(B10) Autorschaft als Skandal
Das Projekt B10 widmet sich in zwei eng aufeinander bezogenen Forschungsfeldern den politischen und religiösen Dimensionen literarischer Autorschaft und ihrer Interrelation seit 1945. Während der Projektmitarbeiter eine literatursoziologische Perspektive auf das literarische Feld einnimmt, analysiert die Projektleiterin die Wahrnehmung von Autorschaft in der politisch-kulturellen Öffentlichkeit.
Autorschaft als Skandal (Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf)
Das Projekt geht von der These aus, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem dann auf Autorinnen und Autoren richtet, wenn sie zum Gegenstand von Skandalen werden. Es analysiert Autorschaftsskandale seit 1989 und die in ihnen wirksam werdenden politischen und religiösen Dimensionen. 1989 ist ein sinnvoller Epocheneinschnitt für eine Untersuchung von Autorschaftsskandalen im Bereich der Gegenwartsliteratur, insofern als mit der in diesem Jahr über Salman Rushdie verhängten Fatwa erstmals die religiöse Perspektive auf einen Autor in einem politischen Funktionszusammenhang zu weltweiter Aufmerksamkeit führte. Als skandalträchtig erweisen sich in der Gegenwart nach wie vor die Verletzung nationaler Tabus (Walser, Grass), vermeintliche Unaufrichtigkeit (Grass), Uneindeutigkeit (Wolf), Parteinahme für die ‚falsche‘ Seite (Wolf, Handke), Urheberrechtsverletzungen (Google, Hegemann) und die Nichteinhaltung der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit (Wilkomirski, Biller). Das Projekt beschreibt den Skandal als eine Bühne, auf der verborgene religiöse Dimensionen von Autorschaft im politisch-sozialen Kommunikationsraum sichtbar werden. Da Skandale ebenso wie das Autorbild in der Öffentlichkeit von ihrer Inszenierung leben, erhalten die medialen Inszenierungsaspekte des Autorschaftsskandals besondere Aufmerksamkeit.
Autorschaft als Feldstrategie: Literarische Inszenierungen zwischen Religion und Politik von 1945 bis 1990
Von der Kirchen- bzw. Religionskritik eines Heinrich Böll oder Günter Grass bis hin zur Adaption prophetischer Rede durch Christa Wolf in den 1980er-Jahren zeichnet sich die sog. ‚engagierte Literatur‘ durch einen starken Bezug auf religiöse Themen, Motiven und Sprechakte aus. Das Projekt untersucht daher die Funktion religiöser Diskurse für die Inszenierung politischer Autorschaftsmodelle im deutschsprachigen literarischen Feld von 1945 bis 1990.
Die feldtheoretische Analyse des Projekts basiert auf einer von Bourdieu ausgehenden Konzeptualisierung des Autorschaftsbegriffs. Autorschaft wird als ein Medium verstanden, durch das literarische Akteure ihre Positionierung im literarischen Feld legitimieren. Für die Analyse des deutschsprachigen literarischen Feldes nach 1945 stellen sich zudem Fragen gesellschaftlicher Differenzierung und Entdifferenzierung. Symbolisches Kapital akkumulierten Autoren wie Grass und Böll keinesfalls mit autonomieästhetischen Postulaten und Texten. Vielmehr verschoben sie die Grenzen des literarischen Feldes, indem sie sich als politische Autoren inszenierten.
Untersuchungsgegenstand des Projekts sind die religiösen Diskursmuster in literarischen und poetologischen Texten. Zudem wird die Rolle der Literaturkritik und der Literaturpreisvergabe für die Gestaltung politischer Autorschaftsmodelle berücksichtigt. Die Analyse des literarischen Feldes der 1950er- und 60er-Jahre konzentriert sich auf die Kirchen- und Religionskritik in den Texten von Heinrich Böll und Günter Grass, die regelmäßig Skandale hervorrief. In den 1970er- und 80er-Jahren verlor die kritische Auseinandersetzung mit Religion und Kirche im literarischen Feld an Bedeutung. Aber auch nach der studentischen Revolte waren religiöse Motive, Narrative und Figurationen präsent. Sie durchzogen die Suche nach subjektiver Authentizität, die Autorinnen und Autoren in den 1970er-Jahren vermehrt zum Gegenstand ihrer Werke machten. In den 1980er-Jahren war es dann vor allem die Gattung der Apokalypse, die für jene Akteure im literarischen Feld zentral wurde, die die allgegenwärtigen Weltuntergangsängste in ihren Texten aufgriffen. Vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung inszenierten sie sich als Propheten.