(C1) Distinktion und Integration in der Gründungsurkunde Israels
Ein wesentlicher Grund für religiös motivierte Vorurteile und Konflikte liegt in der Grundfunktion aller Religionen, sich gegen andere Gruppen und Religionen abzugrenzen. Diese distinktive Funktion ist nur Kehrseite ihrer zentralen Grundfunktion, die Integration einer Gemeinschaft nach innen zu leisten. Religiöse Distinktion ist damit unverzichtbar. Allerdings stehen alle Religionen vor der Aufgabe, auch nach außen gerichtete integrative Verfahren zu entwickeln, die das Konfliktpotenzial der oft scharfen und emotional aufgeladenen Grenzziehungen abmildern, damit eine friedliche Koexistenz mit anderen Religionen möglich ist.
Die altisraelitische Religion ist für eine Untersuchung der Korrelation von religiöser Distinktion und Integration besonders geeignet, weil sich Israel nach Wegfall der staatlichen und territorialen Einheit einerseits gezwungen sah, sehr scharfe religiöse Abgrenzungsmechanismen zu entwickeln, um das Überleben der eigenen Gruppe zu sichern, andererseits aber in der Diaspora mit Angehörigen vieler anderer Völker und Religionen auskommen musste. Darum soll die im 5. und 4. Jh. vor Chr. entstandene Gründungsurkunde Israels, der Pentateuch, mit geeigneten literatur- und theologiegeschichtlichen Methoden auf das Verhältnis von Distinktion und Integration untersucht werden. Dieses Werk zeichnet sich in seinem Aufbau durch ein Gefälle von universalen (Genesis) zu partikularen Traditionen aus (Exodus bis Deuteronomium). Dies wurde bisher häufig einseitig als ein distinktives Konzept verstanden, so als komme die Geschichte des Gottes Jahwe mit der Menschheit erst mit der Erwählung Israels zu ihrem Ziel. Neuere Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass das universalere Buch Genesis erst relativ spät vor die partikularen Bücher gestellt wurde. Dies bedeutet, dass für die Gründungsurkunde Israels bewusst eine universale Einleitung geschaffen wurde, die Israel in die von Gott geschaffene Welt und Völkerfamilie einordnet und die anderen Völker in die eigene religiöse Symbolwelt integriert. Der Pentateuch verbindet somit bewusst ein distinktives und ein integratives Konzept; er will die Identität Israels sichern und zugleich der Gefahr einer Abwertung religiös und kulturell anderes orientierter Gesellschaften wehren. Das Projekt fragt nicht nur nach der Entstehung dieses Konzepts, sondern verfolgt auch seine Wirkungsgeschichte in Judentum und Christentum.