(C14) Gebet als Lebensführung: Zur Dynamik und Transformation von Alltagsreligiosität und sozialem Handeln am Beispiel einer evangelikalen Bewegung
Das Forschungsprojekt beschäftigt sich mit einer vor zehn Jahren in England entstandenen Gebetsbewegung namens ‚24-7 Prayer’. Diese Bewegung war zunächst als loses Netzwerk organisiert, hat sich aber in recht kurzer Zeit zu einer transnationalen Bewegung entwickelt und weist mittlerweile feste lokale Gruppen auf. Inspiriert durch die Herrenhuter Brüdergemeine und keltische Traditionen liegt ihre Betonung auf individuell erlebbarer Spiritualität im Gebet, wodurch Christen sämtlicher Konfessionen in die Bewegung integriert werden können. Die theologische Orientierung der Bewegung kann als (post-)evangelikal charakterisiert werden: Während die Bewegung kirchliche Strukturen und Programme kritisiert und neue, kreative Wege einer ‚modern’ angepassten Lebensführung jenseits denominationeller Zuschreibungen sucht, bleiben evangelikale Grundwerte wie die persönliche Nachfolge von Jesus Christus sowie ein literarisches Verständnis der Bibel erhalten. Von besonderem Interesse dabei sind auch neue Vergemeinschaftungsformen und die Ausrichtung auf soziales Engagement, welche sich um die Praxis des Gebets organisieren. Insbesondere durch die Betonung sozialer Gerechtigkeit vollzieht die Bewegung eine integrative Leistung jenseits der Populärreligion. Es wird dabei weniger auf religiöse Events oder Erlebnisgottesdienste gesetzt, sondern sozialer Wandel soll durch die persönliche Beziehung und die persönliche Verantwortung mobilisiert werden. Das religiöse Subjekt erfährt dadurch eine autoritative Aufwertung, die durch bestimmte Narrative (Wunder) ergänzt wird. Die Praxis des Gebets wird darin zur primären Sozialität der Bewegung wobei das Persönliche zugleich das Politische, das Subjektive zugleich das Öffentliche darstellt, welches zwischen Kontemplation und aktiver Handlung oszilliert. Gebet fungiert zudem als Medium der Verkörperung, Reflexion und Produktion sozialer Ordnung und individueller Frömmigkeit. Die Bewegung steht dabei für ein typisches Beispiel eines erstarkenden ‚linken’ Evangelikalismus sowie für sich verändernde religiöse Organisations- und Vergemeinschaftungsformen in der Gegenwart und die damit einhergehende (Re-)Konstruktion religiöser Identität und Spiritualität, die sich an Prozessen der Globalisierung orientiert.
Ausgehend von diesem Fallbeispiel geht das Projekt der Frage nach der Transformation religiöser Sozial- und Alltagsformen in der Gegenwart nach. In Ergänzung und in Abgrenzung zu aktuellen Debatten zu Prozessen der Säkularisierung bzw. einer post-säkularen Gesellschaft, orientiert sich das Projekt an den konkreten religiösen Sozial- und Handlungsformen der Bewegung, die auf der Grundlage der Praxis des Gebets sinn- und identitätsstiftend den Alltag gestalten (doing religion). Der Begriff der „alltäglichen Lebensführung“, wie ihn bereits Max Weber in Unterscheidung zum Begriff des „Lebensstils“ hervorhob, soll konzeptionell an dem Fallbeispiel des Gebets entwickelt werden und dadurch die semiotischen und ästhetischen Ausdruckformen religiöser Identitätskonstruktionen analysiert werden. Dabei soll gezeigt werden, wie religiöse Akteure auf aktuelle gesellschaftliche Veränderungen, wie Globalisierungsprozesse und soziale Differenzierung, reagieren und wie diese Veränderungen in der alltäglichen Lebensführung identitätsstiftend umgesetzt werden. Dieser Fokus auf die Gestaltung von Alltagsreligiosität erlaubt eine religionswissenschaftliche Microanalyse religiöser Lebenswelten und religiösen Handelns in der Gegenwart, die sich mit theoretischen Konzepten wie der „Wiederkehr des Religiösen“ oder einer „Spiritualisierung der Gesellschaft“ kritisch auseinandersetzen und diese konzeptionell ergänzen kann.