Geschichte der Morgenröte
Das Forschungsvorhaben wird freundlicherweise von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert.
In der schriftlosen Periode der ausgehenden Jungsteinzeit verehrten die Indogermanen eine Göttin der Morgenröte, deren Existenz durch die sprachwissenschaftliche Rekonstruktion ihrer Bezeichnung *H2ausos nachgewiesen ist. *H2ausos "Morgenröte" ist die einzige weibliche Gottheit, die für das indogermanische (idg.) Pantheon sicher rekonstruiert werden kann. Sie lebt ihrem Namen und teilweise auch ihren Funktionen nach einzelsprachlich in Aurora (Rom), Auos und Eos (Griechenland) und Ushas (vedisches Indien) fort und wird darüber hinaus von zahlreichen weiteren Gestalten der Religion und des Mythos fortgesetzt.
Die interdisziplinär ausgerichtete Untersuchung bietet erstmals eine Gesamtdarstellung der indogermanischen Göttin, ihrer Wesenszüge, ihrer Beziehungen zu anderen Gottheiten und ihrer Bedeutung für die indogermanische Gesellschaft, soweit sich ihr Bild durch die Methode der Kulturellen Rekonstruktion, insbesondere durch den Sprachvergleich erschliesst. Untersucht wird, welche Figuren einzelner indogermanischer Kulturen die *H2ausos "Morgenröte" fortsetzen und welche Metamorphosen sie dabei durchliefen.
Im Zentrum steht eine auf sprachvergleichender Rekonstruktion beruhende Sammlung aller indogermanischen Lexeme und Wurzeln, die über Wesen und Eigenschaften der Göttin Auskunft geben, in kritischer Würdigung aus der Sekundärliteratur zusammengestellt und der Textüberlieferung indogermanischer Einzelsprachen entnommen. Sie erfasst Göttinnen, die den Namen direkt fortsetzen sowie jene, die in der bisherigen Forschung als Weiterentwicklungen der *H2ausos – teils unter Verselbständigung ehemaliger Beinamen (u.a. Venus, Aphrodite, Helena, St. Brigit) – verstanden wurden, und diskutiert die Zugehörigkeit weiterer Gestalten. Im Vergleich von Mythen, der unmittelbar aus der Dokumentation relevanter Textpassagen schöpft, werden auch Eigenschaften sichtbar, die in enger Beziehung zu rekonstruierbarem Wortgut stehen, selbst aber nicht durch etymologische Entsprechungen als indogermanisch abgesichert sind. Die angewandte Methode Kultureller Rekonstruktion bündelt indogermanistische Sprachanalyse mit philologischer Texterschliessung und interkulturellem Mythenvergleich, um einen Einblick in die religiöse und mythische Vorstellungswelt der Zeit um 3000 v. Chr. zu gewinnen.