stück für Stück analysierten. „Wir haben unsere Hypothese immer wieder hinterfragt“, sagt Stefan Luschnig. Einige Versuche waren wenig informativ, andere misslangen, erfolgreiche mussten die Forscher reproduzieren, um die Verlässlichkeit ihrer Ergebnisse sicherzustellen.
Außerdem gab es kleine Etappenziele. Die Forscher veröffentlichten sie in wissenschaftlichen Zeitschriften, präsentierten sie auf Kongressen und diskutierten sie mit Kollegen. „Dank der vielen Anregungen, gerade auch von Kollegen aus anderen Disziplinen, konnten wir unsere Entdeckung hieb- und stichfest belegen“, sagt Stefan Luschnig. Erst als es so weit war, hat der Biologe mit seinen Mitarbeitern alle Erkenntnisse in einem wissenschaftlichen Paper zusammengetragen. Ein halbes Jahr lang hat das Schreiben gedauert. Immer wieder ging es zurück ins Labor, um jede neue alternative Erklärungsmöglichkeit mit Experimenten zu testen.
Stefan Luschnig wollte möglichst fundierte und eindeutige Belege für den Drei-Zellen-Verschluss liefern. Den Weg des Proteins etwa wollte er unbedingt im lebenden Tier nachweisen. „Was in kultivierten Zellen passiert, entspricht nicht immer der Situation in vivo, also in unserem Fall in der lebenden Fliege“, erklärt Stefan Luschnig. „In-Vivo-Experimente sind generell zeitaufwendiger, liefern aber oftmals die überzeugendsten Erkenntnisse.“
Schließlich sollte eine Fachzeitschrift das wissenschaftliche Paper über den Drei-Zellen-Verschluss veröffentlichen. „Wissenschaftliche Zeitschriften haben strenge Auswahlkriterien“, sagt Stefan Luschnig. Mindestens zwei Gutachter beurteilen vor einer Veröffentlichung den Gehalt einer Arbeit. „Wir mussten nach dem ersten Gutachten weitere quantitative Belege liefern und andere Erklärungsmöglichkeiten testen“, sagt Stefan Luschnig. Nach weiteren sechs Monaten waren alle kritischen Fragen beantwortet, die Arbeit der Forscher war bereit für die Veröffentlichung in der Fachzeitschrift „Developmental Cell“. Nach fünf Jahren Forschung hatten die Wissenschaftler ihr Ziel erreicht: Sie hatten die Existenz des „Drei-Zellen-Verschlusses“ nachgewiesen und einen Mechanismus für dessen Bildung vorgeschlagen.
Originalpublikation:
Byri S, Misra T, Syed ZA, Batz T, Shah J, Boril L, Glashauser J, Aegerter-Wilmsen T, Matzat T, Moussian B, Uv A, Luschnig S. The Triple-Repeat Protein Anakonda Controls Epithelial Tricellular Junction Formation in Drosophila. Dev Cell 2015;33: 535-548.