Als Juden und Christen die Zehn Gebote veränderten
Bibelforscher J. Cornelis de Vos legt erste vollständige Untersuchung aller antiken Texte zum Dekalog vor – Jüdische und christliche Gruppen verschärften oder erweiterten die Verbote und Gebote, um ihre Gruppenidentität zu stärken – Sexualethische Normen angefügt, aber keines der Zehn Gebote wurde über Jahrhunderte je abgelehnt
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 4. November 2016
Die Zehn Gebote der Bibel waren in ihren ersten Jahrhunderten der Verschriftlichung nach neuesten Forschungen lange nicht so in Stein gemeißelt wie vermutet. „Gruppen von Juden und Christen veränderten sie zuweilen. Die eine Gruppe verschärfte das Tötungsverbot, eine andere erweiterte das Ehebruchverbot um sexualethische Normen, eine dritte fügte ein neues Gebot zum Bau eines Heiligtums hinzu“, erläutert Bibelforscher PD Dr. J. Cornelis de Vos vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Er hat jüngst die erste Untersuchung sämtlicher überlieferter jüdischer und christlicher Texte aus der Frühzeit der Zehn Gebote in der Antike vorgelegt, die sich auf die Normen des Dekalogs beziehen. „Die Menschen bezweifelten zwar nie, dass sich Gott mit den Zehn Geboten direkt an sie gewandt habe. Sie schreckten aber auch nicht davor zurück, den Dekalog umzuformen und eigene Normen daran zu binden. Sie schufen so feste Regeln, die ihre Gruppe nach innen stärken und nach außen abgrenzen konnten. Aber kein Gebot wurde je über die Jahrhunderte ausdrücklich abgelehnt.“
Die Monografie „Rezeption und Wirkung des Dekalogs in jüdischen und christlichen Schriften bis 200 n. Chr.“ ist im Verlag Brill in Leiden und Boston erschienen. Darin zeigt sich eine Bandbreite an Änderungen der Zehn Gebote, darunter vielfache Erweiterungen des Ehebruchverbots um sexualethische Normen. „Zahlreiche antike Schriftsteller – jüdische, christliche und heidnische – waren wie viele Zeitgenossen der Ansicht, die Begierde sei Wurzel allen Übels, und hegten eine gewisse Abneigung gegen Sexualität“, sagt der Forscher. „Die Texte fügten eine Reihe sexueller Praktiken hinzu, die als verwerflich galten und verboten werden sollten: Hurerei, Knabenschänderei, Homosexualität, Abtreibung oder das Töten von Neugeborenen aus Mangel an Verhütungsmitteln.“ Die frühe Kirchenordnung Didache etwa greift um das Jahr 100 nach Christus den Dekalog auf und fügt dem Verbot des Ehebruchs hinzu: „Du sollst nicht Knaben schänden.“ Dies sei eines von vielen Beispielen, wie die Zehn Gebote aktualisiert und den Werten der eigenen Kultur angepasst wurden, so de Vos.
Samariter änderten das Original der Zehn Gebote
Der Autor untersucht in der Grundlagenstudie sämtliche jüdischen und christlichen Quellen von etwa 300 vor Christus bis 200 nach Christus, die auf den Dekalog zurückgreifen. Methodisch analysiert er sie bis in kleinste sprachliche Details wie veränderte Buchstaben, Silben oder umgestellte Textabschnitte, und arbeitet Unterschiede zu den beiden biblischen Dekalog-Fassungen (Exodus/2. Mose 20, 2-17 und Deuteronomium/5. Mose 5, 6-21) heraus. Auch ordnet er die Quellen historisch und sozioreligiös ein. Der Theologe beginnt mit der Analyse der ältesten Übersetzung der Hebräischen Bibel, der Septuaginta, ins Griechische. Er untersucht dann den Samaritanischen Pentateuch, Qumranschriften und die syrische Übersetzung, sowie frühjüdische Schriften, das Neue Testament und frühchristliche Schriften. „Es gab viele Änderungen“, so der Autor, „doch niemand lehnte eines der Zehn Gebote ausdrücklich ab oder ersetzte es. Vielmehr wurde der hohe normative Rang genutzt, um weitere Regeln für ebenso verbindlich zu erklären.“
Die samaritanischen Juden gingen so weit, eine Einfügung direkt am Original vorzunehmen. „Die Samaritaner verdichteten die Zehn Gebote der Tora kurzerhand zu neun, um wahrscheinlich gegen Ende des 2. Jahrhunderts vor Christus ein anderes zehntes Gebot hinzuzufügen“, so der Autor. „Damit legitimierten sie den Bau eines Heiligtums auf dem Berg Garizim in Samaria in Konkurrenz zum jüdischen Tempel in Jerusalem – eine bewusste Abgrenzung von der Mehrheit der Juden.“ Das Gebot, in den Dekalog eingeflochten, erhielt so hohe Verbindlichkeit. „Die Grundnormen einer Gruppe werden mit religiöser Normativität aufgeladen. Das ließ sich auch praktizieren, indem Normen zwar nicht in die Zehn Gebote aufgenommen, aber textlich in ihre Nähe gerückt wurden.“
Bergpredigt verlangt Christen verschärfte Gebote ab
Auch die bekannte Bergpredigt aus dem Neuen Testament war betroffen, wie der Bibelwissenschaftler zeigt: „Der Evangelist Matthäus verlangt Verschärfung mancher Gebote. So sagt Jesus im Evangelium, das 80-90 nach Christus entstand: Nicht erst das Töten sei ein schweres Vergehen, sondern auch bereits der Zorn oder Streit, denn sie könnten zum Totschlag führen. So wird der Streit erstmals ins Tötungsverbot einbezogen“, sagt de Vos. Ähnlich weitet die Bergpredigt nach seinen Worten das Ehebruchverbot aus: Schon wenn ein Mann die Frau eines anderen Mannes begehrt, sei dies Ehebruch im Herzen. „Die Zehn Gebote der jüdischen Tora bleiben damit für Christen gültig, werden aber im Matthäus-Evangelium verschärft.“
Eine weitere Erkenntnis: „Die Zehn Gebote galten universal für alle Menschen – davon waren viele Juden und Christen überzeugt“, so de Vos. Das zeige sich in der Begegnung mit Politik, Philosophie und Ethik des nicht-jüdischen und nicht-christlichen Umfelds. „Um Nichtjuden von der universalen Anschlussfähigkeit des Dekalogs zu überzeugen, wurden jüdische Aspekte heruntergespielt, etwa das Verbot, sich von Gott ein Bild zu machen.“ Die Juden Aristobulus und Philo von Alexandrien zum Beispiel stellten den Dekalog als universale, allerbeste Philosophie dar. „Nach Philo entspricht der Dekalog dem universalen Naturgesetz. Aristobulus leitete gar aus dem Sabbatgebot ab, die Juden seien die besten Philosophen.“
Was sind die Zehn Gebote?
Die Zehn Gebote sind eine Reihe von Geboten und Verboten des Gottes Israels in der Hebräischen Bibel. Dort stehen sie an zwei Stellen in leicht unterschiedlicher Version, zum Beispiel wird im Buch Deuteronomium (5. Mose) etwas ausführlicher als im Buch Exodus (2. Mose) begründet, warum alle den Sabbat als Ruhetag halten sollen. Der Dekalog wird als direkte Rede Gottes an sein Volk, die Israeliten, eingeleitet, und fasst Gottes Willen für das Verhalten ihm und den Mitmenschen gegenüber zusammen. Die Gebote des Dekalogs wurden vermutlich über mehrere Jahrhunderte mündlich überliefert, bis sie ihren Platz in der Tora, den ersten fünf Büchern der Bibel, fanden. – Die Monografie stellt Forschungsergebnisse des Projektes A9 „Der Dekalog als religiöser, ethischer und politischer Basis-Text“ des Exzellenzclusters vor, in dem der Autor bis 2012 mit dem evangelischen Theologen Prof. Dr. Hermut Löhr arbeitete. In der zweiten Förderphase leiten sie das Projekt A2-10 „Der jüdische Nomos zwischen Normativität und Identität am Beispiel Alexandrias im 1.-3. Jh. n.Chr.“. De Vos ist derzeit Vertretungsprofessor für Altes Testament und Antikes Judentum am Institut für Evangelische Theologie der Universität Osnabrück. (ill/vvm)