„Religionspolitik nicht länger vernachlässigen“
Nach Anti-Islam-Äußerungen der AfD: Politikwissenschaftler Ulrich Willems mahnt die übrigen Parteien, religionspolitische Debatten und Entscheidungen nicht länger zu vermeiden – „In der Bevölkerung Verständnis für Religionsvielfalt wecken“ – Öffentliche Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ des Exzellenzclusters bringt Wissenschaft, Politik und Religionen ins Gespräch
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 19. April 2016
Angesichts der Anti-Islam-Äußerungen der AfD sollten sich die herkömmlichen Parteien nach Einschätzung von Politikwissenschaftlern dringend dem „lange vernachlässigten Feld der Religionspolitik“ zuwenden. „Wir haben ein hohes Niveau der Polarisierung erreicht, die Verschärfung war lange vorherzusehen. Jetzt sollten endlich alle Parteien eine offene und sachliche Debatte über die Rolle der christlichen Kirchen, des Islams und anderer religiöser Minderheiten sowie der Konfessionslosen führen“, sagt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. „Wir brauchen auch differenzierte Gespräche darüber, ob sich das Modell einer engen Staat-Kirche-Kooperation noch eignet, um den religiösen Mehr- und Minderheiten gleichermaßen Religionsfreiheit zu gewähren. Bislang sind sich die Gruppen sogar oft innerhalb der herkömmlichen Parteien nicht einig.“
Der Wissenschaftler kündigte eine neue öffentliche Reihe „Religionspolitik heute“ des Exzellenzclusters und des Centrums für Religion und Moderne (CRM) der WWU mit Vorträgen und Podien ab dem 10. Mai in Münster an, die eine differenzierte Debatte über religionspolitische Grundsatzfragen und aktuelle Konflikte und Lösungswege stärken will. „Wir ziehen auch internationale Beispiele heran, da andere Länder in der Religionspolitik weiter sind als Deutschland“, so Prof. Willems. „Die Ringvorlesung bringt gezielt Wissenschaft, Politik, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften ins Gespräch. Der Exzellenzcluster stellt mit seiner Wissenschaftskommunikation seit Jahren seine Expertise in aktuellen Fragen öffentlich zur Verfügung.“
Kopftuch, Schächten, Islamunterricht
„Die deutsche Politik hat die Bevölkerung nicht rechtzeitig auf die Religionsvielfalt vorbereitet und religionspolitische Debatten und Entscheidungen vermieden“, sagt Prof. Willems. „Die Konflikte werden stattdessen den Gerichten überlassen. Dabei besteht erheblicher Problemdruck, wie die Konflikte um Kopftuch, Schächten, Beschneidung, Islamunterricht oder Moscheebau zeigen.“ Der Politikwissenschaftler plädiert dafür, konsensfähige Regeln für die religiösen Praktiken verschiedener Religionsgemeinschaften in demokratischen Verfahren zu entwickeln.
Die Politik sei gut beraten, bundesweit Diskussionsprozesse über allgemeine und konkrete religionspolitische Fragen in Gang zu bringen, wie dies in Kanada gelungen sei, so Willems. „Entscheidend ist es, in welchen Verfahren und Foren sich religionspolitische Debatten und Entscheidungen künftig organisieren lassen.“ Ein Anfang sei die Deutsche Islam Konferenz (DIK) in Berlin. Weitere Foren, auch auf Länder- und Kommunenebene, sollten folgen.
Wollen Muslime Sonderrechte?
„Nur wenn die Bevölkerung ein Verständnis für die Realität der religiösen Vielfalt entwickelt, können Abwägungsprozesse um die Rechte religiöser und nicht-religiöser Mehrheiten und Minderheiten gelingen, etwa hinsichtlich religiöser Bekleidungsvorschriften oder Feiertagen“, so Willems. Andernfalls nehme die christliche und konfessionslose Mehrheit Forderungen der muslimischen Minderheit so wahr, als wolle sie Sonderrechte durchsetzen oder als sei die säkulare Grundordnung in Gefahr. „Umgekehrt meinen Minderheiten, sie würden nicht anerkannt und von Mehrheitstraditionen bestimmt.“
Der Wissenschaftler hat die Ringvorlesung „Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland“ gemeinsam vorbereitet mit dem Religionssoziologen und Sprecher des Exzellenzclusters, Prof. Dr. Detlef Pollack, der Leiterin des Zentrums für Wissenschaftskommunikation, Viola van Melis, und dem Historiker und wissenschaftlichen Mitarbeiter im CRM, Dr. Daniel Gerster.
Renommierte Gäste der Reihe „Religionspolitik heute“
In der öffentlichen Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ sprechen Vertreterinnen und Vertreter der Politik-, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Soziologie, Theologie und Kommunikationswissenschaft in Vorträgen und Kommentaren, darunter renommierte Gäste wie der Zürcher Philosoph Prof. Dr. Hermann Lübbe und der Göttinger Soziologe Prof. Dr. Matthias Koenig. Hermann Lübbe hält am 7. Juni den Vortrag „‚Amerika, du hast es besser!‘ – Religionspolitische Aufklärung im Vergleich“. Matthias Koenig spricht am 14. Juni zur „Regulierung religiöser Diversität in Europa. Trends und Dynamiken“.
Auf den Podien unter dem Titel „Reformdruck in der Religionspolitik?“ positionieren sich am 28. Juni die Parteienvertreter Volker Beck (Die Grünen), Kerstin Griese (SPD), Claudia Haydt (Die Linke) und Thomas Sternberg (CDU) und diskutieren mit Politikwissenschaftler Ulrich Willems. Am 5. Juli sind Positionen aus Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu hören: Es sprechen Avichai Apel vom Vorstand der Orthodoxen Rabbinerkonferenz, Michael Bauer vom Humanistischen Verband Deutschlands, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, und Stephanie Springer, Ratsmitglied der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präsidentin des Landeskirchenamtes der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Sie diskutieren mit der katholischen Theologin und Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins vom Exzellenzcluster.
Die Veranstaltungen finden dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster statt. Den Eröffnungsvortrag hält Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems am 10. Mai 2016 unter dem Titel „Religionspolitik heute. Eine Einführung in aktuelle Problemfelder und Positionen“. Der Start der Ringvorlesung, die am 19. Juli 2016 endet, hat sich aufgrund der neuen Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ im Sommersemester um vier Wochen verschoben. (vvm)