(C4) Geistliche Gerichtsbarkeit religiöser Minderheiten – Integrations- oder Segregationsfaktor
In Großbritannien hat unlängst die Erwägung Furore gemacht, britischen Muslimen staatlicherseits die Möglichkeit einzuräumen, einzelne Streitigkeiten nach den Regeln der islamischen sari'a zu schlichten. Das nahezu einhellig negative Echo auf die Vorschläge, das vereinzelt an Entgeisterung grenzte, belegt, dass der Vorschlag einen Nerv der aktuellen Debatten um die Rolle der Religion im modernen Verfassungsstaat getroffen hat. Im Raum steht der Vorwurf, hier würden Parallelgesellschaften auch noch rechtlich eingehegt, indem der säkulare Staat seinen Rechtserzeugungs- und Rechtsbefolgungsanspruch zugunsten eines theonom fundierten Binnenrechts zurücknimmt.
Dieser so einmütigen Reaktion liegt freilich eine Hypothese über die rechts- wie religionssoziologischen Auswirkungen einer religiösen Gerichtsbarkeit in „weltlichen“ Angelegenheiten zugrunde, die empirisch kaum abgesichert ist. Das Thema bedarf daher der wissenschaftlichen Durchdringung, die im vorliegenden Projekt in rechtshistorischer, rechtssoziologischer sowie rechtsvergleichender Perspektive erfolgen soll. Ausgangspunkt ist die Arbeitshypothese, dass eine eigene geistliche Gerichtsbarkeit religiöser Minderheiten in ihrer Wirkung grundsätzlich ambivalent ist. Ziel wird es daher sein, Faktoren zu benennen, die im Einzelfall den Ausschlag in Richtung Integration oder Segregation geben.
Gegenstand der Untersuchung soll dabei das Recht der sogenannten altorientalischen Kirchen sein, also derjenigen Gemeinschaften, die sich im Zuge der christologischen Streitigkeiten des vierten und fünften Jahrhunderts von der Reichskirche gelöst haben beziehungsweise – wie die ostsyrische oder „nestorianische“ Kirche – von Anfang an getrennt von ihr entstanden sind. Das orientalische Kirchenrecht eignet sich deshalb als Untersuchungsobjekt für die skizzierte Fragestellung, weil die Oberhäupter dieser Kirchen spätestens seit der islamischen Eroberung des Vorderen Orients im siebten Jahrhundert über ihre Mitglieder die Gerichtsbarkeit auch in solchen Fragen ausüben, die nach modernem Verständnis als „weltlich“ gelten, namentlich im Erb- und Familienrecht. In zahlreichen Staaten der Region wie Syrien oder Israel dauert dieser in osmanischer Zeit als millet-System bezeichnete Rechtszustand bis heute fort.
Schwerpunkt der ersten Phase des Projekts wird die rechtshistorische Untersuchung der einschlägigen Quellen sein; sie dient als notwendige Fundierung für die weitere rechtssoziologische beziehungsweise -vergleichende Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse.
In einer zweiten Phase sollen die Ergebnisse dieser Sondierungen in diachroner und rechtsvergleichender Perspektive mit der Rechtsentwicklung der orientalischen Kirchen im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart abgeglichen werden. Hier gilt es herauszuarbeiten, welche Veränderungen der Übergang von der Vormoderne zur Moderne bewirkt beziehungsweise wie er verarbeitet wird.
Am Ende steht die Möglichkeit einer rechtsvergleichenden wie rechtssoziologischen Untersuchung existierender Modelle geistlicher Gerichtsbarkeit in modernen Verfassungsstaaten, die sich von der Betrachtung der orientalischen Kirchen löst und beispielsweise auch die nähere Analyse islamischer und jüdischer (Schieds-)Gerichte zu leisten hätte.