Das Drehbuch menschlichen Handelns
Prof. Dr. Ludwig Siep über Normenbegründung in der praktischen Philosophie
Über die Begründung von Normen in der praktischen Philosophie hat Philosoph Prof. Dr. Ludwig Siep in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ gesprochen. Dabei ging es zunächst um die Entstehung von handlungsexternen Normen, wie die staatliche Gesetzgebung oder religiöse Gebote, und von „impliziten“ Normen, die sich aus praktischen Erfahrungen entwickeln. „Menschen sind auf Koordination angewiesen“, so der Wissenschaftler. Sie wollen sich demnach Verhaltensweisen und somit auch Regeln von Gruppen zu eigen machen. Viele Regeln des sozialen Handelns spielen sich ein und werden erst später ausdrücklich normiert. Dennoch stimmte Siep kein Lob des Konformismus an. „Dass Normen die bestehende Ordnung stabilisieren, reicht der Ethik nicht.“ Sein Vortrag über Normenbegründung nahm ein zentrales Thema der vergangenen Jahrzehnte auf, das unter anderem im Völkerrecht und in der Bioethik Fragen aufwirft. Darf ein militärisch überlegenes Land in ein anderes einmarschieren, weil dessen Regierung Terroristen unterstützt oder die eigene Bevölkerung misshandelt? Ab wann gilt eine Stammzelle als schützenswertes Leben?
Krisen und Umbrüche
Der Wissenschaftler erläuterte, warum ausgerechnet traumatische kollektive Erfahrungen den Anstoß für eine gerechtere Welt geben können. Auf der Suche nach objektiv richtigen Handlungsmaßstäben seien Krisen und Umbrüche immer produktiver gewesen als ein traditionalistisches „Das haben wir immer schon so gemacht, und es funktioniert“. Ein moralischer Standpunkt sei nicht auf einen Schlag da. „Aber es gibt eine Schwelle“, zeigte sich der Wissenschaftler überzeugt. So hätten die eklatanten Menschenrechtsverletzungen in den beiden Weltkriegen Forderungen nach einem universellen Menschenrecht derart auf den Plan gerufen und verstärkt, dass dieses heute in den Gesetzen von Verfassungsstaaten fest verankert ist.
Kollektive emotionale Erfahrungen werden nach Sieps Ansicht wohl weiter am „Drehbuch menschlichen Handelns“ schreiben und künftige Normen hervorbringen, die kommenden Generationen ähnlich grundlegend erscheinen. Das lässt nach seinen Worten zwar auf kleine Fortschritte zur Gerechtigkeit hoffen, etwa im Hinblick auf „Fernpflichten in einer globalisierten Welt“. Vor einem Wandel ihrer Wertvorstellungen zum Schlechteren sind Gesellschaften jedoch nicht gefeit: „Eine biotechnisch radikal veränderte Menschheit kann ihre Moral auch wieder verlieren.“
In der nächsten Woche geht es in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters um das Thema „Staat und Religionen“. Der Vortrag von Jurist Prof. Dr. Christian Walter beginnt um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22. Die Ringvorlesung beschäftigt sich in diesem Semester unter dem Titel „Gewohnheit, Gebot, Gesetz“ mit Normen in Geschichte und Gegenwart. (bhe)