Spielregeln stiften Ordnung
Prof. Dr. Gerd Althoff über mittelalterliche Rechtspraxis
Mittelalter-Historiker Prof. Dr. Gerd Althoff empfiehlt seinen Kollegen aus der Rechtsgeschichte, die ganze Bandbreite schriftlicher Quellen in der Forschung zu berücksichtigen, anstatt sich auf gerichtliche Akten zu beschränken. „In dieser Epoche war die Trennung von Politik, Religion und Recht alles andere als trennscharf“, betonte der Wissenschaftler am Dienstag in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der WWU Münster. Die Zuhörer erfuhren in seinem Vortrag mit dem Titel „Rechtsgewohnheiten und politische Spielregeln“, wie die Führungsschicht im Mittelalter – Adlige oder die hohe Geistlichkeit – üblicherweise Recht sprach, nämlich häufig von eigenen politischen Interessen motiviert.
Dass selbst Könige damit nicht immer durchkamen, belegte ein Beispiel aus dem frühen 11. Jahrhundert. So hatte Heinrich II. im Jahr 1009 den Versuch unternommen, in seinem Sinne einen Erbschaftsstreit zu schlichten, in den der sächsische Graf Gunzelin von Kuckenburg verwickelt war. Von den Ursachen des Konflikts und den Argumenten der Streithähne weitgehend unbeeinflusst, erklärte der Herrscher kurzerhand seinen politischen Gegner Gunzelin eines Majestätsverbrechens für schuldig. Wie der zeitgenössische Geschichtsschreiber Thietmar von Merseburg in seiner Chronik schildert, war es nur dem einberufenen geheimen Fürstenkonzil zu verdanken, dass der Beschuldigte mit acht Jahren Haft davonkam. Das war nach den damals üblichen Regeln wohl noch glimpflich.
Muster aus Erfahrung, Praxis und kollektiver Erinnerung
Althoff erläuterte an zwei weiteren Fällen aus der Amtszeit Heinrichs IV. (1050-1106), dass im Mittelalter „politische“ Versammlungen über rechtliche Fragen entschieden. Er könne darüber hinaus etliche andere Beispiele nennen, „im Grunde jeden Konflikt, der ausreichend schriftlich dokumentiert ist“. Sein Vortrag bot den Hörern somit gleichzeitig einen spannenden Einblick in eine aktuelle wissenschaftliche Kontroverse.
Denn während die Rechtshistoriker laut Althoff eher das im Blick haben, was im Gericht verhandelt wurde, untersuchen Historiker alles, was der Etablierung und Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung diente. „Wir sprechen in dem Zusammenhang von ‚Spielregeln‘, also Mustern aus Erfahrung, Praxis und kollektiver Erinnerung“, so der Wissenschaftler. Diese regelten Standardsituationen wie Begegnungen von hierarchisch unterschiedlich gestellten Personen. Auch zur Konsensherstellung, etwa um bewaffnete Konflikte beizulegen, seien solche Spielregeln zur Anwendung gekommen. Für das Mittelalter gelte, dass Recht nicht nur im Gericht verortet sei. „Sonst hätten beispielsweise viele Friedensschlüsse aus der Zeit keinen Rechtscharakter.“
Die Vorlesung war so gut besucht, dass die Zuhörerschaft in den benachbarten großen Hörsaal umziehen musste. In der nächsten Woche steht mit „Häresie“, also der Ketzerei, wieder ein mittelalterliches Thema auf dem Programm der Ringvorlesung „Gewohnheit, Gebot, Gesetz“. Historikerin Dr. des. Sita Steckel spricht am 27. April über kirchliche Normbegründung im Mittelalter. Der öffentliche Vortrag beginnt um 18.15 Uhr im Fürstenberghaus am Domplatz 20-22. Er findet im Hörsaal F2 statt, jedenfalls sofern dessen Sitzplätze ausreichen… (bhe)