Religion in einer Nebenrolle
Prof. Dr. Detlef Pollack beruft sich auf Umfragen und Kennzahlen
Das Wirtschaftswachstum um ein Dreißigfaches erhöht – was für eine herrliche Nachricht in Zeiten der Krise. Leider beziehen sich diese Zahlen auf eine längere Epoche, nämlich auf die zweieinhalb Jahrhunderte nach der Industrialisierung in Europa, die Moderne. Trotzdem handele es sich dabei um einen enormen gesellschaftlichen Fortschritt, wie Prof. Dr. Detlef Pollack in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ betonte. „Denken Sie allein an den Zugang zu sauberem Wasser, medizinischer Versorgung, Bildung oder auch an die Möglichkeiten politischer Partizipation und die Gewährung von Menschen- und Bürgerrechten. Die Situation hat sich in den letzten 300 Jahren stark zum Besseren gewandelt“, erklärte der Münsteraner Soziologe.
Eine widersprüchliche Zeit
Pollack griff die Modernisierungstheorie der 70er Jahre in seinem Vortrag heftig an, riet jedoch gleichzeitig, sie nicht aufzugeben. Er hat mehrere gängige Theorien verglichen und spricht sowohl von der Vielfalt der Moderne als auch von ihrer Einheit. Diese sei geprägt von Widersprüchen: Die Wissenschaft gebe längst keine Wahrheitsgarantien mehr, und eine Demokratie könne keine Loyalität ihrer Bürger erzwingen, obwohl sie existenziell darauf angewiesen ist.
Die Rolle der Kirchen
Dass Religion in der westlichen Welt heutzutage nur noch einen Teilbereich des Lebens ausmacht, liegt für Pollack auf der Hand. Der Soziologe hat sich die Zahlen angesehen, die als Kennzeichen der Moderne gelten: Bruttoinlandsprodukte, die Lebenserwartung, Geburtenraten und den Grad der Alphabetisierung, jeweils für Industriestaaten, Schwellen- und Drittweltländer. Diesen nüchternen Werten stellte er Umfrageergebnisse zum Thema Glauben gegenüber. Demnach beteten noch im Europa der 80er Jahre mehr Menschen zu einem Gott, den sie sich als Person vorstellten, als Ende der 90er Jahre, in denen sich die Befragten mehr und mehr der Idee eines transzendenten, höheren Wesens zuwenden.
Da konnten die Glocken des benachbarten Doms noch so harmonisch durch die sommerlich gekippten Hörsaal-Fenster läuten: Insgesamt, so Pollack, werde es für Menschen zunehmend schwieriger, ihr Leben ausschließlich nach religiösen Sinnmustern auszurichten. Zu breit seien die Erwartungen der Gesellschaft an den Einzelnen, zu unterschiedlich die Rollen, die ein moderner Mensch zu spielen habe. „Die Individuen werden aus den alten gemeinschaftlichen Bindungen herausgelöst.“
Historisch gesehen hätten die Kirchen sich selbst ausgebootet, sagte Pollack. Der alleinige Anspruch des Christentums auf Weltdeutung, eine Kontrolle „bis in die Herzen der Gläubigen hinein“, habe die Säkularisierung als Gegenbewegung erst auf den Plan gerufen. Andere Kulturen hingegen, etwa in China oder Indien, erlaubten ein Nebeneinander verschiedener Traditionen.
"Once Colonial, Now Global"
Der gut besuchten Vorlesung schloss sich eine lebhafte Diskussion an. In der nächsten Woche setzt der Cluster seine Reihe fort mit dem Thema „Modernity in India: Once Colonial, Now Global“. Referent ist Prof. Ph.D. Dipesh Chakrabarty von der University of Chicago. Der Vortrag beginnt wie jeden Dienstag im Semester um 18 Uhr im Hörsaal F2 im Fürstenberghaus. Der Eintritt ist frei, Gäste willkommen. (bhe)