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PRI C6/G3/90 (23) 12. Dezember 1990 Am Anfang stand die WirtschaftComputertechnologie zur Analyse der frühen Schriften Mesopotamiens / Arithmetisches Denken ohne abstrakte Zahlen Abbildung I: Archaische Schrifttafel aus Mesopotamien (ca. 3000 v. Chr.). Die in Proto-Keilschrift verfaßte Tafel gehört zur Gruppe der ältesten Schriftzeugnisse der Erde. Sie enthält Berechnungen der zur Herstellung verschiedener Getreideprodukte, darunter verschiedener Sorten Bier, erforderlichen Ausgangsprodukte. An der Entzifferung der Proto-Keilschrift arbeiten gemeinsam Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und der Freien Universität Berlin. Die abgebildete Tafel stammt aus einer Privatsammlung, die vor zwei Jahren vom Berliner Senat erworben wurde. Sie ist eines der bedeutendsten Dokumente aus der Zeit der Schriftentstehung (siehe auch Abbildung VI). Foto:M.Nissen Pressereferat der Max-Planck-Gesellschaft, Postfach 101 062,8000 München 1, Telefon 089121 081, Telefax 0B91229805, Telex 5/22203 Redaktion: Walter Frese, Michael Globig, Eugen Hintsches (Chef vom Dienst), Horst Meermann ISSN 01 70-4656 Die frühesten Schriften der alten Völker des Vorderen Orients enthielten nicht etwa literarische, religiöse oder historische Texte, sondern fast ausschließlich Informationen zur Wirtschaftsverwaltung. Die Zeichen, die von den "Buchhaltern" in Mesopotamien vor 5 000 Jahren in Tontafeln geritzt wurden, sind für die Untersuchung zur Entwicklung von Denkstrukturen besonders aufschlußreich: Während das moderne Rechnen auf dem Begriff der abstrakten Zahl beruht, mußten sich die mesopotamir»chen Schreiber in der archaischen Periode noch mit Symbolen für Gegenstände und Maße behelfen, denn es gab noch kein vom Gegenstand unabhängiges arithmetisches Denken. Dies haben die Untersuchungen von Dr. Peter Damerow vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Zusammenarbeit mit Dr. Robert K. Englund und Prof. Hans J. Nissen vom Seminar für Vorderasiatische Altertumskunde der Freien Universität Berlin ergeben. *** Vor 5 000 Jahren wurde im südlichen Mesopotamien zum ersten Mal ein kompliziertes Zeichensystem entwickelt, das man als Schrift bezeichnen kann. Es bestand aus über 1 000 verschiedenen Zeichen für Gegenstände, Handlungen oder Beamtentitel. Etwa 60 dieser Zeichen kann man als Vorläufer der späteren Zahlzeichen ansehen. Veränderungen mit dem Ziel, das Zeichensystem zu vereinfachen, führten im Lauf der Zeit dazu, daß nicht mehr die Gegenstände, sondern Lautwerte der Sprache dargestellt wurden. Es entstand die Keilschrift, die etwa 2 500 Jahre lang im gesamten Vorderen Orient verwendet wurde. Aus der Phase der Proto-Keilschrift, wie jene archaische Vorform der Keilschrift genannt wird, sind etwa 5 000 Tontafeln und Tafelfragmente überliefert, die meisten aus der alten mesopotamischen Stadt Uruk. Die Tafeln befinden sich heute zumgrößten Teil in drei Sammlungen öffentlicher Institutionen, nämlich im Vorderasiatischen Museum der Staatlichen Museen zu Berlin, in der Uruk-Sammlung des Deutschen Archäologischen Instituts (Abteilung Bagdad), in der Universität Heidelberg und im Iraq Museum in Bagdad. Einige sind in die Hände privater Sammler geraten. Aus der Versteigerung einer solchen Privatsammlung - der Sammlung Erlenmeyer (Basel) - erwarb der Berliner Senat 70 Tafeln. Ihre besondere Bedeutung für die Entzifferung der Proto-Keilschrift liegt darin, daß sie inhaltlich zusammengehören. Sie sind offenbar zur gleichen Zeit von denselben Schreibern, möglicherweise sogar im selben Raum geschrieben worden und beziehen sich darum auf die gleichen Gegenstände, Personen und Verwaltungsvorgänge.
Geistige LeistungenSeit einigen Jahren arbeiten in Berlin Wissenschaftler der Freien Universität und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung gemeinsam an der Deutung der frühesten Schriftzeugnisse der Menschheit. Dabei werden unterschiedliche Fragestellungen verfolgt. Entzifferung, Bearbeitung und Herausgabe der bei den Grabungen in Uruk gefundenen archaischen Texte gehören zu einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Volkswagen-Stiftung unterstützten Projekt von Prof. Dr. Hans Nissen vom Seminar für Vorderasiatische Altertumskunde der Freien Universität Berlin. Im Forschungsbereich Entwicklung und Sozialisation des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Leitung: Prof. Wolfgang Edelstein) dagegen befaßt man sich vor allem mit den geistigen Leistungen, von denen die archaischen Dokumente zeugen. In seinem Projekt "Kognition und Kultur" untersucht Dr. Peter Damerow die kulturhistorische Entwicklung von Denkstrukturen. Dabei stellt er insbesondere die Frage: Gibt es universelle Denkstrukturen, die in allen Kulturepochen die gleichen waren, oder sind selbst die elementarsten Strukturen unseres Denkens dem kulturellen Wandel unterworfen? Dazu Damerow: "Mein Projekt geht von denkpsychologischen Fragestellungen aus, überprüft aber die am modernen Menschen gewonnenen Antworten der Psychologie an der Geschichte des Denkens. Es bildet daher sozusagen einen Brückenkopf, der Verbindungen zu Fragestellungen anderer Disziplinen knüpft, insbesondere zur Ethnologie, zur Wissenschaftsgeschichte, aber auch zur Archäologie". Als ein herausragendes Beispiel einer Struktur des menschlichen Denkens, die im allgemeinen für universell gehalten wird, sieht der gelernte Mathematiker Damerow den Zahlbegriff an. Ethnologische Forschungen legten jedoch schon lange die Vermutung nahe, daß es selbst in der Gegenwart noch schriftlose Kulturen ohne abstrakte Zahlvorstellung gibt. Dr. Damerow hält aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Dr. Wulf Schiefenhövel von der Forschungsstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft diese Vermutung für berechtigt: "Meine Diskussionen mit Wulf Schiefenhövel, der lange Zeit unter den Eipo in West-Neuguinea gelebt und deren Verhalten studiert hat, haben mich davon überzeugt, daß Zähltechniken in einer steinzeitlichen Kultur mit ganz anderen kognitiven Konstrukten verbunden sein können als mit unserem abstrakten Zahlbegriff."
Einzigartiges MaterialWenn man die Ursprünge unseres Zahlbegriffs kulturhistorisch zurückverfolgen will, so muß man allerdings, wie Dr. Damerow bekräftigt, "sehr weit zurückgreifen" - nämlich 5000 Jahre zurück bis zur Schriftentstehung in Mesopotamien: "Mit den protokeilschriftlichen Verwaltungstexten, die Tausende von quantitativen Eintragungen über Wirtschaftsvorgänge enthalten, ist uns ein einzigartiges Material überliefert, an dem wir die frühesten Formen entwickelter Rechentechniken studieren können." Bei der Auswertung dieser archaischen Quellen spielt das modernste Gerät der Informationstechnologie eine zentrale Rolle: der Computer. Die Grundlage für die Untersuchungen Damerows liefert eine zusammen mit dem Assyriologen Dr. Robert K. Englund und dem Archäologen Prof. Dr. Hans Nissen aufgebaute und von den Wissenschaftlern der Freien Universität und des MaxPlanck-Instituts gemeinsam genutzte Datenbank sämtlicher archaischer Texte aus Mesopotamien. Das interdisziplinäre Projekt habe nun, so Dr. Damerow, ein Stadium erreicht, "in dem es sich lohnt, bei der Analyse der Texte so präzise inhaltliche Fragen wie die nach der verwendeten numerischen Technik zu stellen. Die Ergebnisse waren überraschend. Wir fanden komplexe arithmetische Techniken, wie sie aus keiner schriftlosen Kultur bekannt sind. Alles spricht jedoch dagegen, daß diesen vielfältigen Techniken ein gemeinsamer Zahlbegriff zugrunde lag". Zuvor waren allerdings in mühsamer Kleinarbeit erst die Voraussetzungen für die neuartige Verwendung des Computers zu schaffen. Mehrere Jahre Arbeit sind in die Erfassung der Texte und die Entwicklung neuer Methoden geflossen. So ist beispielsweise die klassische Form der Ersterfassung des Textmaterials das aufwendige Nachzeichnen der Tontafeln mit der Hand. Die Berliner Forscher suchten nach einer effektiveren Methode und ersetzten schließlich die Handzeichnungen vollständig durch Computer-Grafik. Dabei trat allerdings eine Schwierigkeit auf: Die Computergrafik war in ihrer ersten Phase sehr stark am technischen Zeichnen orientiert. So muß eine Linie beispielsweise immer gleichmäßig dick gezogen sein: "Wir brauchten aber umgekehrt Linien, die ungleichmäßig dick sind, damit die Grafik deutlich macht, in welcher Richtung der antike Schreiber den Griffel in die Tafel gedruckt hat" (Damerow).
Vergleich der KopienSolche Probleme sind inzwischen gelöst, und die Forscher sparen viel Zeit und Kosten bei der aufwendigen Arbeit an den Originalen. Die Erfassung erfolgt zunächst nur mit Hilfe von Fotografien der Texte. Die Fotografie wird, mit einem Scanner in Bildpunkte zerlegt, auf dem Bildschirm wiedergegeben. In einem Zeichenprogramm wird dann diese Fotografie mit der "Maus" des Computers auf dem Bildschirm nachgezeichnet - gewissermaßen elektronisch abgepaust. Erst dann beginnt die klassische Arbeit mit der Hand: Die auf Zeichenpapier mit dem Laserdrucker ausgedruckte, vorläufige Kopie wird an der Originaltafel korrigiert. Die mit der Hand verbesserte Zeichnung wird anschließend auf die gleiche Weise wie zuvor die Fotografie mit dem Scanner in Bildpunkte zerlegt. Auf dem Bildschirm werden dann die elektronische Kopie und die mit der Hand korrigierte Kopie elektronisch "übereinandergelegt" und die Korrekturen in die elektronische Kopie übertragen.
Abbildung II: Abbildung eines Computerbildschirms bei der Arbeit an der Kopie einer archalschen Schrifttafel. Die Abbildung zeigt zwei "Fenster": im linken sieht man die Arbeitsfläche mit der digitalisierten Fotografie als zeichenvorlage, im rechten ist simultan die Druckansicht der erzeugten Zeichnung eingeblendet.
Aber das Erstellen verläßlicher Zeichnungen der Texte und deren Speicherung in einer elektronischen Datenbank ist nur der erste Schritt. Hierzu Dr. Damerow: "Nach unseren ersten Erfolgen mit der elektronischen Verarbeitung der aufgrund der Zeichnungen erstellten Textumschriften entschlossen wir uns, auch hier unkonventionelle Wege zu gehen, indem wir Programmiermethoden verwenden, wie sie für die Zwecke der lkünstlichen Intelligenz' entwickelt wurden. Die Sprache INTERLISP, auf einem SiemensGroßrechner der Freien Universität implementiert, ermöglicht es uns, alle Fragen, die wir an die Texte stellen, im Dialog mit dem Rechner sofort zu beantworten. Der Rechner lernt dabei mit jeder neuen Auswertung neue Begriffe hinzu und wird zu einem immer intelligenteren Kooperationspartner."
Abbildung III: Fotografie und mit dem Computer erstellte Kopie einer archaischen Schrifttafel aus der sumerischen Stadt Uruk. Die Tafel enthält Aufzeichnungen über Milchprodukte in einer komplizierten Metrologie, deren Einheiten in verschiedenen "Fächern" der Tafel verzeichnet wurden. Die Schrifttafel gehört zur Uruk-Sammlung des Deutschen Archäologichen Instituts, Abteilung Bagdad, und wird in der Universität Heidelberg aufbewahrt. Foto:M.Nissen Der Charakter der Proto-Keilschrift kommt der Verwendung solcher Methoden sehr entgegen. Es werden noch keine grammatischen Formen dargestellt, sondern die Kombinatorik der Zeichen und die hierarchische Gliederung der Tontafeln symbolisieren noch direkt die registrierten ökonomischen Vorgänge. Am Anfang dieser Ur-Schrift standen also symbolische Darstellungen zur Lösung wirtschaftlicher Probleme. Dr. Damerow: "Deswegen würde ich diese Schrift auch Buchhaltungsschrift nennen. Meiner Ansicht nach dachte damals noch niemand daran, daß man mit solchen Symbolen auch gesprochene Sprache exakt wiedergeben könne. Diese Entwicklung beginnt vermutlich erst einige Jahrhunderte später - sozusagen als Abfallprodukt der Kontrolle ökonomischer Vorgänge." Aus diesem Grund sind einige der 60 "Zahlzeichen" auch die ältesten geschriebenen Zeichen Oberhaupt. Bereits vor der Erfindung der Schrift gab es eine Buchhaltungstechnik mit Hilfe von Tonsymbolen, die man als Zählsteine bezeichnen könnte, über deren genaue Verwendungsweise es bislang allerdings nur Spekulationen gibt. Solche Zählsteine wurden beispielsweise in Tonkugeln eingeschlossen, die mit Siegelabrollungen versehen wurden. Dies ist der vielleicht älteste Versuch, Informationen fälschungssicher zu speichern. Einige solcher Tonkugeln sind auf der Oberfläche mit Markierungen versehen, um die Anzahl der enthaltenen Zählsteine zu protokollieren. Aus diesen Markierungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach die "Zahlzeichen" der Proto-Keilschrift hervorgegangen. Jedenfalls gibt es bereits vor den eigentlichen Schrifttafeln sogenannte "Zahlentafeln", d.h. Tontafeln, die außer Siegelabrollungen nur solche Markierungen tragen.
Abbildung IV: Eine "Urkunde" aus der Zeit vor der Erfindung der Schrift: Zur fälschungssicheren Bewahrung einer Information wurden Zählsteine in eine gesiegelte Tonkugel eingeschlossen. Aus solchen Zählsteinen haben sich später die Zahlzeichen der archaischen Schrift entwickelt. Die Kugel wurde zusammen mit weiteren 23 - wie die meisten der erhaltenen archaischen Schriftzeugnisse - in den Ruinen der sumerischen Stadt Uruk ausgegraben. Foto:M.Nissen Abbildung V: Der Computer als Instrument der Edition und Entzifferung von archeischen Schriftzeugnissen. In Zusammenarbeit zwischen dem Forschungsbereich Entwicklung und Sozialisation des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und dem Seminar für Vorderasiatische Altertumskunde der Freien Universität Berlin wurde eine Datenbank aller archaischen Texte Mesopotamiens aufgebaut und im Rechnerverbund gemeinsam genutzt. Mit Programmiermethoden der künstlichen Intelligenz werden die semiotischen Regeln analysiert, die Rückschluß auf die Verwendungsweise und Bedeutung der Zeichen geben. Darüber hinaus wird inzwischen auch die gesamte Editionsarbeit auf den Rechnern des Verbundsystems durchgeführt. Grafik: Damerow/Englund Die ersten Schrifttafeln weisen dann bereits eine hohe Komplexität auf. Zu etwa 85 Prozent sind es Dokumente einer zentralisierten Wirtschaftsverwaltung. Die restlichen 15 Prozent der Texte sind nach der Bedeutung der Zeichen geordnete Listen von Zeichen und Zeichenkombinationen, wahrscheinlich Schultexte, die von den Schreibern beim Erlernen der Schrift verwendet und zum Teil Hunderte von Jahren immer und immer wieder abgeschrieben wurden. Für die Entzifferung der Proto-Keilschrift haben diese antiken Zeichenlisten daher eine besondere Bedeutung. Die Forscher der Freien Universität erstellten mit ihrer Hilfe beispielsweise eine verläßliche Zeichenliste und klärten den Zusammenhang mit den Zeichen der späteren Keilschrift. Abbildung VI: ErgebniSSe der Entzifferung der Proto-Keilschrift werden am Beispiel der auf dem Titelbild wiedergegebenen Tafel vorgestellt. Die meisten der aus der £rohesten Phase der Schriftentwicklung erhaltenen Dokumente sind Wlrtschaftsaufzeichnungen aus den Tempeln und Palästen der frühen mesopotamischen Städte. Diese aus der Zeit von ca. 3000 Jahre v. Chr. stammende Schrifttafel enthält in Proto-Keilschrift Berechnungen der zur Herstellung verschiedener Getreideprodukte, darunter verschiedener Sorten Bier, notwendigen Ausgangssubstanzen. Die Rechnungen wurden noch mit gegenstandsspezifischen--Zahlzeichen durchgeführt, da es zu dieser Zeit noch --- keine abstrakten Zahlnotierungen gab. Fünf verschiedene Zahlzeichensysteme wurden auf dieser Tafel verwendet, und zwar für zählbare Getreideprodukte ein Bisexagesimalsystem, für Bierkrüge ein Sexagesimalsystem und zur Kennzeichnung der Getreidemengen in den herzustellenden Produkten, für Gerstenschrot und für Malz drei verschiedene Varianten eines Hohlmaßsystems. Grafik: DamerowlEnglund Damit sei allerdings das Problerm der Entzifferung der Texte längst nicht gelöst, denn die Gruppierungen archaischer Zeichen lassen sich nicht einfach wie die Zeichenfolgen einer ent-,@,ikkelten Schrift als Sätze einer gesprochenen Sprache lesen: Man müsse vielmehr, so Dr. Damerow, verstehen, welche Funktion das jeweilige Dokument in den wirtschaftlichen Transaktionen hatte, die in dem Text dargestellt wurden. Dies sei eine schwierige Aufgabe, weil die Tafeln allein hierzu keine hinreichende Auskunft geben.
Spezielle ZahlzeichenEin gutes Beispiel für die Notwendigkeit dieser Strategie beim Entziffern der Wirtschaftstexte liefere die vielleicht wichtigste der vom Berliner Senat erworbenen Tafeln. Sie enthält eine Aufstellung über das erforderliche Getreide für die Herstellung verschiedener Getreideprodukte, darunter mehrerer Sorten "Bier", d.h. eines Getränks aus Gerste, Malz und Wasser. Für die meisten der für die Getreideprodukte verwendeten Zeichen gibt es in der entwickelten Keilschrift kein korrespondierendes Zeichen, weil man in späterer Zeit solche Produkte in den Texten sprachlich umschrieb. Viele der Getreideprodukte sowie die verwendeten Ausgangsprodukte wurden auf der archaischen Tafel Oberhaupt nur dadurch gekennzeichnet, daß man spezielle Zahlzeichen verwendete, aus denen nicht nur die Menge, sondern auch die Art des registrierten Gutes hervorging. Dr. Damerow erläutert: "Wir könnten über die unbekannten Zeichen und die merkwürdigen Zahlnotierungen nur spekulieren, wenn wir nicht vergleichbare Dokumente aus späteren Zeiten identifizieren und mit deren Hilfe ihre Bedeutung aus dem Gesamtzusammenhang bestimmen könnten." Weil die Gegenstände nur durch abstrakte Symbole und nicht sprachlich dargestellt wurden, müsse man sehr viel über den sachlichen Hintergrund wissen, um die Texte verstehen zu können. Hierin lag auch die besondere Schwierigkeit, die Zahlnotierungen zu verstehen. Dazu Dr. Damerow: "Man hat früher einfach versucht, die Zahlwerte der Zeichen zu bestimmen, und damit unsere heutigen Zahlvorstellungen auch für die archaische Kultur Mesopotamiens unterstellt. Tatsächlich änderten sich jedoch die Zahlwerte der Zeichen mit ihrem Verwendungskontext. Eines der häufigsten Zahlzeichen besaß beispielsweise den Wert 10, wenn es für 10 Schafe stand, den Wert 6 bei Maßgefäßen für Getreide, weil das Gefäß eben nur 6 kleineren Maßgefäßen entsprach, und den Wert 18, wenn es eine Feldfläche bezeichnete. Solch ein Bedeutungswechsel legt schon die Vermutung nahe, daß hier gar keine Zahlen, sondern die realen, gezählten Objekte bezeichnet wurden."
Regeln der SchreiberUm die Schwierigkeiten zu vermeiden, die sich aus dieser Andersartigkeit der archaischen Zahlzeichen ergeben, verwendeten die Berliner Forscher eine besondere Methode: Statt sofort nach der Bedeutung der Zeichen zu fragen, bestimmten sie zunächst nur die Regeln, nach denen die Schreiber mit den Zeichen han,tierten. Anhand der Zeichen, die herkömmlich als diejenigen für die Zahlen 600 und 120 angesehen wurden, erläutert Dr. Damerow die Vorteile dieses Forschungsansatzes: "Wir haben beispielsweise die Regel herausgefunden, daß das Zeichen für 120 nie in das Zeichen 600 umgewandelt wird. Man schrieb statt 600 stets fünfmal das Zeichen für 120. Obwohl die Zahlenwerte 120 und 600 richtig bestimmt worden waren, mußte also die naheliegende Deutung, es handele sich um Zeichen für die Zahlen 120 und 600, falsch sein." Mit ihrer Entzifferungsmethode konnten die Berliner Forscher 13 verschiedene Zahlzeichensysteme und viele weitere zahlähnliche Notierungsformen identifizieren. Sie konnten ferner nachweisen, daß die verschiedenen Systeme und Notierungsformen tatsächlich strikt für verschiedene Zwecke verwendet und nicht ineinander umgerechnet wurden. Es wurde also nicht die abstrakte Anzahl bezeichnet, sondern die Menge eines Wirtschaftsguts wurde durch die der Menge entsprechende Wiederholung von spezifischen Zähleinheiten dargestellt. Den wichtigsten Hinweis dafür, daß die Zeichen nicht einfach Zahlen wiedergeben, sieht Dr. Damerow darin, daß ausnahmslos alle Zahlzeichen, die nicht nur für ganz bestimmte Gegenstände verwendet wurden, mehrere numerische Bedeutungen besaßen: "Gerade diese Symbole - die eigentlich nach unserem Verständnis Kandidaten für die Darstellung abstrakter zahlen wären - anderten mit dem Verwendungskontext ihre Zahlwerte." Dies spreche dafür, daß der Umgang mit den Symbolen nicht durch ein arithmetisches Zahlkonzept geregelt wurde, sondern durch die inhaltlichen Assoziationen, welche die antiken Schreiber in dem jeweiligen Fall damit verbanden.
Missing linkEin solches Ergebnis läßt sich nicht, wie Dr. Damerow betont, allein mit philologischen oder mathematischen Methoden erzielen: Erst der kulturvergleichende kognitionspsychologische Ansatz ermöglicht Schlußfolgerungen über die Ideen, die andere Kulturen mit Symbolen wie beispielsweise Zahlzeichen verbinden: "Wir haben - wie ein Entwicklungsbiologe, der eine ausgestorbene Übergangsform zwischen zwei Arten aufspürt - das Imissing link' in der Entwicklung des arithmetischen Denkens zwischen der schriftlosen Zeit und den späteren Kulturen entdeckt." Horst Meermann |