„Mittelalterliche Prophezeiung einer vollendeten Sozialordnung“

Historiker zu Joachim von Fiores Entwurf einer christlichen Weltgesellschaft

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Prof. Dr. Matthias Riedl

Über den Verfassungsentwurf des mittelalterlichen Abtes und Sehers Joachim von Fiore (1130/35-1202) für eine zukünftige christliche Weltgesellschaft hat Historiker Prof. Dr. Matthias Riedl in der Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“ gesprochen. „Das Konzept des italienischen Sehers aus dem späten 12. Jahrhundert, das in Form einer reich kommentierten, symbolischen Zeichnung vorliegt, ist in mehrerlei Hinsicht faszinierend“, sagte der Wissenschaftler von der Central European University in Budapest. Es kombiniere eine höchst komplexe symbolische Struktur mit sehr konkreten und pragmatischen Anweisungen für das Sozialleben. In seinem Vortrag „Die Welt als Kloster. Joachim von Fiore und sein Verfassungsentwurf für die zukünftige Menschheit“ erläuterte der Referent das mittelalterliche Konzept für eine vollendete christliche Sozialordnung, ein kommendes „Geistzeitalter“. Dabei legte er Quellen und Hintergründe des Entwurfs dar und ordnete ihn in den Kontext der hochmittelalterlichen Apokalyptik ein.

„Während die symbolische Struktur des Verfassungsentwurfs das Bild eines kollektiven Messias hervorruft, beschreibt seine pragmatische Struktur eine strikt hierarchische klosterartige Gemeinschaft, in der sich der Rang eines Menschen nach seinem Anteil am spirituellen Wissen bemisst“, erläuterte Prof. Riedl. Das künftige Wirtschaftsleben schildere Joachim von Fiore dabei ebenso detailreich wie das Erziehungswesen, die Kleiderordnung oder den Speiseplan. „In vielerlei Hinsicht hat seine Verfassung Ähnlichkeit mit den utopischen Entwürfen der Frühen Neuzeit. Doch es handelt sich nicht um eine Utopie, nicht um ein Idealbild oder Gegenbild, das der sozialen und politischen Wirklichkeit gegenübergestellt wird.“ Joachims Verfassung sei vielmehr „die Prophezeiung einer vollendeten christlichen Sozialordnung, wie sie sich nach Fiore organisch aus der gegenwärtigen kirchlichen Ordnung entwickeln werde – mit anderen Worten, sie schließt die Prinzipien von Fortschritt und Reform ein“.

Mit Joachim von Fiores sogenanntem Konkordanzprinzip erläuterte der Wissenschaftler auch dessen „bahnbrechendste hermeneutische Entdeckung, die ihn zum bedeutendsten Seher seiner Zeit machte“. Heute sei der Abt, der auch als Geschichtstheologe gewirkt habe, jedoch vor allem für seine zweite große Entdeckung, die Drei-Status-Lehre, bekannt. „Diese teilt die christliche Heilsgeschichte in die drei Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ein“, erläuterte der Historiker in seinen mit vielen Illustrationen untermauerten Ausführungen. Abschließend widmete er sich der Frage, inwiefern Joachim von Fiore das Fortschrittsdenken der Moderne beeinflusst hat.

„Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“

Plakat der Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“

Plakat

Die neue Ringvorlesung, die das Habilitandenkolleg des Forschungsverbunds organisiert, widmet sich der Geschichte apokalyptischen und utopischen Denkens von der Antike bis heute und untersucht, wie religiöse und politische Elemente in Zukunftsvisionen verwoben sind. In der Ringvorlesung kommen Vertreter verschiedener Fächer zu Wort: aus der Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft, Philosophie, Theologie, Archäologie, Ägyptologie und Musikwissenschaft.

Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Den nächsten Vortrag am 2. Dezember hält die Philologin Dr. Maren Conrad aus Münster zum Thema „Nach dem Ende – Postapokalyptische Visionen in Literatur, Film und Computerspiel des 21. Jahrhunderts“. Der Vortrag am 25. November von Historikerin Dr. Liliya Berezhnaya zum Thema „Wie man eine Heilige Stadt baut: „Neue Jerusalems“ im osteuropäischen Raum der Frühen Neuzeit“ muss leider ausfallen. (han/vvm)


Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“

Wintersemester 2014/2015
dienstags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaal F2 im Fürstenberghaus
Domplatz 20-22
48143 Münster